Interview mit Bernd Riexinger – Am 28. Mai veranstalten das New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Zeitschrift „Jacobin“ ein Gespräch über die Zukunft der europäischen Linken zwischen Bernd Riexinger, Ko-Vorsitzender der Partei DIE LINKE, und Elena Papadopoulou, Strategieberaterin von SYRIZA. Inwiefern beziehen sich DIE LINKE und SYRIZA auf linke Traditionen, und wo brechen sie mit ihnen? In welche Richtung bewegen sich die beiden Parteien und die europäischen Linke insgesamt?
In diesem Interview spricht Bernd Riexinger über die strategischen Herausforderungen, mit denen sich DIE LINKE konfrontiert sieht. Unter Berufung auf Rosa Luxemburgs Idee der „revolutionären Realpolitik” analysiert er die aktuelle Situation und diskutiert strategische Ideen für die Zukunft. Sein Gesprächspartner Luigi Wolf beginnt das Interview mit einem Rückblick auf die „Einheitsfrontstrategie” der KPD der 1920er Jahre; danach thematisiert das Gespräch die gegenwärtigen Herausforderungen, denen DIE LINKE gegenübersteht, und die Frage, wie Kampagnen die Zukunft der Partei prägen können.
Luigi Wolf: Die Einheitsfrontpolitik ist eigentlich das Kernkonzept einer „revolutionären Realpolitik“, wie Rosa Luxemburg das nannte, aber weitgehend vergessen. Ich denke, heute gilt es, sie wiederzubeleben, ohne die Unterschiede zu den 1920er Jahren zu ignorieren. Denn die Einheitsfront war die Antwort einer revolutionären kommunistischen Partei auf die Frage, wie sie zur Massenpartei werden kann. Obwohl DIE LINKE linksreformistisch ist, stellt sich auch für uns die Frage: Wie erreichen wir die Mehrheit? Wie setzen wir uns mit der Sozialdemokratie auseinander? Wie kommen wir aus der Defensive? Wie schaffen wir es, dass solche strategischen Überlegungen – und nicht allein moralische Empörung – zur Triebfeder unseres Handelns werden?
Bernd Riexinger: Man muss die Geschichte genau angucken, gerade weil es viele Unterschiede gibt. Es gab in den 1920er Jahren eine relativ klare Trennung zwischen dem Block der Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien. Diese sind im Kern in den Arbeiterblock kaum eingebrochen. Das ist ein großer Unterschied zu heute, wo oft genauso viele Gewerkschaftsmitglieder CDU wählen wie SPD.
Innerhalb der Arbeiterbewegung selbst gab es zwei Blöcke, KPD und SPD. Ein gravierender Unterschied zu heute ist natürlich auch, dass sowohl die KPD als auch die SPD den Sozialismus propagiert haben – die einen als reformistisches Konzept vom Hineinwachsen in den Sozialismus und die anderen als revolutionäres Konzept.
Das können wir natürlich nicht mit heute vergleichen, auch wenn wir über unsere Parteienkonzeptionen reden. Aber trotzdem lohnt es, sich mit dem Konzept der Einheitsfront zu beschäftigen. Und ich persönlich beziehe mich sehr stark auf die Tradition der KPO,1 die ja Träger des Konzeptes der Einheitsfrontpolitik war und deren wichtigste Vertreter diese Politik in den Jahren 1919 bis 1923 in der KPD erfolgreich angewendet haben. Dadurch konnte etwa auch ein Beitrag zur Abwendung des Kapp-Putsches geleistet werden.2 Das war ja der einzige erfolgreiche Generalstreik in den 1920er Jahren, bei dem im Prinzip dieses Bündnis funktioniert hat. Vor allem wäre aber die Einheitsfrontpolitik eine adäquate Strategie gegen den Faschismus gewesen. Stattdessen hat sich die KPD mit ihrer Sozialfaschismustheorie3 – die sehr viel mit den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion unter Stalin zu tun hatte – völlig isoliert und am Ende sogar eigene Gewerkschaften gegründet. Diese RGO-Gewerkschaften4 haben deutlich weniger Streiks hinbekommen als die Gewerkschaften des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das lag daran, dass sie überwiegend Erwerbslose organisiert hatten.
