September 24, 2021

Das Afghanistan-Desaster – die Analyse eines Augenzeugen

Cem Sey

Der 11. September 2001 war in Berlin ein schöner Tag. Ich arbeitete als Berlin-Korrespondent des türkischen Fernsehsenders CNN Türk. An dem Tag war nicht viel zu tun und ich freute mich schon auf das Jiu-Jitsu-Training am Abend. Dann aber liefen am späten Nachmittag auf allen Nachrichtensendern die Bilder von zwei Flugzeugen, die ins World Trade Center hineinflogen und ich wusste, mitten im Training würde das News Center in Istanbul anrufen. So war es dann auch. Und so begann mein Afghanistan-Abenteuer.

Ich erklärte in einer Live-Sendung dem türkischen Publikum, wie groß das Solidaritätsgefühl der Deutschen mit den Amerikanern war. Tatsächlich war das Mitgefühl spontan, echt und weit verbreitet. Gottesdienste, Trauerveranstaltungen und Mahnwachen fanden statt. Vor der US-Botschaft in Berlin legten Menschen Blumen nieder, viele nutzten die sozialen Medien, um ihr Mitgefühl mit den US-Bürgern kundzutun. Gleichzeitig erfasste die Deutschen auf einmal auch die Angst vor einem neuen Krieg. Sie konnten es nicht fassen. Der Krieg in Jugoslawien war doch erst vor wenigen Jahren zu Ende gegangen. Ich berichtete, dass nun Afghanistan wieder in den Fokus rücken würde.

Ich folgte den Entwicklungen in Afghanistan aus persönlichem Interesse seit den 1970er Jahren. Daher wusste ich, dass, seitdem dort mit Unterstützung Washingtons die Islamisten erstarkten und nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion in 1991 auch die sozialistische Regierung in Kabul implodierte, das Land am Hindukusch die USA nicht mehr interessierte. Dass ihre islamistischen Verbündeten die Hauptstadt Kabul in wenigen Jahren in Schutt und Asche gelegt hatten, dass seit Jahren Steinzeit-Islamisten, die Taliban, mit Gewalt gegen die eigene Bevölkerung herrschten – das alles war aus Sicht Washingtons unwichtig.

Doch eine Person, ein gewisser Osama bin Laden, war fest entschlossen gegen die USA zu kämpfen, das wusste die CIA, und er hatte in Afghanistan Unterschlupf gefunden. Das war Washington schon länger ein Dorn im Auge.

So kam es dazu, dass der damalige US-Präsident George W. Bush beschloss, Afghanistan statt den Irak anzugreifen. Denn seine Administration spielte in jenen Tagen eigentlich mit dem Gedanken, einen anderen Mann, Saddam Hussein, auszuschalten, und fühlte in Europa vor, ob sie für diese Operation mit politischer Unterstützung rechnen könnte. Der Angriff aus dem Nichts auf New York City kam Bush gelegen. Nun war die US-Öffentlichkeit vom Krieg einfach zu überzeugen. Das Weiße Haus taufte diesen Krieg „War on Terror“.

Der Name war bewusst und schlau ausgewählt. Er bot die Möglichkeit den Krieg nicht auf Afghanistan zu begrenzen.

In Europa wehte ein anderer Wind. Einerseits hatten die meisten Europäer Verständnis dafür, dass die US-Amerikaner zurückschlagen wollten, andererseits glaubten viele nicht, dass der sogenannte Terror mit einem Krieg zu stoppen wäre. Ursachen bekämpfen, hieß es in Europa. Man müsse stabile Staaten und Gesellschaften in den „Problemländern“ schaffen, in denen sonst weitere Gewalttäter nachwachsen würden.

Der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer hatte einen schwierigen Spagat zu vollführen. Einerseits musste er dem wichtigsten Bündnispartner USA beistehen, andererseits war er davon überzeugt, dass ein Krieg die Weltlage noch komplizierter machen würde. Er wollte zwar mit nach Afghanistan, jedoch hauptsächlich, um das kriegsgebeutelte Land mit ziviler Entwicklungshilfe neu aufzubauen – im Schatten des Militärs. Die Unterstützung der meisten Europäer*innen wusste er auf seiner Seite.

