Juni 24, 2020

Wer wird für die Krise bezahlen?

Francisco Pérez

Protester with a „Cancel Rent“ sign in New York (photo by Shay O’Reilly)

Ohne massiven Widerstand werden Schwarze und Braune, weiße Frauen, Menschen mit Behinderung und queere Menschen für diese Krise bezahlen, indem sie ihre Lebensgrundlage, ihr Zuhause, ihre Bildung, ihre Gesundheitsversorgung und – für Zehntausende bereits jetzt – ihr Leben verlieren. Während größerer Wirtschaftskrisen entscheiden die Regierungen, wen sie mit finanziellen Rettungsbooten ausstatten und wen sie ertrinken lassen. Die Reichen und Großunternehmen können es sich am besten leisten, die Einkommens- und Vermögensverluste durch monatelange Schließung ganzer Wirtschaftssektoren aufzufangen, und sie sind auch diejenigen, die am ehesten von staatlicher Hilfe profitieren. Diese Krisen zeigen, dass die größten Hindernisse für eine menschenwürdige Gesellschaft – mit Vollbeschäftigung und einem starken Sicherheitsnetz – immer politischer Natur sind. Die US-Regierung verfügt über eine Art magischen Geldbaum und könnte jeder*m Einwohner*in wirtschaftliche Sicherheit bieten bieten. Niemand sollte sich Sorgen über ihre/seine nächste Mahlzeit, Zwangsräumungen oder die Finanzierung der Gesundheitsversorgung machen müssen. Der jüngste Ausbruch weit verbreiteter antirassistischer Proteste nach der brutalen Ermordung von George Floyd durch die Polizei von Minneapolis am 25. Mai ist eine dramatische Erinnerung an die Kraft des kollektiven Kampfes. In Verbindung mit der wachsenden Zahl von Arbeits und Mietstreiks ist diese Wiederbelebung der Black Freedom Movement ein vielversprechendes Zeichen dafür, dass ein radikalerer sozialer Wandel in den USA möglich ist.

Am 27. März verabschiedete der US-Kongress den 2,2 Billionen Dollar schweren CARES Act, der wie frühere „Stimulus“-Gesetze unfair und unangemessen ist. Es verschenkt zu viel Geld an die Wohlhabenden und die großen Unternehmen, die sie besitzen, darunter 46 Milliarden Dollar für bestimmte Branchen wie die Fluggesellschaften, und bietet den Arbeitnehmer*innen, den kleinen Unternehmen und den staatlichen/lokalen Regierungen nicht genügend Unterstützung. Die Rechten nutzten die Notlage, um ihre Agenda voranzubringen, und schenkten den Reichen und den Großunternehmen weitere 174 Milliarden Dollar an Steuersenkungen, die nichts mit Covid-19 zu tun haben. Die Federal Reserve pumpt erneut Billionen in die Finanzmärkte , und das CARES-Gesetz sieht 454 Milliarden Dollar vor, die sie als Hebel einsetzen kann, um weitere Billionen unter wenig Aufsicht an Dienstleistungsunternehmen und Industrie zu verleihen. Im Gegensatz dazu erhielten Arbeitnehmer*innen einen einmaligen Scheck über 1.200 US-Dollar, der in vielen Städten nicht einmal die Monatsmiete deckt . Größere Unternehmen haben die für Kleinunternehmen bestimmten Mittel in Anspruch genommen Mittel in Anspruch genommen. Schwarze Kleinunternehmer*innen können nicht wie weiße Unternehmer*innen Gelder von Freund*innen und Familie aufbringen, sie sind daher stärker von Bankkrediten abhängig, erhalten diese aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit. Das „Paycheck Protection Program“ stützt sich auf unser rassistisches Bankensystem, das die schwarzen und Latinx-Kleinunternehmen und -Hausbesitzer*innen entweder vernachlässigt oder ausgenutzt hat. Schließlich reichen die Gelder für die Bundesstaaten nicht aus, so dass sie mit beispiellosen Haushaltsdefiziten konfrontiertsind. Die meisten Ausgaben der Bundesstaaten und Kommunalverwaltungen sind für das Bildungswesen bestimmt, so dass Ausgabenkürzungen die Entlassung von Lehrpersonen und die Schließung von Schulen bedeuten werden.