Frage: Hätte eine alternative Strategie den Faschismus stoppen können?
Riexinger: Natürlich ist weder die KPD noch die SPD direkt dafür verantwortlich, dass es zum Faschismus kam, aber man kann sagen, dass ihre jeweilige Strategie dem Faschismus gegenüber gescheitert ist. Und eine Einheitsfrontstrategie, die ja eine Strategie war, die Einheit unter der Arbeiterklasse herzustellen, hätte gute Chancen gehabt, den Faschismus zu stoppen. Wesentlich an der Einheitsfrontstrategie ist meiner Ansicht nach aber auch, dass neben dem Kampf um Alltagsforderungen, um die herum die Einheit hergestellt wurde, gleichzeitig sogenannte Übergangsforderungen formuliert wurden. Die KPD hat eben in ihren besten Zeiten nicht einfach nur den Sozialismus propagiert. Sondern sie hat Forderungen aufgestellt, die gewisse Elemente einer sozialistischen Gesellschaft plastisch gemacht haben. Die bekannteste Übergangsforderung ist die Forderung nach Produktionskontrolle, also dass die Arbeiter die Kontrolle über die Produktion übernehmen. Also nicht einfach Verstaatlichung durch den bestehenden bürgerlichen Staat, sondern eben die direkte Kontrolle durch die Arbeiter.
Frage: Inwiefern kann man Strategien der KPD von damals auf die heutige LINKE beziehen?
Riexinger: Ich meine, man kann unser Verhältnis zur SPD nicht einfach mit dem der KPD zur damaligen SPD vergleichen. Weder ist DIE LINKE eine revolutionäre Partei, noch kann man die heutige SPD mit der damaligen gleichsetzen. Aber gewisse strategische Fragestellungen lassen sich vergleichen. Zum Beispiel die Fragestellung: Wie beziehen wir uns als LINKE auf SPD-Wähler? Die KPD glaubte, als sie die Theorie des Sozialfaschismus entwickelte, man könnte direkt eine Trennung herstellen zwischen den Mitgliedern und Anhängern der SPD auf der einen und der SPD-Führung auf der anderen Seite. Die Theoretiker der Einheitsfront sind da anders herangegangen. Sie hatten zwar auch das Ziel, die sozialdemokratischen Wähler für sich, also für die KPD zu gewinnen. Aber sie haben festgestellt: Wenn man die SPD-Führung als Sozialfaschisten bezeichnet, treibt man die SPD-Mitglieder und -Anhänger an die Seite ihrer Führung und nicht von ihr weg. Deswegen hatten die Theoretiker der Einheitsfront immer darauf bestanden, die SPD als Gesamtes zu gemeinsamen Aktionen aufzufordern.
Man darf nicht verkennen, dass sich die Basis auch mit ihrer Partei identifiziert, und wenn ich sie insgesamt angreife, tue ich mich schwer damit, gleichzeitig mit ebenjener Basis auf die Straße zu gehen. Dabei ging es natürlich weniger um Fragen der Kooperation in Parlamenten als darum, etwas gemeinsam mit der SPD und den Gewerkschaften im außerparlamentarischen Bereich auf die Beine zu stellen.
