Juli 29, 2020

Blowing in the Wind: Tränengas bei Protesten

Stuart Schrader

Demonstrant in Portland, Oregon, 24. Juli 2020 (Flickr–Foto von hamstik, CC–BY–2.0).

In letzter Zeit war Tränengas in aller Munde – und auch in vielen Augen und Lungen. Nachdem George Floyd am 25. Mai von Polizisten in Minneapolis getötet wurde, haben Tausende aus Protest in verschiedenen Städten Märsche, Kundgebungen und Demonstrationen veranstaltet und öffentliche Räume besetzt. In mindestens 100 US-Städtenhat die Polizei zu Tränengas gegriffen, angeblich um damit Menschenansammlungen auseinanderzutreiben. Für viele macht der Einsatz chemischer Waffen aber nicht den Eindruck, als wolle die Polizei sich verteidigen oder die Lage beruhigen, sondern viel eher angreifen, Konfrontationen zuspitzen und den Protestierenden Schaden zufügen.

Eine historische Reflexion über die Rolle von Tränengas kann dabei helfen, die gegenwärtige Situation und vor allem die Gründe zu verstehen, warum die Polizei damit auf Protestierende losgeht. Tränengas, worunter eine Reihe unterschiedlicher chemischer Substanzen fallen, ist streng genommen gar kein Gas und hat wesentlich gravierendere körperliche Auswirkungen als bloße Tränen. In den 1960er Jahren während des Vietnamkriegs war es für das US-Militär eine gängige Angriffswaffe. Heute knüpft die Polizei wieder täglich an diese Tradition an.

Tränengas legt die Wechselbeziehung zwischen Krieg und Polizeikontrolle offen, oder besser gesagt: es enttarnt die Polizeikontrolle als politische Kriegsführung.

Chemikalien des Kalten Kriegs

Während des Kalten Kriegs wurde Tränengas von den Vereinigten Staatenals Kriegswaffe eingeführt und parallel dazu an die Polizeikräfte vieler Länder geliefert, vor allem in Form der heute weitverbreiteten chemischen Substanz CS. Damit sollte CS zwei taktischen Zielen dienen: Im Kriegskontext konnte es als Ergänzung zu tödlicher Gewalt und im Polizeikontext anstelle davon eingesetzt werden. Heute verschmelzen diese beiden Ansätze. CS-Gas wird zum Hauptmultiplikator von Polizeigewalt gegen Protestierende.

Anfangs wurde CS als «Supertränengas» bezeichnet, weil es heftiger wirkte als chemische Verbindungen, die schon während des Ersten Weltkriegs eingesetzt wurden. CS kam in den 1960er Jahren neu zu den Arsenalen der Streitmächte hinzu. In Vietnam wurde CS typischerweise eingesetzt, um Menschen aus ihren Verstecken in Bunkern, Tunneln oder dichtem tropischen Unterholz zu zwingen, typischerweise eingesetzt, um Menschen aus ihren Verstecken in Bunkern, Tunneln oder dichtem tropischen Unterholz zu zwingen. Wenn die nach Luft schnappenden und würgenden Zivilist*innen – oder die abgehärteten Guerillakämpfer*innen – den Gaswolken zu entkommen suchten, wurden sie von den Soldaten gefangen genommen, meistens jedoch einfach mit konventionellen Handfeuerwaffen niedergeschossen. Tränengas wurde nicht verwendet, um Konflikte zu deeskalieren, sondern um sie anzuheizen.

Bei Arbeitsprotesten und Student*innendemonstrationen beförderte Tränengas die Polizeirepression, weil diese Waffe «weniger tödlich» erschien, wie es auch heute immer wieder heißt. Diese Form von Gewalt wurde als humanere Alternative zu Bajonetten, Feuerwaffen oder Sprengstoff dargestellt. Der Einsatz solch tödlicher Mittel ließe die Polizei mindestens als Gegnerin der freien Meinungsäußerung oder ganz schlicht als bigott und brutal erscheinen.

