Dieser Beitrag ist Teil unserer Artikelreihe „Am Rande des Abgrunds: eine progressive Agenda für die Biden-Ära“.
Das Rezept der Liberalen
Aus Sicht des zeitgenössischen Liberalismus war die Präsidentschaft von Donald Trump eine grobe Abweichung von den demokratischen Grundwerten und Traditionen der Vereinigten Staaten, ein Schandfleck auf der Geschichte der Nation, der gesäubert und entfernt gehört. Dieser Logik folgend, versuchte die von Zentrist*innen geführte Demokratische Partei, Donald Trump zweimal aus dem Amt zu entfernen und damit den Eindruck zu erwecken, es könne ein Zurück zur „Normalität“ in Politik und Gesellschaft der USA geben.
Die große Mehrheit der Kräfte, die die Linke in den USA konstituieren, stimmte diesem Narrativ und der daraus abgeleiteten Priorisierung der Ziele zu. Die Frage ist: Warum? Denn die US-Geschichte zeigt doch ganz deutlich, dass Trumps Präsidentschaft keine Abweichung war, sondern in seiner Amtszeit viele grundlegende politische Entscheidungen und Praktiken fortgesetzt wurden, die seine Vorgänger seit Gründung der USA verfolgt hatten. Wenn es hier also nicht um tiefgreifende programmatische und inhaltliche Differenzen geht, worum geht es dann? Die Antwort ist, dass die meisten Trump-Anhänger*innen ihn nicht aufgrund seiner Ziele unterstützen, sondern wegen der Art und Weise, wie er versucht (hat), diese durchzusetzen.
Schon lange vor Trumps Wahl zum Präsidenten war zu erkennen, dass der Mann eindeutig über eine autoritäre Persönlichkeitsstruktur verfügt. Trump ist ein schamloser Frauen- und Menschenfeind, der sich politisch und ideologisch mit Suprematist*innen, Neokonföderativen und Neonazis verbündet hat. Er gibt mit diesen Verbindungen ganz offen an. Doch was die konkrete Politik betrifft, die seine Regierung in den vergangenen Jahren umsetzte, so gab es da wenig Originelles. Was heraussticht, ist die unkonventionelle Art und Weise, wie das Trump-Regime seine politischen Ziele verfolgte.
Schaut man sich die Agenda des Trump-Regimes an, dann blickt man auf ein Sammelsurium aus neonationalistischen, neoliberalen und ultrakonservativen Positionen und Anliegen, die rechte Wähler*innen- und Lobbygruppen in den USA seit Jahrzehnten mit unterschiedlichem Erfolg vertreten und vorangetrieben hatten (wie etwa die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und der Umzug der US-Botschaft dorthin). Mit Trump fand sich nun ein Fürsprecher der extremen Rechten an der Spitze der Exekutive. In seiner Amtszeit wurden viele ehemals als Minderheiten- und Randpositionen geltende Forderungen wie die der rechtsextremen Tea-Party-Bewegung zum Animus der US-Regierung. Dies ermöglichte Trump, aus einer Position der Stärke heraus zu regieren, was er ohne jegliche Skrupel tat. Dennoch ist auch dies nicht beispielslos in der Geschichte der USA. Ronald Reagan kam 1980 auf ähnliche Weise an die Macht, auch er segelte auf dem Ticket extrem reaktionärer Strömungen und Bewegungen.
Was Trumps Amtszeit auszeichnete und besonders machte, ist der Umstand, dass er die gewaltige Macht des Repressionsapparats der US-Regierung auch nach innen richtete, nämlich gegen seine Gegner*innen in der Demokratischen Partei, die Teil der politischen Elite sind und normalerweise die „loyale Opposition“ bilden, wenn sie gerade nicht an der Macht sind. Das Trump-Regime praktizierte diese Hetze mit einer Inbrunst, wie man sie seit den Tagen von Trumps Idol Andrew Jackson nicht mehr erlebt hatte. Bei Reagan und Nixon war es kein Geheimnis, dass auch sie für ihre demokratischen Opponent*innen nur Verachtung übrighatten. Allerdings hatten sie darauf verzichtet, diese Ansichten voller Dreistigkeit in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen und ihren politischen Gegner*innen direkt zu drohen.