Auch in Afghanistan konnten sich viele Menschen, vor allem urbane Bevölkerungsschichten, mit der Idee anfreunden, dass nun der Westen eingreift und ihrem langen Leiden ein Ende setzt. Demokratie – dieses Wort gab den Afghan*innen neue Hoffnung, auch wenn sie sich nichts Konkretes darunter vorstellen konnten. Ja, vielleicht nur freie Wahlen, aber das war doch schon mal was. Sie hatten den Krieg schon längst satt, der ihnen anfänglich von eigenen Islamisten aufgezwungen wurde, und, weil Washington diese während des Kalten Krieges im Kampf gegen die sowjetischen Truppen unterstützte, das ganze Land wie ein Flächenbrand erfasst hatte.

Die ersten Pläne des Westens gingen auf. Die US-Luftwaffe unterstützte die Nordallianz, die einzige lokale Opposition, die noch gegen die Taliban kämpfte, und Kabul fiel innerhalb einer Woche. Nun sollte der Aufbau folgen.

Petersberger Konferenz und eine neue Verfassung

Am 27. Dezember saß ich mit hunderten weiteren Journalisten aus aller Welt im Medienschiff am Rheinufer in Königswinter in Deutschland. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir sollten über die Verhandlungen zwischen mehreren afghanischen Fraktionen, den Vertretern der UN und westlicher Staaten berichten, die im fünf Kilometer entfernten Schloss Petersberg stattfanden, aber nichts drang heraus. Das war unser Problem. Wir wussten nichts, außer die uns zur Verfügung gestellten Informationen in Hintergrundgesprächen, die jedes Land für die eigenen Medien organisierte.

Die deutschen Diplomaten feierten am Ende. Sie hatten die Idee des Aufbaus durchgesetzt. Ansonsten hatten die USA dafür gesorgt, dass die sonst zerstrittenen afghanischen Delegationen sich mit dem Ergebnis einverstanden erklärten. Eine Übergangsregierung sollte gegründet und eine neue und demokratische Verfassung vorbereitet werden, gefolgt von freien Wahlen. Guter Plan.

Afghan election workers start counting the ballots after light turnout and sporadic violence in today’s Presidential election on September 28, 2019 in Kabul, Afghanistan. (Photo by Paula Bronstein/Getty Images)

Doch Pläne, die in komfortablen Konferenzräumen geschmiedet werden, passen selten in die afghanische Realität. Denn obwohl es aus einer westlichen Perspektive nicht ersichtlich ist, gibt es auch in Afghanistan eine Innenpolitik, traditionsreiche politische Parteien und Entwicklungsstrategien für das eigene Land, die zu berücksichtigen wären.

„Wer ist die stärkste Partei?“

Zum ersten Mal war ich in 2004 in Afghanistan. Ich sollte in Jalalabad jungen Afghanen Radiojournalismus beibringen. Natürlich wusste ich, dass in zehn Tagen keine Journalisten ausgebildet werden könnten. Aber man könnte den Teilnehmern eine Idee vom Journalismus geben, sie dazu ermuntern, diesen Berufsweg zu wählen und so der Demokratisierung ihres Landes beizutragen. Vielleicht könnten darüber hinaus die Grundregeln des Journalismus vermittelt werden.

Ich fand ein Dutzend junge Männer vor mir sitzen, alle Anfang 20. Sie waren Feuer und Flamme für ein neues Leben im Journalismus, wenn auch einige von ihnen kaum lesen und schreiben konnten. Im Frauentraining, das parallel im selben Gebäude lief, gab es sogar Schwierigkeiten, den Konzept der journalistischen Quelle zu erklären – die Teilnehmerinnen dachten automatisch an den Brunnen in ihrem Stadtteil, an die Wasserquelle, also die einzige Quelle, die ihnen bis zu diesem Tag begegnete.

Mit Hilfe meines damals 18 Jahre alten Übersetzer Emal versuchte ich das beste daraus zu machen. Die jungen Männer saugten die Informationen auf und vor allem die journalistische Perspektive auf das gesellschaftliche Leben, was für sie vollkommen neu war. Jahre später begegnete ich Farhad, einen meiner Trainees aus Jalalabad, bei einer Pressekonferenz in Kabul. Er hatte den Gedanken ernst genommen, hatte in Indien Journalismus studiert und war inzwischen der politischer Korrespondent eines geachteten afghanischen TV-Senders geworden. Die Aufbauarbeit war also doch nicht umsonst.