Leider waren diese Ansätze außerhalb einer kurzen historischen Phase in der KPD absolute Minderheitenpositionen. Eine Strömung, die sich auf die Einheitsfront bezog, war die KPO. Das ist die historische Traditionslinie, von der ich mich auch heute noch inspirieren lasse. Daneben gab es den trotzkistischen Teil, der ähnliche Ansätze vertreten hat. Aber all diese Strömungen wurden ja ausgegrenzt – zuletzt in der stalinisierten KPD sogar regelrecht verfolgt – und konnten sich leider nicht durchsetzen.5 Damit wurde eine sehr hoffnungsvolle Ausgangssituation verspielt. Zum Beispiel hatte die KPD in Stuttgart, wo ich herkomme, zeitweise auf den Ortsdelegiertenversammlungen der Metallarbeiter die Mehrheit. Es war also durchaus eine Bindung da in den Gewerkschaften, aber das ist vollkommen aufgegeben worden, indem man eigene, „revolutionäre“ Gewerkschaften gebildet hat. Und natürlich kannst du auch nicht mit den sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen auf die Straße gehen, wenn du sie gleichzeitig als Sozialfaschisten beschimpfst. Das ist eine völlige Illusion, und meines Erachtens war das eine ganz wesentliche Ursache davon, dass es zu keinem Generalstreik gegen den Faschismus kam, denn das hätte ja diese Einheitsfront vorausgesetzt.
Frage: Trägt nicht die SPD die Hauptverantwortung für die Schwäche der Arbeiterbewegung nach 1929?
Riexinger: Man kann der SPD sehr viele Vorwürfe machen, und die meisten sind berechtigt. Sie hat Kommunisten aus den Gewerkschaften werfen lassen. Sie hat keinen Generalstreik gegen die Nazis versucht und vieles andere. Aber wir müssen über richtige und falsche Strategien der Revolutionäre von damals sprechen, statt uns darüber zu beklagen, dass die Sozialdemokraten eben Sozialdemokraten sind. Die Kritik an der Sozialdemokratie kann leicht den Blick auf die eigenen Fehler verstellen.
Frage: Du hast gesagt, dass die KPD davon ausgegangen ist, dass sie einen Spaltkeil zwischen Basis und Führung ansetzen kann. Gerade die Einheitsfrontpolitik war aus Sicht der KPD einerseits ein Ansatz, um Auseinandersetzungen um konkrete Forderungen zu führen, und andererseits auch eine Taktik, um gerade die sozialdemokratischen Arbeiter für sich zu gewinnen. Also das Ziel war zwar die gemeinsame Aktivität, aber auch das Anstoßen gewisser Erfahrungsprozesse durch die gemeinsame Aktivität. Wie können wir uns die Einheitsfront als gemeinsame politische Aktivität von Sozialisten und Nichtsozialisten heute vorstellen? Ist das eine gute Taktik für DIE LINKE, an Wähler und Unterstützer der SPD heranzukommen?
Riexinger: Ich würde sagen, dabei geht es nicht nur um Taktik. Dahinter steht die Erkenntnis, dass sich politisches Bewusstsein nicht so sehr über politische Agitation entwickelt, sondern über Erfahrungsprozesse, die bewusst verarbeitet werden. Nicht weil wir die richtigen Forderungen haben, erobern wir die Köpfe der Leute. Und nicht durch Agitation rückt die Gesellschaft nach links. Vielmehr muss linke Politik immer, wenn es emanzipatorische Politik sein soll, auf die Selbsttätigkeit und Selbstemanzipation der Menschen setzen und nicht auf eine Stellvertreterpolitik. Sie muss die Menschen ermächtigen, sich für ihre Interessen selbst einzusetzen und auch Politik als etwas zu verstehen, das sie nicht nur selbst betrifft, sondern wo sie auch selbst Akteure sind. Wir wollen, dass die Menschen die Subjekte der Politik sind und nicht die Objekte, die wir zu irgendetwas hinbringen wollen.
Frage: Wie soll das konkret aussehen, wenn Menschen in einer politischen Auseinandersetzung zu Subjekten werden?
Riexinger: Das entsteht hauptsächlich daraus, dass Menschen, die mit uns gemeinsam in Streiks oder auf Demonstrationen gehen oder sich für bestimmte Sachen aussprechen, Erfahrungen machen, die sie auch entsprechend auswerten. Ein hohes Ziel der Politik ist es, dass man Erfahrungen macht. Wenn man es mal historisch sieht, formieren sich die Menschen erst in Klassenauseinandersetzungen zu politischen Subjekten – also wenn Leute anfangen, sich für ihre Interessen einzusetzen. Dabei müssen wir uns als Linke nützlich erweisen, indem wir die Kämpfe, die wir führen, verantwortungsbewusst, aber auch konsequent betreiben. Es kommt darauf an, solche Erfahrungsprozesse zu organisieren. Das muss auch Teil jeder Kampagne und jeder Auseinandersetzung sein.