In der Geschichte der USA ist jedoch auch die Unterdrückung innenpolitischer Opposition kein unbekanntes Phänomen, genauso wenig wie die systematische Verfolgung, Diskriminierung und Negierung der Rechte von nichtweißen Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Schwarzen, Latinos und indigenen Gemeinschaften, der radikalen Linken und Transgender-Personen. Was jedoch viele nicht für möglich gehalten hatten, ist, dass eines Tages auch Angehörige der weißen Eliten ins Visier der Rechten geraten würden.
Für weiße liberale Kräfte stellte das Trump-Regime einen kaum vorstellbaren politischen Rückschlag dar. In seinen ersten 100 Amtstagen ließ Trump keinen Zweifel daran, dass er weder die Verfassung für unantastbar hielt noch vorhatte, wieder freiwillig auf seine Machtposition als Präsident zu verzichten. Zweifelsohne liebäugelte er mit dem Aufbau einer Art Diktatur, was er auch nicht verschwieg. Obwohl diese Bedrohung von Tag zu Tag für fast alle immer offenkundiger wurde, entschied sich die Mehrheit der Liberalen lange Zeit für die Strategie der Verdrängung. Ihr heutiges Narrativ von der Abweichung des Trump-Regimes von der demokratischen Norm geht auf diese Bedrohung zurück. Irgendwann schloss sich den zentristischen und Mainstream-Liberalen, die sich diese Erzählung zurechtgelegt hatten, ein Großteil der progressiven und linken Kräfte des Landes an. Ihr gemeinsames Ziel: sich unter dem zunehmend großen, aber nicht tragfähigen Zelt der Demokratischen Partei zu vereinen, um Trump an der Wahlurne zu besiegen.
Dies erinnert an die Volksfrontstrategie aus den 1930er und 1940er Jahren, als die Kommunistischen Parteien Wege suchten, die Ausbreitung des Faschismus in Europa und Asien aufzuhalten. Damals wie heute beruhte diese Strategie auf der Vorstellung, aufgrund der Machtasymmetrie zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie zugunsten der Letzteren müssten sich die Arbeiter*innen mit all jenen bürgerlichen Kräften verbünden, die bereit sind, gegen den Faschismus vorzugehen, und die angebliche Ägide der bürgerlichen Demokratie verteidigen.
Diese Vorgehensweise widerspricht Kernprinzipien und praktischen Ansätzen in der Linken, die in der Selbstorganisierung der Arbeiterklasse das ultimative Mittel ihrer Befreiung sehen. Die Volksfrontstrategie verzichtet auf Klassenkampf zugunsten von Klassenkollaboration und verlegt die Frage des Übergangs hin zu einer sozialistischen Gesellschaft in eine ferne und unbestimmte Zukunft. Zudem überlässt sie die Führung der sozialen Bewegung den bürgerlichen Kräften.
Für viele waren und sind solche Zugeständnisse gerechtfertigt. Sie verweisen auf die organisatorischen und positionellen Schwächen der Linken, insbesondere auf ihre unzureichende Verankerung in der Arbeiterklasse, verglichen mit der bunt zusammengewürfelten Allianz, die die Demokratische Partei darstellt, und ihrer Wähler*innenbasis. Deswegen dominierte in der Linken die Einschätzung, nur mit einem möglichst breiten Bündnis sei die drohende Gefahr eines autoritären Coups und der Etablierung des Faschismus noch abzuwenden. Dies sei das Beste, was im Moment erreicht werden könne, um eine Katastrophe zu verhindern und sich ein gewisses Maß an demokratischem Bewegungsspielraum zu bewahren.