Aber auch für uns Trainer gab es einiges zu lernen. Eines Tages fragte ich den Direktor des Medienhauses, in dem wir unterrichteten, welche Partei in Jalalabad die stärkste war. Er guckte mich an, als ob ich gerade vom Mond käme. „Natürlich die Partei, die die meisten und besten Waffen hat“ sagte er.

Aus seiner Perspektive waren deshalb die USA und der Westen nun die stärkste politische Partei. Für ihn und fast allen Afghan*innen war der Westen nun ein Teil der afghanischen Innenpolitik. Daraus ergab sich natürlich auch eine große Verantwortung gegenüber den Afghan*innen. Eine Verantwortung, derer sich die westlichen Politiker*innen weder vor dem Einsatz noch während der 20 Jahren, die folgten, wirklich bewusst waren.

Um seine Pläne erfolgreich umzusetzen, hätte sich der Westen intensiv mit den Trennlinien der afghanischen Innenpolitik beschäftigen müssen. Das wurde vermieden, weil es nicht einfach war.

Afghanistans politische Landschaft gleicht einem fluiden Mosaik, das mit häufig wechselnden Koalitionen kaum zur Ruhe kommt. Die rivalisierende Vorherrschaft der Paschtunen und der Tadschiken verkompliziert die Lage, weil keine der beiden die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht. Hinzu kommen noch zahlreiche weitere Volksgruppen, darunter die schiitischen Hazaras mongolischer Abstammung, sowie Usbeken und Turkmenen, zwei Turkvölker. Sie alle, allen voran Paschtunen, gliedern sich auf in miteinander rivalisierende Stämme.

Diese ethnische Vielfalt bestimmt Afghanistans politische Machtverhältnisse sowie das politische Geschehen im Land. Die Interessen verschiedener Glaubensrichtungen innerhalb des Islams, verschiedener Klassen und sozialer Gruppen, allen voran der Frauen, werden ebenfalls entlang dieser ethnischen Grenzen vertreten und erschweren Problemlösungen zusätzlich.

Die Parteienlandschaft spiegelt diese Komplexität wider. Es gibt die alten Eliten aus vor-sozialistischen Zeiten, die oft Monarchisten sind; die Muslimbrüder, die einer der stärksten politischen Parteien, die Hizb-i Islami von Gulbuddin Hekmetyar kontrollieren; die Jamiat-i Islami des ehemaligen Präsidenten Burhanuddin Rabbani, die von Tadschiken dominiert wird. Hinzu kommen die Panjshiris, gemäßigte Konservative, die heute vom Ahmad Massud, dem Sohn des gleichnamigen Helden des afghanischen Widerstandes gegen die Sowjetunion geführt werden, aber lokal begrenzt im Panjshirtal wirken. Außerdem die Jumbish-i Islami des usbekischen Warlords Abdurrashid Dostum und Hisb-i Wahdat des Hazara-Warlords Haji Mohammad Mohaqiq. Selbst Sozialisten und säkulare Republikaner existieren noch. Und natürlich gibt es die von den USA unterstützten und eingesetzten Technokraten. Die Taliban vertreten hauptsächlich die Interessen des konservativsten Ulemas, der Religionslehrer.

In einem Land, in dem die politischen Interessen derart kompliziert sind, hilft am besten ein starkes Parlament, das ein Interessenausgleich durch demokratische Beratungen erlaubt. Doch US-Berater stülpten Afghanistan stattdessen ein starkes Präsidialsystem über, womöglich nur deshalb, weil das es Washington einfacher machen würde, Entscheidungen durchzudrücken, ohne viel Zeit mit mehreren Gesprächspartnern zu verlieren. Ein Parlament existierte zwar, war aber sehr schwach. Ein schwerer Fehler: Die gewollte Abwesenheit eines starken Parlamentes, in dem mit der Bevölkerung interagierende politische Parteien die Auseinandersetzungen führen und Kompromisse aushandeln, führte schließlich im Sommer 2021 zur Implosion des Staates, als eine militärische Niederlage drohte. Deswegen zogen es die afghanischen Soldaten vor sich zu ergeben, anstatt für einen vereinsamten Präsidenten zu kämpfen – nicht weil sie zu feige waren oder mit den Taliban sympathisierten.

Die Zwangsjacke des Neo-Liberalismus

Als ich von 2005 bis 2009 als Korrespondent aus Washington D.C. berichtete, hatte die Unterstützung der US-Öffentlichkeit für den „War on Terror“ zu bröckeln begonnen. Denn die Zahl der toten US-Soldaten im inzwischen begonnenen Irakkrieg stieg in diesen Jahren rapide. Auch die öffentliche Unterstützung für den Einsatz in Afghanistan litt darunter. Um diesen weiterhin zu legitimieren, suchten die Spindoktoren des Weißen Hauses nach geeignetem Material. 2010 glaubten sie gefunden zu haben, wonach sie suchten.