Chemikalien von heute

Dass Tränengas von der Polizei eher als Angriffs- und nicht als Verteidigungswaffe eingesetzt wird, machen auch die Ereignisse in den USA deutlich. Tränengas ist hier allerdings nicht die Grundlage für darauffolgende tödliche Gewalt, sondern Selbstzweck.

Die Videos davon, wie die Polizei Pfefferspray-Salven in die Gesichter sitzender Demonstrant*innen sprüht oder Protestierende in Tränengaswolken auf den Boden drückt, bezeugen, dass die Polizei potente Substanzen nutzt, um Leid zu verursachen. Offensichtlich soll durch diese Taktik in erster Linie Schmerz zugefügt werden. Offiziell ist Reizgas dafür bestimmt, Menschen in die Flucht zu schlagen, jedoch wird es oft in Situationen eingesetzt, in denen Protestierenden kein Fluchtweg bleibt, wenn sie etwa gegen Absperrungen gepresst oder von bewaffneten Polizeireihen eingekesselt werden.

Tränengas löst starke körperliche Schmerzen aus, selbst wenn sie in der Regel schnell abklingen. Vor allem aber hinterlässt Tränengas im Gegensatz zu Schlagstöcken oder Kugeln keine Spuren an seinen Opfern. Manchmal verursacht die Polizei jedoch schwere Verletzungen, indem sie mit Gaswurfgeschossen direkt auf Menschen zielt. Wie schon in Chile 2019 werden in den Vereinigten Staaten Gummigeschosse und Chemikalienkanister auf die Köpfe der Protestierenden abgefeuert, was zum Erblinden führen kann.

Anders als die kurzfristigen Schmerzen sind die langfristigen Folgen von Tränengas bis heute unzureichend geklärt. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass sein großflächiger Einsatz die Geschlechtsorgane schädigt und den Hormonspiegel durcheinanderbringt. Während der derzeitigen Pandemie, bei der eine Viruserkrankung die Atemwege angreift und durch Husten übertragbar ist, erhöht sich zudem das Ansteckungsrisiko durch die Reizhusten auslösenden chemischen Substanzen .

Tränengas unterscheidet nicht zwischen seinen Opfern, und so kann es ganze Bevölkerungsgruppen oder Nachbarschaften treffen. Es zieht die wütendsten Protestierenden an der vordersten Front einer Menschenmenge genauso in Mitleidenschaft wie Kinder und ältere Menschen am Rand der Proteste. Seine politische Botschaft lautet: Alle Protestierenden sind gleich, und alle sind Staatsfeind.

Polizeigewalt als politische Kriegsführung eignet sich technologische Innovationen an, die ursprünglich die Legitimität des repressiven Staatsapparats stärken sollten und setzt sie für Zwecke ein, die ihrer eigentlichen Bestimmung widersprechen. Beschleunigt wird dieser dynamische Prozess durch die gängige Praxis, auf Taktiken zurückzugreifen, die in Kampfgebieten bereits erprobt wurden, und sie der Polizei verfügbar zu machen. Diese Art des Technologietransfers ist für uns Alltäglichkeit geworden.

Chemikalien und Kapitalismus

Polizeibehörden investieren deshalb in Tränengas, weil es eine schnelle Lösung verheißt. Es ist viel einfacher einzusetzen und billiger im Einkauf als arbeitsaufwändige Schulungen im Umgang mit Menschenmengen und die zeitintensive Aneignung von Deeskalationsstrategien. Die Vorfälle bei den jüngsten Protesten lassen erkennen, dass vielen Polizist*innen die Reizkampfstoffe ohne geringste Einweisung ausgehändigt wurden.