Das zweite Argument, mit dem Linke diesen Ansatz begründeten, lautete: Ein Sieg über Trump und die rechten Strömungen, die ihn an die Macht gebracht hatten, ermögliche die Rückkehr zu einer Situation „politischer Normalität“ und „politischen Anstands“. Das sahen viele außerhalb der Linken ähnlich. Von Anfang an begründeten Biden und sein Wahlkampfteam dessen Legitimität mit seiner einzigartigen Fähigkeit, „die Nation zu heilen“, so etwas wie Überparteilichkeit wiederherzustellen und das Land zurück zur Normalität zu führen. Zugleich versprachen sie, die Glaubwürdigkeit der USA und ihrer Führung bei ihren strategischen Verbündeten überall auf der Welt zurückzugewinnen.
Falsche Versprechungen
Dementsprechend jubelten Liberale und progressive Kräfte in den USA, als am Samstag, den 7. November, Joe Biden zum Sieger der Präsidentschaftswahlen 2020 erklärt wurde. In ihren Augen ist die außerordentliche Wahlbeteiligung, die diesen Sieg ermöglichte, ein Beleg dafür, dass die Biden-Kampagne und das Democratic National Committee mit ihrer Strategie „Alles ist besser als Trump‟ richtig lagen. Das Versprechen von der „Rückkehr zur Normalität‟ schien gefruchtet zu haben. Die Mehrheit der Wähler*innen hatte dafür votiert, Trumps revanchistische Politik mit ihrem White-Supremacy-Wahn und Hang zum Autoritarismus zu stoppen. Sie hatten sich gegen die Fortsetzung seines Regimes und gegen die Kräfte, die es repräsentiert, ausgesprochen.
Insbesondere die Linke hat es jedoch versäumt, kritisch zu hinterfragen, was mit dieser vielbeschworenen „Rückkehr zur Normalität‟ gemeint ist. Dies wird sich in Zukunft rächen. Denn Präsident Bidens „Rückkehr zur Normalität‟ beinhaltet die Wiederbelebung des Zweiparteienkonsenses in den USA, die Wiederaufwertung der NATO und der multilateralen Bretton-Wood-Institutionen zur Steuerung des globalen Finanzsystems, des Welthandels und des internationalen Sicherheitsregimes. Die Biden-Regierung wird zudem dafür sorgen, dass Freihandel und andere neoliberale Ansätze und Dynamiken wieder mehr an Bedeutung gewinnen.
Lange vor seiner Wahl zum Präsidenten weigerte sich Biden, sich hinter eine Reihe von progressiven politischen Forderungen und Projekten zu stellen, darunter eine universelle Krankenversicherung (was angesichts der anhaltenden Pandemie besonders bemerkenswert ist), einen Schuldenerlass für Studierende oder den Green New Deal. Er hielt hartnäckig an dieser Ablehnung fest, auch nachdem eine überwältigende Mehrheit derjenigen, die sich selbst als Anhänger*innen der Demokraten definiert, ihre Zustimmung zu diesen politischen Vorschlägen zum Ausdruck gebracht hatte. Im Sommer 2020, als sich nach dem Mord an George Floyd eine der größten sozialen Bewegungen in der Geschichte der USA formierte, ließ Biden erkennen, dass er eine der Hauptforderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung nicht unterstützen würde, nämlich die, rassistischen Polizeikräften die staatliche Finanzierung zu entziehen (die reformistische Variante) oder das Polizeisystem, wie wir es kennen, ganz abzuschaffen (die revolutionäre Variante).
Stattdessen warteten Biden und sein Wahlkampfteam mit dem Vorschlag auf, mehr Geld für die Polizei bereitzustellen. Seitdem Biden Präsident ist, hat er sich noch weiter von den Forderungen der Black-Lives-Matter-Bewegung entfernt. Inzwischen wird sogar der progressive Flügel der eigenen Partei mit heftigen Vorwürfen angegangen. Man macht deren Vertreter*innen und ihre Forderungen dafür verantwortlich, dass die Demokratischen Partei ihre solide Mehrheit im Repräsentantenhaus und die Kontrolle über den Senat verloren hat.