Die Einheitsfrontstrategie war in hohem Maße ein geeignetes Instrument, an der Erfahrung anzusetzen. Dabei geht man davon aus, dass in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen oder im Kampf gegen Sozialabbau durchaus die sozialdemokratisch orientierten Menschen die gleichen Interessen haben wie die Linken – oder wie damals die Kommunisten. Wir müssen in der Praxis schauen, wie wir einen gemeinsamen Kampf hinbekommen. Das scheint mir auch für heute wichtig und nicht nur eine Frage im Verhältnis zur SPD zu sein.
Frage: Geht es also heute nicht mehr darum, die SPD zu entlarven?
Riexinger: Das vielleicht auch. Aber im Kern geht es darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach links zu rücken. Bekommen wir die Leute in den Kampf? Sind sie Akteure und bewegen etwas? Schaffen sie es, dass ihre Partei, also die SPD, dort mitmacht? Haben sie die SPD nach links getrieben? Schaffen sie es nicht, kommen sie in einen Widerspruch zur SPD – aber in einen positiven Widerspruch. Das ist ein Widerspruch, in dem Menschen ihre Interessen formulieren und auch bereit sind, für diese zu kämpfen und dann Parteien danach beurteilen, ob sie ihnen dabei helfen oder nicht.
Frage: Gilt das auch für die Arbeit in den Gewerkschaften?
Riexinger: Ich denke schon. Ich habe noch nie etwas davon gehalten, dass linke Gruppen die Gewerkschaftsführungen immer beschimpfen. Denn egal, was die Führung macht: Die Mitglieder der Gewerkschaften müssen sich emanzipieren und selbst für ihre Interessen kämpfen, damit sie begreifen, dass Gewerkschaften ein Zusammenschluss der Lohnabhängigen sind, und anfangen, ihre eigenen Forderungen und ihre eigenen Strategien und Kämpfe zu entwickeln. Dann werden sie sehen, ob die Gewerkschaftsführungen sie dabei unterstützen oder ob sie in einen Widerspruch zu ihnen geraten. Das geschieht aber nur, wenn sie kämpfen, und nicht durch Agitation.
Frage: Wie war das in deiner Zeit als Geschäftsführer von ver.di Stuttgart bis 2012?
Riexinger: Wir hatten in Stuttgart in den von uns geführten Streiks heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaft. Aber die haben die Linken nicht stellvertretend geführt. Die Kollegen haben selber gesagt, was sie machen wollen und dann kamen auch Widersprüche auf, weil manche Belegschaften oder Belegschaftsteile in der Streikauseinandersetzung weiter waren als andere. Die Kollegen mussten auf einmal denken wie Leute, die diesen Streik wirklich selbst führen. Das zu erreichen, ist für mich ein Grundprinzip linker Politik.
Frage: Kannst Du von deinen Erfahrungen in Stuttgart noch mal ausführen, wie die von Dir benannten Lernprozesse in sozialen Auseinandersetzungen konkret aussehen können?
Riexinger: Unsere Handlungsmaxime war immer, dass die Streikenden das Subjekt des Streiks sind und keine geführte Masse. Die streikenden Beschäftigten sollten in der Lage sein, selbst Entscheidungen zu fällen. Wir hatten an jedem Streiktag demokratische Foren in Form von Streikversammlungen. Das war für sich schon eine Emanzipation und das kann man auf alle politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen übertragen. Die Führung vor Ort war natürlich nicht nur Moderator, sondern auch Partei. Das waren diejenigen Kräfte, die das am entschiedensten mit vorangetrieben haben. Man konnte in all diesen Streiks sehen, dass die Kampfkraft durch diesen Prozess in fast jedem Bereich in Stuttgart erheblich erhöht wurde. Jetzt höre ich, dass bei den Journalisten die Stuttgarter gerade wieder die einzigen sind, die gestreikt haben. Dieses Konzept hat also die Stadt erobert und auch in Bereiche hineingewirkt, in denen man es vor einigen Jahren nicht gedacht hätte. Das wurde im öffentlichen Dienst begonnen, ist im Einzelhandel weitergeführt worden und hat nach und nach alle Bereiche erfasst. Und jetzt wurde dieses Konzept teilweise auch in anderen Städten während der Streiks im Einzelhandel übernommen.6
Frage: Trotzdem waren die Ergebnisse der Streiks manchmal unbefriedigend.
