Die Jornada del Muerto ist ein außerordentlich trockener Abschnitt der Chihuahua Wüste, dessen Name sich grob als „Tagesreise des Toten” übersetzen lässt. Die Jornada beschreibt 90 Meilen im Süden des Bundesstaats New Mexico und liegt auf einer Ebene zwischen vier verschiedenen Bergketten. Ihren modernen Namen bekam die uralte Handelsroute, als sie in den Camino Real de Tierra Adentro einbezogen wurde, der als Highway der Spanischen Kolonisierung vom heutigen Mexico City bis nach Santa Fe reichte. Anfang der 40er Jahre wurde eine Stelle im Norden der Wüste für ausreichend desolat befunden, um als Testort für die erste Atombombe eingesetzt zu werden. Die sogenannten „Trinity Downwinders“, die südlich der Jornada lebten und sich nach dem Testgelände benannten, kämpfen bis heute darum, für die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Bombe entschädigt zu werden.
Heute ist die Jornada del Muerto weitgehend frei von den Anzeichen menschlichen Lebens. An einer zentral in der Wüste gelegenen Stelle, am Ende einer schmalen Asphaltstraße, findet sich allerdings eine nennenswerte Ausnahme. Spaceport America ist der „erste zweckgebundene kommerzielle Weltraumhafen der Welt.” Hier hofft man, bis zum Jahr 2026 regelmäßig touristische Flüge in den Orbit starten zu lassen. Hauptmieter von Spaceport America ist Virgin Atlantic, ein Ableger der Virgin Group des Milliardärs Richard Branson. Branson war unter den ersten, die Ende letzten Jahres von hier den Orbit erreicht haben. Branson schlug damit auch seinen Konkurrenten im Weltraum-Rennen der Milliardäre, Amazon-Gründer Jeff Bezos.
An einem wolkenlosen Tag im Frühling wirkt das Hauptgebäude des Spaceports wie eine hypermoderne Muschel, die mit Glas und Lichtern erstrahlt. Ein geplanter Tag der offenen Tür wurde wegen starken Winden abgesagt; ein freundlicher Wachmann in einer militärisch anmutenden Uniform schützt den Eingang. In diesem Moment fühlt sich Spaceport America an wie ein eitles Projekt, untergenutzt und opulent. Im Weltraum selbst sieht es allerdings anders aus.
„Die Menschen glauben, dass All endlos ist,” sagt Timiebi Aganaba, eine Weltraum-Juristin und Mitglied des Open Space Institutes. Doch das Gegenteil ist wahr, erklärt sie: „Der nutzbare Teil ist eine begrenzte Ressource.” Während bemannte Missionen wie die der Milliardäre den Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit bekommen, findet die große Mehrheit aller Raketenstarts im Dienste von Satelliten statt. Diese vermehren sich im Moment auf erstaunliche Art: aus den knapp 4,500 aktiven Satelliten, die derzeit im Orbit sind, könnten innerhalb des nächsten Jahrzehnts bis zu 100,000 werden. Die Mehrzahl dieser Satelliten wird als Teil sogenannter „Mega-Konstellationen” in der erdnahen Umlaufbahn von unter 2000 Kilometern kreisen. Von diesen werden viele mit dem bloßen Auge sichtbar sein und den Nachthimmel künstlich erhellen. Das Tesla-Projekt „Starlink” allein lässt momentan bis zu 60 Satelliten auf einmal starten, mehrmals im Monat. „Alle holen sich, was sie können”, sagt Timiebi Aganaba zum Wettkampf um die Umlaufbahnen. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen stellt Fragen über ihre langfristigen Folgen. „Falls SpaceX alle seiner Satelliten startet, nehmen sie damit die gesamten Umlaufbahnen ein”, sagt Aganaba, die unter anderem mit dem Raumfahrtprogramm von Nigeria gearbeitet hat. „Die Person, die als erstes da ist, darf bestimmen, wie das All genutzt wird. Aus der Perspektive von Entwicklungsländern sehe ich darin ein Problem der Gerechtigkeit.”
Historisch gesehen ist das All schon immer die Domäne von Nationalstaaten und Militär gewesen. Das „Weltraumrennen” zwischen USA und Sowjetunion diente als Bühne für nationalistische Ambitionen und die Wissenschaft. Doch die Verteilung der Macht hat sich mit der größeren Verfügbarkeit von billigen Technologien zum Starten und Bauen von Satelliten verändert. Viele der Sensoren und Mikrochips, die früher exorbitant teuer waren, finden sich heute in einem durchschnittlichen Smartphone. Das Weltall wird, in den Worten Timiebi Aganaba’s, „eine Umgebung mit eine vielen Nutzern”, von Universitäten bis hin zu Forschungsinstituten und den vielen Nationalstaaten, die wegen den hohen Einstiegskosten historisch keinen Zugang hatten.