Trotz des Versprechens einer „Rückkehr zur Normalität‟ wird vieles davon abhängen, wie groß die Macht und der Wille der bis dato loyalen Trump-Anhänger*innen ist, dessen Weg weiterzugehen. So hat die Wahl im November 2020 gezeigt, dass sich Liberale und Progressive bei ihrem Streben nach Normalität mit allerhand schwierigen Fakten und Hindernissen werden auseinandersetzen müssen. Es darf auch nicht vergessen werden: Trump konnte sich mit mehr als 74 Millionen Stimmen eines der besten Wahlergebnisse in der Geschichte der USA sichern.
Hinzu kommt, dass die „blaue Welle‟, die den Sieg von Biden begleiten und den Beginn einer Phase der Normalisierung einläuten sollte, nicht nur ausblieb, sondern es bei der Demokratischen Partei sogar zu Verlusten kam. Sie verloren acht Sitze im Repräsentantenhaus und werden mit insgesamt 222 Abgeordneten nur noch einen knappen Vorsprung von vier Stimmen haben. Dies ist die kleinste Mehrheit für die Demokratische Partei im Repräsentantenhaus seit dem Zweiten Weltkrieg. Den Demokrat*innen im Senat erging es nicht viel besser. Obwohl die demokratischen Kandidat*innen in Georgia am 5. Januar einen historischen Sieg errangen und beide Senatssitze gewannen, was ihnen die knappste mögliche Mehrheit einbrachte, kann die Republikanische Partei weiterhin alle ihnen unliebsamen Gesetze blockieren.
Biden hat verlauten lassen, er werde alles versuchen, um mit der Republikanischen Partei zusammenzuarbeiten, mit dem Ziel der Wiederherstellung von Anstand und Ordnung. Daher wird Vizepräsidentin Kamala Harris wohl nicht ihre maßgebliche Stimme im Senat dafür nutzen, um die Republikaner*innen unter Druck zu setzen – es sei denn, es ist absolut notwendig, um zentrale neoliberale Programmpunkte durchzubekommen. Das bedeutet: Der strategische Führer der Republikanischen Partei, Senator Mitch McConnell aus Kentucky, wird am Ende die Kontrolle über den Senat behalten, auch wenn der Demokrat Chuck Schumer offiziell den Titel des Mehrheitsführers im Senat tragen wird.
All das verweist darauf, dass die Neokonföderierten und Wirtschaftsnationalist*innen (Trump nennt sie „die Patrioten“) in ihren verschiedenen ideologischen und politischen Ausprägungen in der Republikanischen Partei weiterhin Oberwasser behalten und nicht so schnell von der politischen Bühne verschwinden werden. Damit ist die „Rückkehr zur Normalität“, zum alten neoliberalen Zweiparteienkonsens im Sinne von intensivierter Kapitalakkumulation und sozialer Kontrolle, ernsthaft infrage gestellt.
Und dabei handelt es sich nur um die „innenpolitische Front“. Der Aufstieg neofaschistischer und rechtsextremer nationalistischer Kräfte weltweit, die verschiedene Formen der Importsubstitution und nationalistische Wirtschaftsprogramme verfolgen, könnte sich als unüberwindliche Hürde für die geplante Neuauflage neoliberaler Strategien der Kapitalakkumulation im globalen Maßstab entpuppen. Angesichts dieser Dynamik ist zu fragen, ob die Biden-Regierung überhaupt dazu in der Lage sein wird, das geschwächte US-Imperium zurück zur neoliberalen Normalität zu führen und dafür zu sorgen, dass die USA weiterhin die sichere Position des Hegemons der kapitalistischen Weltordnung einnehmen können.
