Oktober 31, 2024

Auf Messers Schneide

Lukas Hermsmeier

Über den Wahlkampf im Bundesstaat Pennsylvania berichtet Lukas Hermsmeier

Tim Walz springt aus seinem Tourbus und reißt die Hände in die Luft. Vor ihm mehr als zweitausend jubelnde Menschen, die stundenlang herumstehen mussten, ehe dieser Moment kommt. Während der 60-Jährige mit schnellen Schritten Richtung Bühne läuft, dröhnt aus den Boxen «Small Town» von John Mellencamp, die nicht-reaktionäre Hymne fürs nicht-urbane Amerika. Als der Applaus langsam abnimmt, die Musik herunterfährt und alle sich ein bisschen beruhigt haben, sagt Walz: «Das ist das Coolste, was ich je gemacht habe.» Man glaubt es ihm irgendwie.

Wahlkampf in den USA ist eine lange, teure, manchmal unterhaltsame, meistens quälende Show. Und zur Show gehört an diesem Mittwochnachmittag Anfang Oktober, dass es im Expo Center von York im südlichen Pennsylvania nach Stroh riecht. Links und rechts von Tim Walz liegen gepresste Ballen, auch ein Fahrzeug-Anhänger neben der Bühne ist voll davon. Drei gigantische USA-Flaggen hängen an der Hallenwand. Dazwischen zwei Schilder mit der Aufschrift «Freedom for Pennsylvania». Eine Americana-Kulisse, die man eher mit der Republikanischen Partei verbindet, und genau dieser Eindruck ist gewollt. Der Demokrat Walz, amtierender Gouverneur von Minnesota und Running Mate der Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, ist auf Wahlkampftour, um vor allem unentschlossene und konservative Wähler*innen anzusprechen.

Walz setzt zunächst auf seine größte Stärke, die Bodenständigkeit. Er bezieht sich auf die TV-Debatte, die er am Vorabend mit dem republikanischen Vizekandidaten J.D. Vance geführt hat. «Nicht schlecht für einen Football-Coach, oder?», fragt Walz mit einem Grinsen. Vor seiner politischen Laufbahn war er Lehrer und Trainer an einer High School. Dann dauert es nicht lang, bis der neue Liebling des liberalen Amerikas beim Erzfeind des liberalen Amerikas landet: Donald Trump wolle Obamacare abschaffen und die Steuern für Reiche weiter senken, warnt Walz. Was seine eigene Partei will, erwähnt er auch, allerdings eher zwischendurch und nur in gröbsten Zügen: den Häuserbau ankurbeln, Preisabsprachen großer Konzerne verbieten, Kindergeld erweitern. Moderate Reformen, die primär die Mittelschicht ein wenig entlasten würden. Visionär ist das alles nicht.

Das Hauptanliegen seiner dreißigminütigen Rede scheint ein anderes. Walz will demonstrieren, dass seine Partei die wahre patriotische Kraft im Land ist. Er lobt deshalb Mike Pence, den ehemaligen Vizepräsidenten und fundamentalistischen Christen, weil er Trumps Lüge der gestohlenen Wahl 2020 nicht mittrage. Walz würdigt auch Ronald Reagan, den 40. US-Präsidenten und neoliberalen Hardliner, da dieser in den 80er Jahren den Kommunismus gezähmt habe. «Wir brauchen die Republikanische Partei zurück», ruft Walz. Er meint die Partei vor Trump. Wer sein Land wirklich liebt, das ist die unausgesprochene Botschaft dieser Veranstaltung, dem bleibe angesichts des MAGA-Kultes nichts anderes übrig, als die Demokraten zu wählen.

Der Kampf um die «Battleground States»

In den USA leben rund 330 Millionen Menschen, davon sind etwa 250 Millionen im wahlberechtigten Alter, von denen zuletzt aber nur 161 Millionen für Wahlen registriert waren: kein gutes Zeichen für eine Demokratie. Weil in fast allen Bundesstaaten das «Winner takes it all»-Prinzip herrscht, bei dem der Sieger eines Bundesstaates alle Wahlleute desselben erhält, landen bei den Präsidentschaftswahlen zig Millionen Stimmen in der Tonne. In Kalifornien beispielsweise gewinnt die Demokratische Partei seit Jahrzehnten deutlich, was alle Stimmen dort für die Republikaner verfallen lässt. In Texas ist es genau andersherum. Im Wahlkampf dreht sich deshalb fast alles immer nur um diejenigen Staaten, die entsprechend ihrer Bevölkerungsgröße Gewicht haben und zugleich offen im Ausgang sind, die sogenannten Battleground States. In diesem Jahr sind es sieben: Nevada, Arizona, Georgia, North Carolina, Michigan, Wisconsin und Pennsylvania.