New York Times berichtete von enormen Rohstoffen, die die US-Geologen in Afghanistan ausfindig gemacht hätten. Der Fund sei so groß, dass er den Fortgang des Krieges ändern könne, zitierte die NYT hohe Vertreter der US-Regierung.

Ich musste lachen. Denn der Fund war nichts Neues. Noch in den 1980er Jahren hatten die polnischen und sowjetischen Geologen dieselben Rohstoffe entdeckt und dokumentiert. Ich hatte sogar eine polnische Afghanistan-Karte zu Hause, auf dem diese Mineralien markiert waren. Doch die sowjetischen Experten hatten damals auch schnell herausgefunden, dass die Gewinnung der Rohstoffe nicht einmal mit den modernsten Technologien wirtschaftlich wäre.

2012 bin ich nach Afghanistan umgezogen. Drei Jahre lebte und berichtete ich direkt aus dem Land. Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass Afghanistan nicht immer von der Entwicklungshilfe leben muss. Es wurde aber nichts unternommen, um das zu erreichen. Im Gegenteil. Westliche Berater mit ihrer neoliberalen Grundeinstellung vernichteten die wenigen übrig gebliebenen Wirtschaftssektoren des Landes einen nach dem anderen, weil sie darauf bestanden, dass das Land seine Grenzen für alle Exportgüter öffnet. Die wenigen Kritiker dieser Politik wurden zumeist durch Diffamierung zum Stillschweigen gebracht. Sie seien Kommunisten, hieß es oft.

In diesen Jahren durfte ich über das Schicksal des letzten Exportproduktes Afghanistans berichten: afghanische Teppiche. Auf der ganzen Welt waren sie seit jeher begehrt. Doch einerseits kam durch die offenen Grenzen billige Wolle aus Belgien und vernichtete die Baumwollproduktion in Afghanistan. Andererseits waren die Teppichwaschanlagen im Bürgerkrieg vernichtet worden. Hinzu kam, dass die pakistanische Arbeitskraft sogar billiger war als die afghanische. Diese Kombination führte zum Tod der letzten Exportware Afghanistans.

Ähnlich war es im Textilsektor. Ich besuchte 2012 eine Geisterfabrik in Gulbahar, ein Dorf in Kapisa. Noch vor dem Krieg wurde die Textilfabrik mit deutschen Maschinen ausgestattet, musste aber in den 1980er Jahren aus Sicherheitsgründen ihre Produktion einstellen. Die afghanischen Gewerkschafter pflegten die Anlage über 20 Jahre lang, in der Hoffnung, sie eines Tages wieder in Betrieb nehmen und Arbeitsplätze für tausende Menschen schaffen zu können.

Doch westliche Berater, allen voran die Deutschen, winkten ab und wimmelte durchaus interessierte Investoren ab. Die Technologie sei zu alt, die Fabrik könne auf dem Weltmarkt nicht konkurrieren. Selbst der Versuch, die Uniformen der immer größer werdenden afghanischen Armee in Afghanistan zu produzieren scheiterte, weil es billiger war, sie in China herstellen zu lassen.

Die Wirtschaftspolitik spielte eine entscheidende Rolle im Misserfolg des Westens. Die westlichen Mächte haben stets ideologisch gehandelt und es nie verstanden, eine stabile wirtschaftliche Grundlage herzustellen, auf der die afghanische Wirtschaft hätte wachsen können.

Aus derselben ideologischen Blindheit förderten westliche Entwicklungsagenturen jegliche Arbeitgeberverbände, doch wenn es darum ging, die Gewerkschaften zu unterstützen, damit sie sich effektive Strukturen geben können, waren sie unwillig. In 2015 empfahl eine Mitarbeiterin der deutschen Entwicklungsagentur GiZ ihren Chefs, eine Stelle beim Gewerkschaftsdachverband NUAWE zu finanzieren, der sich neu organisieren wollte und dafür Beratung brauchte. Die Antwort war ernüchternd. Gewerkschaften seien keine zivilgesellschaftlichen Organisationen, behauptete die GiZ-Führung.