Die Antwort darauf lautet ganz eindeutig „nein“. Es gibt kein solches Zurück. Und wem die Wahlergebnisse 2020/21 nicht Beweis genug dafür waren, dass die rechten Kräfte nicht einfach freiwillig von der Bühne abtreten werden, den hat der „Aufstand‟ vom 6. Januar 2021 eines Besseren belehrt. Es ist davon auszugehen, dass das harte Durchgreifen der gegenwärtigen US-Regierung gegen die für den Sturm des Kapitols verantwortlichen rechtsextremen Kreise in Form von Razzien und Verhaftungen als Bestätigung der dort gängigen Verschwörungstheorien über den „deep state“ (den Staat im Staate, Anm. d. Ü.) wahrgenommen wird. Die politischen Gräben werden noch tiefer werden. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die 67 Prozent der Wählerschaft der Republikanischen Partei, die angaben, sie würden 2024 wieder für Trump stimmen. Das bedeutet, dass Biden bei dem Versuch, „die Nation zu heilen“, womöglich nach rechts blinken oder den Rechten sogar einige ernsthafte Zugeständnisse machen muss, um die pragmatischen Mitglieder der Bewegung von den fanatischen zu trennen.
Die hier skizzierte politische Dynamik stellt eine erhebliche Limitierung für die Biden-Regierung dar, eine viel substanziellere ist jedoch ökonomischer Natur und resultiert aus der Transformation der das kapitalistische Weltsystem bestimmenden Produktionsverhältnisse. Diese begann bereits vor über 50 Jahren, erfuhr aber in den letzten zehn Jahren noch einmal eine außergewöhnliche Beschleunigung. Der Kapitalismus als System befindet sich in einer tiefen Krise, und weder neoliberale noch nationalistische Akkumulationsstrategien können seine Widersprüche auflösen. Da Biden und sein Regime darauf abzielen, den Neoliberalismus wiederzubeleben, will ich mich im Folgenden mit dessen Voraussetzungen und Erfolgsaussichten befassen.
Die von der Biden-Regierung verfolgte neoliberale Strategie der Kapitalakkumulation und der sozialen Kontrolle erfordert die Besetzung bzw. Erschließung neuer Länder und Territorien und den Zugang zu zusätzlichen ausbeutbaren Ressourcen. Hierzu zählen auch neuartige Ressourcen wie DNA und Megadaten. Weiterhin verlangt sie nach neuen Märkten sowie sicheren Investitionsmöglichkeiten für das Kapital und drängt auf die fortgesetzte Privatisierung staatlicher Ressourcen und Reserven, wie etwa das staatliche Rentensystem und das öffentliche Gesundheitsprogramm Medicare. Und schließlich beruht sie auf der Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, der Vermeidung von strikten Umweltschutzstandards und -kontrollen sowie auf der Proletarisierung neuer Segmente der Erwerbsbevölkerung und/oder der weiteren Pauperisierung der Arbeiterschaft.
Die Beschaffenheit des derzeitigen kapitalistischen Weltsystems steht der Umsetzung all dieser Anliegen und Forderungen in mancherlei Hinsicht im Wege – das gilt noch einmal mehr angesichts der anhaltenden COVID-19-Pandemie. Bei einigen Projekten wie der Okkupation neuer Länder und Territorien gibt es zum Beispiel physikalische Gründe, die sie erschweren oder verzögern. Eine großflächige Besiedlung der Antarktis etwa kommt etwa aufgrund der eisigen Kälte dort im Moment noch nicht infrage, auch andere Optionen verbleiben noch im Bereich von Science-Fiction, wie etwa die Besiedlung des Mondes, des Mars oder von Asteroiden und Kometen. Nicht, dass die Menschheit derzeit nicht in der Lage wäre, diese extraterrestrischen Orte und Himmelskörper zu erreichen, aber dies im großen Stil anzugehen, verursacht noch zu hohe Kosten (hinzu kommt, dass die hierfür benötigten Technologien noch nicht wirklich ausgereift sind).
