Dezember 2, 2012

Der Wert Der Vielfalt: Kanadas Immigrations- und Integrationsregime

Rosa Luxemburg Stiftung - New York

Von Oliver Schmidtke – Migration ist kein neues Phänomen – sie ist so alt wie die Menschheit. Aber in einer Welt, in der Waren und Dienstleistungen in immer größerem Umfang und immer schnellerer Geschwindigkeit ausgetauscht werden, hat sich auch die Migration globalisiert. In der kapitalistischen Gegenwart hat sie sich zugleich, dem allgemeinen Trend der neoliberalen Entwicklung folgend, sozial stark ausdifferenziert: Während die Nationalstaaten aus wirtschaftlichen Erwägungen um die privilegierte Gruppe hochqualifizierter Migranten buhlen, stellen sie den Armuts- und Kriegsflüchtlingen immer höhere Hürden entgegen. Auf der Basis dieser Nützlichkeitserwägungen haben sich die Ziele der Einwanderungs- und Integrationspolitik in den OECD-Ländern einander stetig angenähert.

Gleichzeitig haben xenophobische und rassistische Strömungen auf beiden Seiten des Atlantiks in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt Zuspruch erfahren. Viele europäische Länder sehen sich mit dem Aufstieg rechtsradikaler Parteien, die gegen Migranten agitieren, konfrontiert. Aber auch in Nordamerika lässt sich eine – wenn auch nicht parteipolitisch eigenständig organisierte – Zunahme „nativistischer“ Gruppen beobachten.

Trotz dieser Parallelen gibt es mitunter verblüffende Unterschiede in der politischen Praxis. Das gilt für die Möglichkeiten, die Migrantinnen und Migranten eingeräumt werden, legal ins Land zu kommen, aber auch für die integrationspolitischen Konzepte – bis hin zu der Frage, wie Gesellschaften ihren Gemeinschaftsbegriff und den ihm zugrunde liegenden Begriff von Nationalstaatlichkeit bestimmen. In dieser Hinsicht sind die Reaktionen in den klassischen Einwanderungsländern Nordamerikas spürbar liberaler als in Europa. Dies gilt vor allem für Kanada – obwohl die anhaltend starke Einwanderung das Land mit besonders tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert.

Kanada hat sich im letzten halben Jahrhundert von einer durch weiße Siedler geprägten Gesellschaft in eine multikulturelle Gesellschaft verwandelt, die Diversität grundsätzlich bejaht und als Teil des Selbstverständnisses begreift. Diese Transformation steht im Mittelpunkt der Studie von Oliver Schmidtke, Professor für Politik und Geschichte an der University of British Columbia in Victoria, Kanada. Schmidtke zeigt, wie das Land seine Einwanderungs- und Integrationspolitik seit den späten 1960er Jahren grundlegend reformierte. Migration – und Migrationspolitik – wirkten in diesem Sinne zugleich als ein Motor der Modernisierung, auch und gerade mit Blick auf die gesellschaftlich breite Akzeptanz des Multikulturalismus. Sein Fazit: Während europäische Länder durchaus von der kanadischen Migrationspolitik lernen können, gerät dessen relative Liberalität im Zuge des Neoliberalismus immer mehr durch „utilitaristische“, von ökonomischem Nützlichkeitskalkül bestimmte Konzepte unter Druck – bis hin zur Ausweitung eines „Gastarbeiterstatus“ und der abnehmenden Bedeutung menschenrechtlicher Erwägungen.


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