Riexinger: Das stimmt. Aber die Streikenden haben sich immer selber Gedanken über die Strategie gemacht und über das Ergebnis. Am Ende hieß es immer: Wir hätten eigentlich lieber weiter gemacht und hätten nicht diesen Kompromiss akzeptieren müssen. Natürlich haben sie dann abgewogen, wo die Ursachen liegen, warum der Kampf nicht weitergeführt wurde.
Die Streikenden können dann schon erkennen, ob es ein Kompromiss ist, der die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit ausdrückt, oder ob es ein fauler Kompromiss ist. Ist es ein fauler Kompromiss, muss man ihn kritisieren. Ist alles ausgereizt worden, dann drückt es das Kräfteverhältnis aus. Das ist für die Streikenden ein großer Unterschied. Das können die Streikenden selbst beurteilen, wenn sie der eigentliche Akteur sind. Es geht also immer auch darum, eine Demokratisierung der Bewegung und einen Emanzipationsprozess zu befördern und nicht die politische Auseinandersetzung an den Apparat zu delegieren.
Frage: So wie Du linke Politik hier beschreibst, steht im Zentrum die Aktivierung von Menschen. Gerade in unserer Partei habe ich aber manchmal das Gefühl, dass linke Politik eher in „Programmismus“ besteht.
Riexinger: Ich würde es „Papierismus“ oder „Broschürismus“ statt Politik nennen.
Frage: Ich meine, dass es in der Partei die Vorstellung gibt, einer möglichen Anpassung an Rot-Grün entgegenzutreten, indem man immer die Forderungen hochhält, die uns von Rot-Grün unterscheiden und die Alleinstellungsmerkmale darstellen.
Riexinger: Ich denke, dass das von einem verkürzten Politikbegriff herrührt. Zwar sind Programmdiskussionen und das Auflisten von programmatischen Alleinstellungsmerkmalen gegenüber SPD und Grünen für Wahlen nützlich. Doch ich glaube, dass wir ein gesellschaftliches Projekt brauchen und uns die Mühe machen müssen, so ein Zukunftsprojekt zu entwickeln. Das kann aber nur als kollektiver Prozess entstehen und nicht dadurch, dass sich ein paar Leute hinsetzen und sagen, jetzt machen wir das mal. Es entsteht auch immer vor dem Hintergrund von sozialen Kämpfen und Bewegungen. Theorie ist nichts Losgelöstes, sondern etwas, das unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfindet.
Leider diskutieren wir in der LINKEN – und das ist Teil des verkürzten Politikbegriffs – viel zu wenig darüber, wie sich gesellschaftliche Wirklichkeit verändert. Ich meine, es geht nicht nur darum, Dinge in ein Programm zu schreiben und Forderungen zu entwickeln. Der eigentlich wichtige Prozess ist, für diese Forderungen gesellschaftliche und politische Kämpfe anzustoßen. Deswegen müssen wir den Begriff „Partei“ weiterdenken als eine rein parlamentarische Organisierung.
Frage: Wie meinst du das?