Dass diese Ablehnung gegen die Selbstorganisation der afghanischen Arbeiter*innen kein Zufall war, wurde wenig später deutlich. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ließ die Gewerkschaftszentrale von der Polizei überfallen und NUAWE wurde aus ihrem eigenen Haus vertrieben. Ghani und seine westlichen Unterstützer wollten ein Billiglohnland.

Die Stimmung kippt

Als ich 2006 im Auftrag des Entwicklungsprogrammes der Vereinten Nationen nach Kabul ging, um im neu eröffneten afghanischen Parlament Parlamentskorrespondenten auszubilden, herrschte bereits eine bedrückte Stimmung im Land. Die hoffnungsvolle Atmosphäre der ersten Jahre war verschwunden.

Die Afghan*innen beschwerten sich über Korruption und die Übergriffe seitens des US-Militärs. Auch selbsternannte Kopfgeldjäger aus den USA waren in aller Munde, die in Kabul Menschen entführten und sie in geheimen Kellern folterten, um Hinweise über die von der FBI gesuchten Taliban-Führer zu bekommen. Es kursierten Geschichten über Amokläufe einzelner US-Soldaten, nächtliche Hausdurchsuchungen, bei denen US-Soldaten afghanische Traditionen missachteten.

Doch die Beschwerden der meisten Afghanen konzentrierten sich nicht auf die US-Soldaten. Sie waren ihnen trotz allem dankbar und hatten – auch wenn es ihnen schwer fiel – Verständnis dafür, dass sie die afghanischen Traditionen nicht kannten. Doch die militärische und politische Strategie Washingtons störte zunehmend.

Denn um die eigenen Verluste zu begrenzen, war das US-Militär zu Drohnenangriffen übergegangen. Es häuften sich Luftangriffe auf Hochzeiten oder andere falsche Ziele in den Dörfern mit Dutzenden zivilen Opfern. Einer der größten Fehlgriffe wurde jedoch von einem deutschen Offizier verursacht. Er hatte die Lage vollkommen falsch eingeschätzt und ließ bei Kunduz zwei Öltanklaster bombardieren. Es gab mehr als hundert Opfern, darunter mehrere Kinder.

Die USA gerieten auch deshalb in Kritik, weil sie, um ihre Ziele zu erreichen, gemeinsame Sache mit Warlords machten. Viel Geld floss aus Washington nach Afghanistan, der Großteil davon in die Tasche von Menschen, die private Armeen besaßen und sich wie kleine Fürsten benahmen. Einem hartnäckigen Gerücht zufolge, bezahlten die USA z.B. monatlich 50.000 US-Dollar an einen Gouverneur in Uruzgan, damit er die US-Truppen, die seine Provinz passierten, vor Angriffen schützte – eine Art Schutzgeld also.

Dass die CIA US-Dollars in Plastiktüten durch das Land trug und die Loyalität alter Warlords kaufte, und sowohl der Präsident Ashraf Ghani, als auch sein Vorgänger Hamid Karzai sich an diesen Geldern ebenfalls bedienten, war ein offenes Geheimnis. Nicht nur die Afghan*innen, sondern auch viele westliche Entwicklungshelfer berichteten von solchen Vorgängen.

Die Bezahlung der westlichen Berater war ein weiteres Thema, die die Afghan*innen zu Recht kritisierten. Auch ich gehörte zu diesen Beratern und wusste daher, dass die Vorwürfe stimmten. Die Billionen, über deren Höhe die westliche Öffentlichkeit sich zunehmend beschwerte, blieben kaum in Afghanistan, sondern wurden zum Teil in Form von Gehältern oder Beraterhonorare wieder in die Ursprungsländer zurückgebracht.

Was von diesen Geldern doch noch im Land blieb, wurde oft von afghanischen Politikern in leitender Position eingesackt und außerhalb Afghanistans investiert. Wie oft habe ich in afghanischen Medien die Meldungen über die US-Dollars gelesen, die in Koffern am Flughafen Kabul erwischt wurden. Denn nicht selten trugen diese korrupten Politiker und Staatsbediensteten das Geld in bar nach Dubai, in die Türkei oder nach Indien, um sich dort Häuser zu kaufen.

Hätten die USA die Korruption nicht selbst gefördert, hätte die zivile Aufbauarbeit, die in 20 Jahren in Afghanistan durchaus geleistet wurde, viel billiger erledigt werden können.