Das bedeutet aber bei weitem nicht, dass das US-Militär seine Dominanz über das All aufgegeben hat. Ende 2019 etablierte der damalige Präsident Donald Trump die Space Force, einen neuen Flügel des Militärs, der gänzlich dem Orbit und dem All darüber hinaus gewidmet ist. Breit für frühe Fehltritte in der Öffentlichkeitsarbeit und ihre Verbindung zum Ende der Trump-Ära verspottet, war Space Force aber tatsächlich das Resultat von langfristigen Bestrebungen auf beiden Seiten der amerikanischen Parteienlandschaft. Um das zu unterstreichen, erhöhte die Biden Regierung kürzlich den jährlichen Etat der Space Force um weitere 30 Milliarden Dollar.
Die ersten Satelliten wurden parallel zu den Waffen entwickelt, die sie zerstören können. Die Praxis, als Teil von interkontinentalen Raketentests Objekte im Orbit abzufangen, reicht zurück bis in die 50er und 60er Jahre und zu den Anfängen der Raumfahrt. Manche dieser Waffen sind leicht abgewandelte Interkontinentalraketen, umgebaut, um Ziele im Orbit statt auf dem Boden zu zerstören. Andere Waffensysteme werden selbst als Satelliten eingestuft und nähern sich ihren Zielgebieten über die eigene Umlaufbahn. Der russische Satellit Cosmos 2543 wird auch die „Matrjoschka” genannt für ihre Fähigkeit, eine Vielzahl von kleineren Satelliten aus ihrem Korpus abzusetzen, die sich dann unabhängig ihrem Ziel nähern können. Russland, China und die USA experimentieren nachweislich mit sogenannten “Dazzlern,” intensive Licht- oder Laserstrahlen, mit denen sich optische Sensoren und Linsen stören lassen.
Kirtland Air Force Base ist ein Ort, an dem solche Waffen entwickelt werden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut, erstreckt sich die Militärbasis über den Großteil der südöstlichen Grenze von Albuquerque, New Mexico. Obwohl Kirtland Teil von Albuquerque ist, geschieht das meiste hier vollkommen außerhalb des Blicks der Öffentlichkeit. Unter den Programmen der Space Force, die in Kirtland entwickelt werden, befinden sich auch solche für die Entwicklung von Energiewaffen.
Das Personal von Kirtland teilt sich in etwa zur Hälfte in zivile Angestellten und Militärangehörige. Das entspricht der allgemeinen Aufteilung in der neuen Militärorganisation sowie deren Verhältnis gegenüber privaten Firmen. „Vorteile nutzen”, sagt der Oberbefehlshaber der Space Force, General John Raymond, wenn es um die Beziehung zur Privatwirtschaft geht. Die Verflechtung privater und militärischer Interessen reicht von der technischen Entwicklung bis in den Orbit. Viele militärische Satelliten werden nicht auf Raketen der Regierung ihre Umlaufbahnen erreichen, sondern mit SpaceX und Blue Origin, der Raumfahrtfirma von Amazon. Statt eigene Startbasen, Raketen und anderen teure Systeme selber zu bauen, können Objekte der Space Force einfach bei privaten Anbietern mitfliegen. Das kann für die Konzerne immense Profite bedeuten, da sie wegen der empfindlichen Fracht, die sie transportieren, hohe Preise verlangen können. Der Transport einer Ladung der Space Force kann das Doppelte von dem einer nicht-militärischen einbringen.
Die Umwelt zahlt jetzt schon den Preis für Entwicklung im Weltall. Die Raumfahrtbehörde NASA hat über 27.000 einzelne Teile Weltraumschrott identifiziert, die kontinuierlich beobachtet werden müssen. Manche dieser Schrottteile sind Überreste von wissenschaftlichen Missionen, andere stammen von Waffentests. Die Anzahl der kleineren Teile reicht bis in die Hunderttausende. Jedes kann wegen den enorm hohen Geschwindigkeiten, mit denen es sich bewegt, potentiell fatale Konsequenzen für die Raumfahrt haben. Mit Geschwindigkeiten von über 25.000 Kilometern pro Stunde können so alte Raketenteile zu tödlichen Projektilen werden.