Wie steht es mit der Erschließung neuer Märkte? Hier gibt es durch den Wettbewerb zwischen Kapitalist*innen, Staaten und nichtstaatlichen Akteur*innen, die um Einfluss und Kontrolle von Ressourcen ringen, beträchtliche Restriktionen. Dies zeigt sich am deutlichsten in Afrika, wo zum zweiten Mal ausländische Mächte Anspruch auf die physischen und menschlichen Ressourcen des Kontinents erheben und ein aggressiver Konkurrenzkampf zwischen dem Westen (USA, Kanada, Australien und den EU-Staaten) und China bzw. den mit der dort herrschenden Klasse verbündeten Kräften entbrannt ist. Ergebnisse dieses Gerangels sind massive Investitionen (etwa in die sogenannte Seidenstraße), Landgrabbing-Prozesse durch ausländische Konzerne und Staaten, um Nahrungsmittel exklusiv für bestimmte Heimatmärkte anzubauen, eine beispiellose militärische Aufrüstung, wie sie in AFRICOM zum Ausdruck kommt, und zahlreiche bewaffnete Konflikte, die auf dem ganzen Kontinent wüten. All diese Faktoren erschweren es dem Kapital, in neue Gebiete vorzudringen, zu expandieren und dort Profite zu erwirtschaften. Sie schränken die Fähigkeit des Systems ein, sich zu reproduzieren.
Und dann ist da noch China selbst, mit dem sich die herrschende Klasse in den USA auseinandersetzen muss. Obwohl die chinesische und die US-amerikanische Wirtschaft eng miteinander verflochten sind, ist zu erwarten, dass China bis 2028, wenn nicht früher, die dominierende Volkswirtschaft der Welt sein wird. Schon heute ist der Staat weltweit der bei weitem größte industrielle Produzent sowie Exporteur und Konsument von Rohstoffen. China ist international die führende Gläubigernation, das Land, das weltweit am meisten in den Bau von Infrastruktur investiert, und es befehligt die größte Armee der Welt. Es ist der einzige Staat, der den USA in Bezug auf die Militärausgaben das Wasser reichen kann. China ist auch dabei, die Regeln der Kapitalakkumulation infrage zu stellen und neu zu bestimmen. Das zeigt sich bereits jetzt an den auf bilateralen Abkommen basierenden Normen der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank (WB). Chinas Einfluss auf die Spielregeln erkennt man unter anderem daran, wie es die urheberrechtlichen Grundlagen des Systems neu definiert. Die Strategie der chinesischen Regierung: Sie stellt das System einfach auf den Kopf und zwingt transnationale Konzerne zu Technologietransfers als Preis dafür, dass sie in China tätig sein dürfen.
China schreckt auch nicht davor zurück, die monetären Regeln des kapitalistischen Weltsystems an seine Interessen anzupassen. So schafft es politische und finanzielle Anreize, damit die wachsende Zahl seiner „Partner“ in Zukunft ihre Geschäfte in Yuan und nicht länger in der früheren Weltleitwährung, dem US-Dollar, abwickelt. Damit und mit weiteren Angriffen auf das alte Bretton-Woods-System fordert es die Vormachtstellung der USA offen heraus.
Wollen die USA ihre Position als Hegemon des weltkapitalistischen Systems beibehalten, können die Regierung und die kapitalistischen Klasse dieses Landes diese Herausforderungen nicht ignorieren. Deshalb betrachtet Biden genau wie seine Vorgänger Trump und Obama das Containment von China als eine der Prioritäten seiner Außenpolitik. Er und sein Team werden versuchen, die von der Trump-Administration verursachten Spannungen abzubauen. So wird sich der Ton ändern und weniger mit direkten Sanktionen gedroht werden. Die Biden-Regierung plant jedoch, die Aufrüstung der USA fortzusetzen und die militärische Präsenz des Landes im asiatisch-pazifischen Raum auszubauen sowie die multilateralen Handels- und Sicherheitsabkommen mit Chinas Nachbarn zu stärken. All dies soll dem Containment Chinas und der Vorbeugung eines Krieges dienen, den beide Seiten anscheinend für unvermeidbar halten.