Zweifelhafte Wahlen

Trotz all dieser Probleme hielten die meisten Afghan*innen ihre halb funktionierende Demokratie für eine gute Sache. Sie sahen selbstverständlich die Fehler, die Fehlentwicklungen und die Korruption. Doch sie wussten auch, dass die halbe Demokratie, wie sie sie erlebten, besser war als alles andere, was sie bis dahin kannten.

Ihre Kinder konnten in die Schule gehen, die Frauen durften nicht nur ihre Häuser verlassen, sondern sich auch ausbilden lassen und arbeiten. Neue Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut. Obwohl sie sich gegen den Präsidentenpalast kaum durchsetzen konnten, konnten im Parlament die gewählten Vertreter des Volkes die Zustände ganz offen kritisieren. Die Pressefreiheit war im Vergleich zu den meisten Ländern in der Region am größten. Die zumeist jungen Journalist*innen, viele von ihren westlichen Kolleg*innen ausgebildet, arbeiteten mit großem Mut und Erfolg.

„Es kann alles mit der Zeit verbessert werden.“, dachten die Menschen. Bis zur ersten fragwürdigen Präsidentschaftswahl im Jahr 2014. Die Behörden hatten bereits im Vorfeld die Wahlbeobachter an der Arbeit zu hindern begonnen. Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisierten die Unabhängige Wahlkommission dafür und warnten, dass ihre Arbeit nicht transparent sei.

Dennoch, und trotz der massiven Drohungen der Taliban, gingen Afghan*innen massenweise zu den Urnen. Der Wahlgang war die letzte klare Demonstration der Bevölkerung, dass sie in einer Demokratie leben wollte.

Am Wahltag selbst wurde ein Kommissionsmitglied in einem LKW-Konvoi mit dutzenden Wahlurnen erwischt. Angeblich wollte er sie in Sicherheit bringen. Die Wahlkommission erklärte den paschtunischen Kandidaten Ashraf Ghani, der auch Washingtons Liebling war, zum Sieger. Sein Hauptkonkurrent Abdullah Abdullah lehnte es ab, dieses Ergebnis anzuerkennen. Auch das Nachzählen der Stimmen war dubios und wurde zudem nach einigen Tagen eingestellt. Es entstand eine Patt-Situation. Der Leiter des Wahlbeobachterteams der EU, der Holländer Thijs Berman, war unter den Kritikern, die USA nicht.

Schließlich diktierten wieder einmal US-Diplomaten den beiden Kontrahenten die Lösung: Ashraf Ghani sollte Präsident und Abdullah Chief Executive werden – ein Posten, der laut afghanischer Verfassung gar nicht existiert. Bis heute ist es nicht bekannt, wer die Wahl in der Tat gewonnen hatte.

Die Wahl 2014 führte zur endgültigen Demoralisierung der afghanischen Bevölkerung. Denn sie merkten, dass nicht einmal die Grundregel der Demokratie, dass nämlich die Wahl der Bevölkerung geachtet werden muss, respektiert wurde, und die westlichen Staaten das ohne Skrupel mitmachten. Als bei der Wahl 2019 wieder das gleiche Spiel in Szene gesetzt wurde, erwartete die Bevölkerung vom Westen und vor allem von den USA nichts mehr, weil sie davon ausgingen, dass derjenige die Macht erhalten würde, der den US-Interessen am besten diente und nicht der, der gewählt wurde.

Der letzte Nagel im Sarg Afghanistans

Die afghanische Bevölkerung war trotz dieser Enttäuschungen bereit, für eine eigene Demokratie einzutreten. Vor allem die Frauen, die in den letzten 20 Jahren endlich wieder ein Stück Freiheit genossen, aber auch junge Menschen, die nach der westlichen Invasion aufwuchsen und den Erzählungen ihrer Eltern aus der Zeit der Taliban-Herrschaft mit Horror zuhörten, wollten sich nicht klein kriegen lassen. Die jungen Männer in der Armee kämpften tatsächlich heldenhaft gegen die selbsternannten Gotteskrieger. Über 60.000 von Ihnen haben für die afghanische Demokratie ihr Leben gelassen.

Was sie aber unbedingt noch brauchten, und das wussten alle, war die Unterstützung des Westens. Natürlich militärische Unterstützung in Form von Luftunterstützung und Logistik, aber vor allem Entwicklungszusammenarbeit, diplomatische und vor allem moralische Unterstützung. Dass die westliche Öffentlichkeit keine Lust mehr hatte, ihre Töchter und Söhne nach Afghanistan zu schicken, konnten sie sehr gut verstehen.