Katarina Damjanov, Forscherin und Dozentin an der University of Western Australia hat sich viel mit den Folgen von Weltraumschrott beschäftigt. Ihr Ton wird pessimistisch, wenn sie die neuen Realitäten im Orbit beschreibt. „Ich glaube, wir werden in der nahen Zukunft irgendeine Art von orbitalem Krieg erleben.” Damjanov versteht Firmen wie SpaceX als Teil eines „staatlich finanzierten privaten Sektors”, der ultimativ noch gefährlicher für das Ideal eines offenen Weltalls ist als die Bemühungen staatlicher Akteure, diesen mit Waffen zu füllen.
Die Umwelt zahlt jetzt schon den Preis für Entwicklung im Weltall. Die Raumfahrtbehörde NASA hat über 27.000 einzelne Teile Weltraumschrott identifiziert, die kontinuierlich beobachtet werden müssen. Manche dieser Schrottteile sind Überreste von wissenschaftlichen Missionen, andere stammen von Waffentests. Die Anzahl der kleineren Teile reicht bis in die Hunderttausende. Jedes kann wegen den enorm hohen Geschwindigkeiten, mit denen es sich bewegt, potentiell fatale Konsequenzen für die Raumfahrt haben. Mit Geschwindigkeiten von über 25.000 Kilometern pro Stunde können so alte Raketenteile zu tödlichen Projektilen werden.
Katarina Damjanov, Forscherin und Dozentin an der University of Western Australia hat sich viel mit den Folgen von Weltraumschrott beschäftigt. Ihr Ton wird pessimistisch, wenn sie die neuen Realitäten im Orbit beschreibt. „Ich glaube, wir werden in der nahen Zukunft irgendeine Art von orbitalem Krieg erleben.” Damjanov versteht Firmen wie SpaceX als Teil eines „staatlich finanzierten privaten Sektors”, der ultimativ noch gefährlicher für das Ideal eines offenen Weltalls ist als die Bemühungen staatlicher Akteure, diesen mit Waffen zu füllen.
Nationalstaaten, erklärt Damjanov, „müssen rational genug sein, um nicht alles zu zerstören.” Private Konzerne sind allerdings nicht an die gleichen Werte der internationalen Kooperation gebunden. Obsolete private Satelliten, oder sogar ganze Netzwerke, die als nicht mehr wirtschaftlich eingestuft werden, werden einfach im Orbit bleiben. Firmen sind nicht daran interessiert, Teil einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft zu sein, noch gibt es Regeln, die postulieren, dass irgendwann aufgeräumt wird, was heute ins All startet. „Es ist reiner Profit.” Damjanov vermutet, dass die zunehmenden Konkurrenzen um brauchbare Umlaufbahnen nicht gut enden wird. Sie vergleicht das mangelnde Regelwerk im All mit dem Klischee des Wilden Westens: „Wer wird schon Elon Musk von seinen Starts abhalten?”
Das All ist gesetzlos, und dieser Mangel an Regeln ist für viele Experten der Kern des Problems. Es gibt zwar Vereinbarungen und informelle Abmachungen, „aber es gibt kein spezifisches Dokument, das auslegt, was das Gesetz aus einer neutralen Perspektive ist”, sagt Ram Jakhu. Jakhu beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den legalen Parametern des Alls und leitet ein Projekt mit der Aufgabe, ein Handbuch für militärische Handlungen im All zu erstellen. Das Manual on International Law Applicable to Military Uses of Outer Space, oder „MILAMOS” soll in seiner ersten Auflage in ein paar Wochen erscheinen.
„Es ist ein anstrengender Job,” sagt Jakhu über das Projekt. „Es ist komplex, denn wir beschäftigen uns nicht nur mit dem Gesetz, sondern mit Technologie.” Damit MILAMOS einen Leitfaden für die Nutzung von Waffen im All erstellen kann, muss es oftmals zunächst festlegen, was eine Waffe überhaupt ist. Diese Frage ist besonders im Orbit kompliziert, wo schon ein kleines Stück Schrott großen Schaden anrichten kann. Jakhu ist hoffnungsvoll, dass die Empfehlungen des Projekts letztendlich helfen werden, die Anwendung militärischer Macht zu moderieren. Das Projekt wird zwar aktiv von mehreren Militärangehörigen beobachtet, wird aber nicht die Verbindlichkeit eines Gesetzes haben. Für Jakhu wird sich der Erfolg von MILAMOS eher dadurch messen lassen, wie viel Aufmerksamkeit er für die Probleme von Waffentests und militärischen Konflikten im All erzeugt. „Der Sinn des Projektes ist, der Öffentlichkeit zu zeigen, was auf dem Spiel steht.”