Die «Battleground States» sind keine statische Kategorie. Florida etwa gehörte lange Zeit dazu und ist nun fest in republikanischer Hand. Auch demografisch oder ökonomisch ist es keine kohärente Gruppe. Während in Arizona ein Drittel der Bevölkerung hispanisch ist, sind es in Michigan nur sechs Prozent. Während das Bruttoinlandsprodukt per Kopf in North Carolina in den vergangenen Jahren gestiegen ist, stagniert es in Wisconsin.

Kein anderer Bundesstaat steht in diesem Wahlkampf so im Fokus wie Pennsylvania, mit 19 Wahlleuten auch der größte «Battleground State». 2016 gewann Trump in Pennsylvania mit weniger als einem Prozent Vorsprung. Sein Erfolg beruhte vor allem darauf, dass er der von Deindustrialisierung geplagten Arbeiterklasse einen Sündenbock präsentierte, nämlich Immigrant*innen und muslimische Menschen. Die demokratische Kandidatin Hillary Clinton wiederum verkörperte mit ihrem Programm und Habitus für viele die liberale, urbane, akademische und abgehobene Elite. 2020 konnte Joe Biden Pennsylvania für die Demokraten zurückgewinnen, weil in den multiethnischen Großstädten genügend Leute zur Wahl gingen. Sein Vorsprung lag ebenfalls unter einem Prozent.

In aktuellen Umfragen liegt Harris vor Trump. Weil das Rennen weiter eng ist, sind die Spitzenkandidat*innen derzeit fast wöchentlich vor Ort. Die Democrats haben in Pennsylvania über 50 lokale Wahlkampfbüros eingerichtet. Hunderte Freiwillige ziehen von Haustür zu Haustür, um Wähler*innen zu mobilisieren. Bis Anfang Oktober gaben die beiden Parteien allein in diesem Bundesstaat zusammen rund 350 Millionen Dollar für Wahlkampfwerbung aus. Ob im Fernsehen, Radio oder online, die Clips lauen hoch und runter.

Wer in diesen Wochen durch Pennsylvania fährt, bekommt nicht nur Wahlkampfspektakel vorgeführt, sondern auch ein Gespür für die politische Geografie des Landes. Man sieht Rinderweiden, auf denen massive Trump-Banner in die Erde gerammt sind – die ländlichen und überwiegend weißen Regionen der USA gehören den Republikanern. In Großstädten wie Philadelphia, Pittsburgh und Harrisburg hingegen gibt es Nachbarschaften, in denen fast jeder Vorgarten mit Harris-Walz-Schildern ausgestattet ist – je urbaner, desto stärker die Demokraten. Die Vorstädte von Pennsylvania wiederum, und auch das gilt für den Rest des Landes, sind politisch gemischt. Manche blau, andere rot, viele lila, sprich: hart umkämpft.

Optimismus versus Panikmache

Dass das Rennen überhaupt eng ist, liegt vor allem daran, dass Präsident Joe Biden erst spät zur Einsicht kam, dass er mit 81 Jahren zu alt für einen Wahlkampf, geschweige denn eine zweite Amtszeit ist. Im Juli zog er seine Kandidatur nach großem Druck zurück, Harris übernahm, und plötzlich war da ein Schwung, der bis heute auch bei den Wahlkampfveranstaltungen der Demokraten zu spüren ist.

Während die Trump-Kampagne fast nur auf rassistische und nationalistische Panikmache setzt, vor «kriminellen Immigrant*innen» warnt und Biden die Schuld für gestiegene Lebenshaltungskosten gibt, versuchen die Demokraten eine Mischung aus Optimismus und Alarm. Man wolle die «Freude» in die Politik zurückbringen, betonen Harris und Walz immer wieder. Sie sprechen von einem «neuen Weg nach vorne» und einer «Wirtschaft der Möglichkeiten». Fragt man die Leute bei den Wahlkampfkundgebungen, warum sie Harris und Walz wählen, wendet sich das Gespräch allerdings nach ein paar Sekunden doch meist der Gegenseite zu. Die Angst vor Trump und den radikalisierten Republikanern scheint für viele Wähler*innen das stärkste Argument.