Genau diese Unterstützung verwehrte ihnen der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Er wies seinen zwielichtigen Berater Zalmay Khalilzad an, mit den Taliban irgendein Abkommen zu schließen, um den Krieg schleunigst zu beenden. Auf Druck der Taliban ließ Washington sowohl die Regierung in Kabul als auch die Vertreter der Zivilgesellschaft einfach außen vor und unterschrieb ein „Friedensabkommen“, das nicht einmal das Papier wert war, auf dem es geschrieben stand. Denn von vornherein wussten alle Beteiligten, dass die Taliban sich nicht daranhalten würden.

Für die Afghan*innen war das Verhalten Trumps inakzeptabel. Da aber Trump auf der ganzen Welt sowie in den USA selbst verachtet wurde, hofften sie dennoch, dass er Ende 2020 abgewählt und sein Nachfolger die Fehler im Abkommen korrigieren würde.

Der neue Präsident, Joe Biden, beschloss, diese Hoffnungen endgültig zu zerstören. Mit ihm zogen sich die USA auf ihre anfängliche Argumentationslinie zurück: Sie seien lediglich in Afghanistan einmarschiert, um Al Qaida zu bekämpfen und Bin Laden zu töten. Obwohl seine eigene Afghanistan-Experten ihn davon abrieten, beschloss er stur den kompromisslosen Rückzug mit Datumsangabe. Nicht Trump, sondern Biden wurde somit der Verräter in den Augen der Afghan*innen.

In this handout provided by U.S. Central Command Public Affairs, U.S. Air Force loadmasters and pilots assigned to the 816th Expeditionary Airlift Squadron, load passengers aboard a U.S. Air Force C-17 Globemaster III in support of the Afghanistan evacuation at Hamid Karzai International Airport (HKIA) on August 24, 2021 in Kabul, Afghanistan. (Photo by Master Sgt. Donald R. Allen/U.S. Air Forces Europe-Africa via Getty Images)

„Warum muss immer Amerika alle auf der Welt retten?“

In 2008 während des US-amerikanischen Wahlkampfes interviewte ich die Frau eines Farmers im Bundestaat Indiana. Als das Gespräch auf das Thema Irak kam, fragte sie mich, warum alle Völker auf der Welt immer die USA zur Hilfe riefen. Ich konnte ihr nicht erklären, dass im Gegenteil niemand auf der Welt von den USA gerettet werden wollte.

Sie war eine entzückende Person. Wie die meisten US-Amerikaner, die Fremden in den USA begegnen. Doch es gibt eine enorme Diskrepanz zwischen ihrem Verhalten im eigenen Land und im Ausland.

Die Welt hält mittlerweile in Angst den Atem an, wenn Washington Interesse an einem Ort auf der Erde zeigt. Denn wenn US-Soldaten ihr Land verlassen, bringen sie zunächst Tod und Elend – das ist die gemeinsame Erfahrung, die die Welt mit den USA und ihrem „Krieg gegen den Terror“ machte. Erst kommen sie ungebeten zur Hilfe. Wenn sie gehen, gehen sie, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was sie hinter sich lassen.

Es ging erst den Irakern so, deren Staat die US-Armee zerstörte, nur um später abzuziehen, als das Vakuum von radikalen Islamisten von ISIS erfüllt zu werden drohte. Den Kurden in Syrien ging es ähnlich. Sie wurden dem Staatsterror der Türkei überlassen. Und nun Afghanistan.

Der Aufbau-Gedanke, die Idee, die Ursache der Probleme zu bekämpfen, ist ebenso in Misskredit geraten wie das Ansehen der USA. Obwohl es weiterhin notwendig erscheint, wird es in absehbarer Zeit in den westlichen Ländern kaum möglich sein, unter dem Scheitern staatlicher Strukturen leidenden Menschen zu helfen.

Schlimmer noch, es ist zu befürchten, dass der Krieg gegen den Terror, der am 12. September 2001 anfing, noch nicht zu Ende ist. Nicht nur die Reden, die in den USA im 20. Jahrestag der Angriffe gehalten wurden, sondern auch die Entschlossenheit der US-Administration, in Afrika weitere Militäreinsätze zu starten, lassen keine Hoffnung zu.

Cem Sey ist freier Journalist und schreibt für deutsche und internationale Publikationen


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