Für Juristinnen wie Jakhu und Aganaba liegt die Zukunft eines offenen Alls an der Durchsetzung legaler Mechanismen – doch diese hängen an der Beteiligung der machtvollsten Teilnehmer. Jakhu erwähnt die aktuelle Erklärung der Biden Regierung, bestimmte Anti-Satelliten Waffen Tests ab nun zu unterlassen als Indiz für den richtigen Willen – zumindest unter Nationalstaaten.
Gespräche über das All können abstrakt wirken, und oft sind sie dicht mit Metaphern gespickt. Everett Dolman, ein führender Stratege der USA für Krieg im Orbit, hat das All mit der hohen See verglichen und eine Militärdoktrin vorgeschlagen, die sich an der Marine orientiert. Damjanov hat sich mit dem All aus der Perspektive der Commons befasst. Neben all diesen Vergleichen ist das All zudem eine Projektionsfläche. Aganaba, die sich selbst als „Weltall-Enthusiastin” bezeichnet, beschreibt ihr Gefühl zur neuen Ära der Raumfahrt als Mischung aus „Sorge und Spannung.”
So sehr sich ihre eigenen Vorstellungen für das All auch untereinander unterscheiden, so waren sich alle Experten, die für diesen Artikel interviewt wurden, über eines einig: Ein orbitaler Krieg wäre eine Katastrophe für das Leben auf der Erde. „Falls es einen Krieg im All gibt, wären die Konsequenzen enorm und ohne Vergleich“, sagt Jakhu. Die Anzahl der Systeme, die teilweise oder gänzlich von Satellitentechnologie abhängig sind, ist schier endlos. Jenseits von Wetterdaten, Kommunikationsdiensten und GPS-Daten sind Satelliten auch wichtige Knotenpunkte im internationalen Bankensystem, in der Stromversorgung, und selbst beim Funktionieren von biometrischen Geräten.
Wegen den katastrophalen Folgen, die ein Trümmerfeld im All haben würde, hätte selbst die Zerstörung von ein paar Satelliten katastrophale Folgen. Dabei verweist Damjanov darauf, dass viele der Waffen, die heute entwickelt werden, Satelliten nicht mehr zerstören müssen, um effektiv zu sein. Eine Manipulation von Satellitendaten ist vielleicht noch effektiver. „Satelliten synchronisieren globale Zeit,” erklärt Damnjanov während eines Zoom-Anrufs aus Australien. „Handys, Computer – die synchronisierte Zeit der Welt läuft über sie.”
Damnjanov erwähnt diese Fragen im Kontext von chinesischen und russischen Vorstößen, eigene Alternativen zum Global Positioning System (GPS) aufzubauen, die jeweils vollständig unter der Kontrolle der Staatsmacht wären. Russland hat bereits bewiesen, dass es dazu fähig ist, GPS Daten, die von Geräten empfangen werden, zu manipulieren, während militärischer Einsätze in Syrien und dem ersten Angriff auf die Ost-Ukraine. In China soll eine geplante Konstellation mit dem vorläufigen Namen „Guowang” bis zu 13.000 Satelliten umfassen und vermutlich unter staatlicher Kontrolle operieren. Ein vollständig isoliertes Satelliteninternet mit seinen eigenen staatlich überwachten Geodaten könnte so die sogenannte “Great Firewall” bis in den Orbit verlängern.
“Information ist Macht”, erinnert Ram Jakhu. Eine unbekannt große Menge Informationen wird nun durch den Orbit übertragen. Die potenziellen Vorteile von über Satelliten übertragenem Internet, wie von Teslas Starlink oder Amazons Kuiper, könnten immens sein. Doch dieses Szenario ruht auf der Annahme, dass diese Firmen mit Nutzerdaten und natürlichen Ressourcen im All verantwortungsvoller umgehen als hier auf der Erde.
In der Jornada del Muerto ist Spaceport America für die Öffentlichkeit geschlossen. Die Internetseite der verspricht „eine raketenfreundliche Umgebung von 6.000 Quadratmeilen eingeschränktem Luftraum”, sowie „ungefähr 340 Tage Sonnenschein und niedrige Luftfeuchtigkeit.” Teile der Baukosten wurden durch eine Sondersteuer finanziert. In Truth or Consequences, dem nächsten größeren Ort, leben fast ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze. Die altehrwürdige und farbenfrohe Innenstadt liegt größtenteils verlassen da. Die Vorteile des Weltraumbahnhofs wirken hier so fern wie die Orte und Personen, die er erreichen und denen er dienen soll.
Johannes Streeck ist freiberuflicher Journalist mit Fokus auf den Südwesten der USA