Obwohl der am 15. Mai von den Demokrat*innen im Repräsentantenhaus verabschiedete HEROES Act in Höhe von 3 Billionen Dollar viele wichtige Dinge in Ordnung bringt, stellt er immer noch nicht genug Geld für Familien bereit und verspricht keine unbefristeten Erleichterungen. Der Gesetzentwurf verbessert das CARES-Gesetz in wesentlichen Punkten: Er sieht 1 Billion Dollar für die Regierungen der Bundesstaaten und Kommunen vor, 200 Milliarden Dollar an Gefahrenzulagen für essentielle Arbeitskräfte, 100 Milliarden Dollar, für Mieter*innen mit niedrigem Einkommen um Zwangsräumungen zu vermeiden, 75 Milliarden Dollar für Covid-19-Tracing und -Tests, 25 Milliarden Dollar für den angeschlagenen Postdienst sowie die Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung, den Erlass von Studentenkrediten und das Verbot von Zwangsräumungen. Familien würden auch einen weiteren Scheck erhalten, der zwischen 1.200 und 6.000 Dollar pro Haushalt liegt. 

Der Congressional Progressive Caucus hätte jedoch wissen müssen, dass Republikaner*innen und konservative Demokrat*innen weitere Hilfspakete blockieren oder verzögern würden. Deshalb wären sogenannte automatic triggers im ursprünglichen CARES Act nötig gewesen, die zusätzliche Hilfsgelder auf Grundlage von veränderter Gesundheits- und Wirtschaftslage vorsehen. Im Gegensatz dazu schickt z.B. die kanadische Regierung den Familien vier Monate lang monatlich 1.400 Dollar , während die deutsche Regierung durch ihr langjähriges Setzen auf Kurzarbeit während der Pandemie Arbeitsplätze geschützt hat. Schon jetzt behaupten Republikaner*innen und konservative demokratische Gesetzgeber*innen – mehrere stimmten gegen das HEROES-Gesetz, dass die Bundesregierung es sich nicht leisten könne, mehr zu tun. Sie wollen die Menschen zur Rückkehr in die Arbeitswelt zwingen und beklagen, dass die Arbeitslosenunterstützung zu großzügig ist und von der Arbeit abhaltenwürde. Eine jetzige Kürzung der Bundesausgaben würde diese Krise von einer kurzen, brutalen Depression in eine Krise verwandeln, die sich über Jahre hinziehen könnte und vor allem schwarze und braune Arbeitnehmer*innen, weiße Frauen, Menschen mit Behinderung und queere Menschen treffen würde. 

Solange diese Pandemie andauert, müssen sozialistische Aktivist*innen Druck auf Unternehmen und Regierungen ausüben, um sicherzustellen, dass alle zukünftigen Hilfspakete Einkommen und Zugang zu Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung garantieren, und dass niemand gezwungen wird, außerhalb ihrer Häuser zu arbeiten, solange das unsicher ist. Im Zuge unseres Wiederaufbaus der Wirtschaft ist die Notwendigkeit eines Green New Deal, einschließlich einer universellen Gesundheitsversorgung und einer Arbeitsplatzgarantie des Bundes, so klar wie nie zuvor. Vollbeschäftigung zu einem fairen Lohn ist seit langem eine Forderung des Black Freedom Movement. So forderte der berühmte March on Washington von 1963Arbeitsplätze und Freiheit, auch wenn das von denen, die das Erbe Martin Luther Kings jobs ereinigenwollen, heruntergespielt wird. Die Inflationsbefürchtungen wegen ausufernder Staatsausgaben sind entweder übertrieben oder unaufrichtig. Die US-Wirtschaft ist weit davon entfernt, ihre volle Kapazität auszulasten. Sowohl die Inflation als auch die Zinssätze für die US-Schulden sind niedrig oder sogar negativ. Es gibt keine Entschuldigung für die Bundesregierung, nicht alles auszugeben, was nötig ist.