Hersteller von Tränengas sind permanent auf der Suche nach neuen Absatzmärkten, um ihre Gewinne zu maximieren. Die Angebotsseite macht also konstant Druck auf potenzielle Abnehmer. In den 1960er Jahren wurden einige Länder unter anderem deshalb mit CS-Gas beliefert, um sie von der amerikanischen Wirtschaft abhängig zu machen: Wenn einem Land die CS-Vorräte ausgingen, sollte es Nachschub bei einer der US-amerikanischen Herstellerfirmen kaufen. Man scherte sich nie um die schlecht bezahlten Arbeiter*innen in der US-Chemieindustrie, die es herstellen und unermesslich leiden , während die Profite in die Höhe schnellen.

In der Phase der importsubstituierenden Industrialisierung haben die USA bisweilen auch daran mitgewirkt, in einzelnen Ländern eine eigene Tränengasindustrie aufzubauen, etwa in Brasilien. Heute ist Brasilien einer der größten globalen Lieferanten – und Nutzer – von Tränengas. Selbst wenn die Vereinigten Staaten morgen aufhörten, Tränengas zu produzieren, würden ihre ehemaligen Kunden den Markt mit ihrer eigenen Produktion weiterhin sättigen – einer der bleibenden Erfolge des US-amerikanischen Imperialismus.

Chemische Bindungen

Heute wird der massiven Protestwelle gegen Polizeigewalt überall in den Vereinigten Staaten – und sogar weltweit – weiterhin brutale Polizeigewalt entgegengesetzt. Während Tränengas ursprünglich die Gewalt der Polizei gegen Protestierende mindern sollte, ist es heute zu einer der primären Formen dieser Gewalt geworden. Aktuell reagieren einige Politiker*innen mit neuen Richtlinien für den Gebrauch des Reizgases. Wo Tränengas einst die Legitimität des Staates fördern sollte, offenbart es heute einen illegitimen und außer Kontrolle geratenen.

Polizeiapparat. Der missbräuchliche Einsatz von Tränengas gegen die Demonstrant*innen, die Gerechtigkeit für George Floyd einforderten, hat allerdings auch dazu geführt, dass ein größerer Anteil der Bevölkerung denn je zuvor den Rassismus in den USA als Problem anerkennt, das dringend angegangen werden muss, unter anderem auch durch Polizeireformen. Ein klarer Beleg dafür ist der Slogan der Protestierenden: «Defund, Disarm, Abolish the Police!»

Die Polizei ist in den Vereinigten Staaten eine höchst dezentrale Institution mit über 18.000 Einzelorganisationen ohne zentrale Kommandostelle. Und doch, so scheint es, agiert sie gerade zunehmend geschlossen und spricht mit einer Stimme. Tränengas ist ein Ausdruck dieser Einhelligkeit. Dass Tränengas in Portland im Bundesstaat Oregon –trotz politischer Unstimmigkeiten zwischen Präsident, Gouverneur und Bürgermeister – sowohl von Bundespolizei als auch Ortspolizei eingesetzt wurde, ist einerseits ein Beleg für die technologische Konvergenz hinsichtlich des Tränengaseinsatzes, zeugt andererseits aber auch vom herrschenden politischen Imperativ, einen Krieg gegen die Protestierenden zu führen.

Genauso wie Tränengas einst einzelne Länder unter dem Schirm eines US-dominierten Kapitalismus zusammenzubringen sollte – und zwar, indem jeglicher Widerstand im Keim erstickt und ein Wirtschaftskreislauf von Sicherheitswaren geschaffen wurde ¬–, beobachten wir heute, wie die Polizei sich über Zuständigkeitsgrenzen hinaus landesweit konsolidiert. Tränengas bringt nicht nur Schmerzen, es entlarvt auch das systemische Wesen des Polizeiproblems.

Selbst wenn die Polizei sich gerade nichts seliger wünscht, ist es unwahrscheinlich, dass die momentane Opposition gegen das System sich wie eine Gaswolke in Luft auflösen wird.

Stuart Schrader ist Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Johns Hopkins University. Er lehrt schwerpunktmäßig in den Bereichen African Studies, International Studies, Politikwissenschaft und Soziologie.


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