Es ist jedoch klar, dass sich dieser Schlagabtausch nicht auf dem gleichen Terrain abspielen wird wie im Jahr 2017, als Obama aus dem Amt schied. Chinas Umgang mit der COVID-19-Pandemie hat dessen Stärken deutlich gemacht: Das Land verfügt über die größte industrielle Macht auf dem Planeten und steht nicht ohne Verbündete da.
Für die US-Regierung ist es keine nachhaltige Option, den Kampf mit China und gegen COVID-19 mithilfe von immer neuen schuldenfinanzierten Staatsausgaben zu führen. Der Kreislauf der Kapitalreproduktion sowohl im Inland als auch international scheint zu stark unterbrochen, als dass die üblichen fiskalischen Stimuli schnell helfen könnten. Die Federal Reserve hat bereits jetzt Billionen US-Dollar in die Banken und den Aktienmarkt gepumpt, um den Status quo, das heißt die Kapitalismus-Pandemie, zu stützen, während die Virus-Pandemie ihre Opfer forderte. Bidens Pläne für neue Konjunkturprogramme werden bestenfalls nur kurzfristig greifen. Jetzt, wo die Republikanische Partei nicht länger den Präsidenten stellt, wird sie zur Politik der „Haushaltsdisziplin“ zurückkehren und alles tun, um die Biden-Regierung zu blockieren und die Staatsverschuldung zu einem großen Thema des Wahlkampfes im Jahr 2022 zu machen, wenn die Midterm Elections anstehen. Es spricht viel dafür, dass Biden Anfang 2022 eine harte Kehrtwende vollziehen und dem Land einen rigiden Sparkurs aufzwingen wird. Damit werden die bereits massiven sozialen und politischen Konflikte in diesem Land nur noch schlimmer werden.
Wie geht es also weiter?
All dies lässt die Schlussfolgerung zu: Es wird keine „Rückkehr zur Normalität“ geben. Für die Linke in den USA wäre es wichtig, das möglichst schnell zu begreifen und sich darauf einzustellen. Die Linke muss unabhängig von der Biden-Regierung und der Demokratischen Partei ihren eigenen Weg finden. Dazu gehört, sich angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Rechtsextreme ernsthafter darüber Gedanken zu machen, was wir an organisatorischen Voraussetzungen benötigen, um unsere Communitys gegen Angriffe verteidigen zu können. Parallel dazu gilt es, die im Jahr 2020 nach der Ermordung von George Floyd und im Zusammenhang mit zahlreichen Streiks neu aufgekommenen radikalen sozialen Bewegungen noch stärker zu machen.
Unser auf einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel abzielendes politisches Projekt sollte sich auf das Prinzip und die Praxis der Selbstorganisierung der Arbeiterklasse und aller von Unterdrückung betroffenen Communitys stützen, um ein Maximum an Unabhängigkeit (programmatisch und finanziell) von der Demokratischen Partei zu erreichen. Denn diese, das sehen wir jeden Tag, muss massenhaft Kompromisse eingehen und dafür sorgen, dass das US-Imperium nicht zusammenbricht. Aufgrund der hier wirksamen strukturellen Dynamik sollte unsere politische Arbeit sich mit folgenden Punkten befassen:
- Umfassende, an emanzipatorischen Zielen ausgerichtete gegenseitige Hilfe, um die auf die derzeit sich intensivierenden materiellen und sozialen Probleme und Bedürfnisse unserer Communitys und der Arbeiterklasse einzugehen. Immer mehr Menschen müssen hungern, Millionen sind von Obdachlosigkeit bedroht. Seit dem Ausbruch der Pandemie haben sich Millionen von Menschen an solchen Unterstützungsaktionen beteiligt. Die Herausforderung besteht darin, diese Hilfe mit Ansätzen wie Arbeiterselbstverwaltung in Betrieben oder Erzeugergenossenschaften zu verknüpfen, damit wir in Zukunft nicht länger auf Philanthropie, wohltätige Spender*innen und Ehrenamtliche angewiesen sind.