Diese tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Krise ist daher auch eine Gelegenheit, über das Flicken des Sicherheitsnetzes hinaus über den Aufbau einer demokratischen Wirtschaftnachzudenken. Einer Wirtschaft, in der wir unsere Arbeitsplätze, unseren Wohnraum, unsere Investitionen und unsere Regierungen besitzen und kontrollieren. Da Millionen von Kleinunternehmen wahrscheinlich scheitern werden, ist dies der Zeitpunkt, die Gründung neuer Arbeiter*innenkooperativen zu finanzieren oder bestehende Unternehmen umzuwandeln, indem Arbeitnehmer*innen das Recht bekommen, ihre Betriebe aufzukaufen Wir müssen unsere Versorgungsketten kürzer machen, mit einer stärker lokal ausgerichteten Produktion von lebenswichtigen Gütern wie Nahrung, Medizin und Energie. Genossenschaftliche Betriebe haben wenig Anreiz, ihre Unternehmen ins Ausland zu verlagern, und könnten im Notfall die Produktion flexibler anpassen. Meine Familie kann seit Jahrzehnten erschwinglich in einer gentrifizierten Nachbarschaft leben, weil ich wie Tausende von New Yorker*innen in einer Wohngenossenschaft mit begrenztem Eigenkapital aufgewachsen bin. Das war das Ergebnis eines langwierigen Kampfes von Hausbesetzer*innen und Wohnungsaktivist*innen , die in den 1960er und 70er Jahren die Stadtverwaltung von New York dazu drängten, ihren Bewohner*innen zwangsvollstreckte und leerstehende Immobilien zu übergeben. Da viele Vermieter*innen heute vor dem Bankrott stehen, ist dies der Zeitpunkt, Wohnungen dauerhaft vom Markt zu nehmen und mehr Treuhandgesellschaften für Gemeinschaftsgrundstücke(Community Land Trusts) zu schaffen. Diese Kooperativen und Land-Trusts könnten finanziert werden, indem ein Bruchteil der Billionen, die an Unternehmen weggehen, an öffentliche Banken und Kreditfonds wie die Seed Commons umgeleitet werden. Experimente wie das Boston Ujima Project zeigen, was möglich ist, wenn People of Color kontrollieren, welche Unternehmen in ihren Gemeinden zu welchen Bedingungen finanziert werden. Schließlich müssen wir unsere Regierungen zurückerobern, indem wir darauf bestehen, dass normalen Bürger*innen die öffentlichen Gelder für unsere Prioritäten zuweisen und weg von unterdrückenden Institutionen wie der Polizei lenken.

Die Pandemie entlarvt die Fäulnis des Racial Capitalism. Selbst nach der längsten wirtschaftlichen Expansion der US-Geschichte und einer rekordverdächtig niedrigen Arbeitslosenquotesind zig Millionen Amerikaner*innen nur ein oder zwei Monatsgehälter davon entfernt in langen Schlangen auf Lebensmittel wartenzu müssen. Floyd, ein 43-jähriger Vater von fünf Kindern, gehörte zu den Millionen, die aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren. Sein mutmaßliches Verbrechen war der Versuch, in einem Supermarkt mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein zu bezahlen, was zeigt, dass antirassistische und wirtschaftliche Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Wir müssen weiter für einen “People’s Bailout” kämpfen und die Grundlagen für eine “ People’s Economyschaffen, in der wir alle atmen können. 

Francisco Pérez (@Platanomics) ist ein Aktivist, Pädagoge und Forscher der Solidarökonomie, der derzeit an der University of Massachusetts in Amherst in Wirtschaftswissenschaften promoviert. Er ist Direktor des Center for Popular Economics, eines gemeinnützigen Kollektivs politischer Ökonom*innen, deren Workshops und Publikationen die Wirtschaft entmystifizieren und Menschen, die für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit kämpfen, nützliche wirtschaftswissenschaftliche Werkzeuge in die Hand geben.


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