«Sie nehmen uns die Abtreibungsrechte weg, und dabei wird es nicht bleiben», sagt Sheila Ford, eine 69-jährige Unternehmensberaterin aus Harrisburg, der Hauptstadt Pennsylvanias. Als Schwarze Frau in Amerika wisse sie, dass Bürgerrechte keine Selbstverständlichkeit seien. Auch Chris Cairy, ein 65-jähriger Hauspfleger, der ein T-Shirt seiner Gewerkschaft SEIU trägt, warnt: «Trump ist ein Egoist und Spalter». Es sei für ihn ein Rätsel, wieso Leute überhaupt «auf Trump reinfallen». Für die 53-jährige Robyn Hodgson, eine trans Frau, die im Rollstuhl sitzt, ist die Wahl von existenzieller Bedeutung. «Wenn Trump gewinnt und Obamacare abschafft, verliere ich meine Gesundheitsversorgung», sagt sie.

Die Führung der Demokratischen Partei setzt darauf, dass Trumps Agenda genügend Leute abschreckt. Bei der Wahlkampfveranstaltung in York verteilt ein junger Wahlkampfhelfer Schilder, auf denen «Republicans for Harris» steht. Viele greifen zu, ohne die Aufschrift überhaupt lesen. Doch es gibt sie wirklich, die Überläufer.

Einer von ihnen ist Ralph Mowen, 78 Jahre alt, ein Mann mit glänzender Glatze und besorgtem Blick. Mowen ist seit 31 Jahren Bürgermeister der Kleinstadt Ephrata, die im Südosten Pennsylvanias liegt. Eine weiße, konservative, ruhige Gemeinde. Sein Leben lang war Mowen Republikaner, doch seit 2016 könne er die Grand Old Party nicht mehr wählen, wie er beim Gespräch im Amtsgebäude von Ephrata erzählt. Trump sei «ein Mann für die Reichen», der «keinen Respekt für die Arbeitenden» habe und zudem eine «Gefahr für die Demokratie» darstelle. Im vergangenen Jahr verließ Mowen offiziell seine alte Partei, ist seither als Unabhängiger registriert. Bei Harris habe er sich zunächst gefragt, ob sie genügend außenpolitische Erfahrung besitze. Ganz überzeugt wirkt Mowen immer noch nicht. Wählen wird er sie aber in jedem Fall. «Ich habe Angst vor November», sagt er. »Ich habe Angst, dass dieser Kotzbrocken wieder gewinnt.»

Kampf um die Unentschlossenen

Laut aktueller Umfrage der New York Times wollen neun Prozent der registrierten Republikaner*innen am 5. November für Harris stimmen. Insgesamt sechs Prozent aller registrierten Wähler*innen geben an, ihre Entscheidung noch nicht getroffen zu haben. Die viel beschworene und oft mythologisierte Masse der «undecided voters» ist also nicht allzu groß, könnte am Ende jedoch die Wahl entscheiden. Laut verschiedener Studien und Expert*innen hat Unentschlossenheit oft mit politischer Uninformiertheit zu tun. Es sind Menschen, die die Nachrichten kaum verfolgen. Gerade in diesem Jahr gibt es allerdings viele Amerikaner*innen, die aus informiertem Frust unentschlossen sind.

Kirsten Rokke beispielsweise, 42 Jahre alt, die bei den Democratic Socialists of America aktiv ist, der größten sozialistischen Organisation des Landes. Rokke hat zum Gespräch in ein Café im Osten von Pittsburgh gebeten, um die Ecke arbeitet sie als Buchhalterin. Sie wirkt nicht glücklich, als sie erzählt, dass sie zwischen Harris und einer linken Kleinpartei schwanke. Ihre Unentschlossenheit begründet sich in erster Linie damit, dass Rokke gegen den israelischen Krieg in Gaza ist, der von der demokratisch geführten US-Regierung ermöglicht wird. «Ich möchte die Demokraten nicht für ihre tödliche Politik belohnen», sagt Rokke.

Auf die Frage, was ihrer Beobachtung nach die größten Sorgen der Menschen in Pittsburgh seien, nennt sie gestiegene Mieten und Lebenskosten, das Gesundheitssystem und den Klimawandel. Keine der beiden großen Parteien biete wirkliche Lösungen für diese Probleme an, so Rokke. In ihrem direkten Umfeld sei jedoch kein anderes Thema so dominant wie der Krieg in Gaza. Man merkt, dass Rokke darüber selbst ein bisschen verwundert ist. Andererseits seien die täglichen Nachrichten und Bilder so aufwühlend, dass vieles einfach in den Hintergrund rücke. Am Ende, glaubt Rokke, werden sich die meisten ihrer Genoss*innen wohl für Harris entscheiden und weiter auf linke Organisierung setzen. Trump verhindern, das scheint die Maxime zu bleiben.


Foto: Lukas Hermsmeier


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