- Ein erster Schritt in die von uns gewünschte Richtung ist, diese Ansätze mit Initiativen in unseren Communitys zu verbinden, die sich für Lebensmittelsicherheit und Ernährungssouveränität einsetzen. Wir sollten den Kalorienbedarf in unseren Communitys ermitteln und die Millionen Menschen, die gerade von ihren Arbeitgebern auf die Straße gesetzt wurden, dazu ermutigen, sich in Landwirtschaftsprojekten und anderen Initiativen zu engagieren, die sich der Lebensmittelproduktion widmen. Es geht um den Aufbau eines Systems, bei dem Gebrauchswerte geschaffen und zur gegenseitigen Verfügung gestellt werden, und darum, den kommerziellen Lebensmittelmärkten etwas Eigenes entgegenzusetzen und damit gleichzeitig die Ernährungssicherheit der Bedürftigen zu stärken.
- Vermutlich ist eine der größten Herausforderung, in dieser schwierigen Zeit den Grad der Selbstorganisation der arbeitenden Menschen zu erhöhen. Neben der gegenseitigen konkreten Hilfe und der Orientierung an dem Prinzip der Ernährungssouveränität halten wir es für entscheidend, dass sich Millionen von Arbeiter*innen an dem Aufbau von Kollektiven und Genossenschaften (Arbeiter-, Erzeuger-, Verbraucher- und Nachbarschaftsgenossenschaften) sowie Einrichtungen der Solidarökonomie beteiligen. Vielleicht am wichtigsten ist, dass sie sich in bestehenden Betrieben, Werkstätten, Institutionen etc. organisieren, um ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vollständig wahrnehmen zu können und um den anstehenden Kampf für die Demokratisierung ihrer Arbeitsplätze und der gesamten Wirtschaft voranzutreiben.
- Um all diese Bemühungen und Anstrengungen sinnvoll miteinander zu verbinden und zu koordinieren, werden die arbeitenden Menschen und ihre Communitys neue Instrumente der Selbstverwaltung hervorbringen und nutzen müssen, wie zum Beispiel sogenannte People’s Assemblies. Dabei spielen Mittel der direkten Demokratie eine herausragende Rolle. Sie sind dazu da, um die Unterstützung und Hilfen für unsere Gemeinschaften, die insbesondere im Moment dringend gebraucht werden, möglichst schnell bereitzustellen und gerecht zu verteilen. Wir müssen uns weitgehend freimachen von staatlichen Bürokratien und ihrer häufig unsozialen und diskriminierenden Praxis.
In diesem Ansatz einer gegenhegemonialen Positionierung der Arbeiterklasse sehen wir einen vielversprechenden Weg, der uns in diesen turbulenten Zeiten des Übergangs weiterbringen kann. Wenn die Linke überleben will, muss sie aufhören, dem Motto „Rückkehr zur Normalität“ zu folgen und, geprägt von der normalen Schreckensherrschaft der bürgerlichen Demokratie,, den Blick in die Vergangenheit zu richten. Es lohnt sich viel mehr, alle Energien darauf zu verwenden, von Grund auf zusammen eine ökosozialistische Zukunft zum Wohle aller zu erschaffen.
Kali Akuno ist Mitbegründer und Co-Präsident der Community-Organisation Cooperation Jackson, die in Mississippi den Aufbau einer solidarischen Ökonomie vorantreibt.