Riexinger: Wenn man es ernst nimmt, dass DIE LINKE nicht nur parlamentarische Funktionen hat, sondern auch außerparlamentarische, dann muss man Forderungen entwickeln, die Gewerkschafter, die SPD und vielleicht auch die Grünen mittragen. Das Revolutionäre dabei ist, dass für diese Forderungen tatsächlich Leute auf die Straße gehen. Das geschieht zum Teil im gewerkschaftlichen Bereich, aber im politischen Bereich haben wir da ungeheuer wenig. Wenn man über außerparlamentarische Bewegungen redet, wird immer über Blockupy gesprochen, was ich tatsächlich für ein gelungenes Beispiel linker Politik halte. Aber das sind vielleicht 25.000 Menschen. Das ist weit davon entfernt, irgendwie hegemonial zu werden.
Frage: Wie kann denn die DIE LINKE politische Positionen „hegemonial“ machen?
Riexinger: Ich glaube, dass wir, wenn wir über Aufbau und Politik der LINKEN reden, genau diesen Aspekt viel stärker diskutieren müssen. Die LINKE ist eine Partei mit über 60.000 Mitgliedern. Sie muss in die Lage kommen, im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Kräften für eine Veränderung der Gesellschaft Kämpfe und Auseinandersetzungen zu organisieren. Das gehört meines Erachtens zu einem modernen Begriff der Einheitsfront, aus dem wir bestimmte Dinge ableiten im Verhältnis zur SPD und zu sozialdemokratisch denkenden Leuten, die es ja bis in die CDU hinein gibt. Wir brauchen Forderungen und Positionen, die uns in die Lage versetzen, mit diesen Leuten in eine gesellschaftliche, politische Auseinandersetzung zu kommen. Das bedeutet aber, dass wir nicht nur sagen, dass 83 Prozent für einen gesetzlichen Mindestlohn sind, sondern dass von den 83 Prozent auch nennenswerte Teile sagen, wir sind bereit, dafür auf die Straße zu gehen. Deswegen geht es nicht nur darum, Forderungen zu entwickeln, die uns unterscheiden, sondern auch Forderungen zu entwickeln, die uns zusammenschweißen. Also es ist einfach schlau zu sagen, dann bringen wir die Forderung aus dem Wahlprogramm der SPD ein und die können wir dann sofort abstimmen. Dann haben wir nicht 10 Euro Mindestlohn, aber wir hätten mal 8,50 Euro. Da können wir die Widersprüche sichtbar machen. Aber noch wichtiger wäre, dass die Leute sich für den Mindestlohn selbst mobilisieren.
Frage: Was steht denn einem solchen Politikverständnis, einer Orientierung auf Durchsetzungskämpfe eigentlich im Wege? Einerseits wäre da ja DIE LINKE gefragt, nicht nur Forderungen zu stellen, sondern auch Mobilisierungen für die Durchsetzung von Forderungen selbst anzustoßen. Aber ganz wesentlich hängt das doch von den Entscheidungsprozessen in den Gewerkschaften ab. Hätte ver.di jetzt gesagt: Egal ob 8,50 Euro oder 10 Euro, für 8,50 Euro hätten wir jetzt eine parlamentarische Mehrheit, es ist ja noch keine Regierung im Amt.7 Wir schreiben alle Parteien an, die für 8,50 Mindestlohn sind, laden sie zu einer Pressekonferenz ein und dann machen wir am Tag der Abstimmung einer Gesetzesvorlage eine Großdemonstration…
Riexinger: …oder wenigstens überall lokale Aktionen vor den Wahlkreisbüros der SPD. Oder als Minimum könnte jede ver.di-Ortsverwaltung und jede Betriebsgruppe einen Brief an den örtlichen SPD-Abgeordneten schreiben. Also der Gedanke ist ganz richtig, jetzt außerparlamentarisch die SPD unter Druck zu setzen. Ich habe in ver.di auch vorgeschlagen, so etwas zu machen. Ein paar linke ver.di-Bezirke hätten da viel in Bewegung setzen können, wenn sie koordiniert gehandelt hätten. Ich habe auch ver.di Stuttgart darauf angesprochen: Initiiert doch jetzt eine gewisse Bewegung! Wir haben eine Mehrheit für einen Mindestlohn, wir haben eine Mehrheit für andere Dinge. Setzt das um! Wenn das aus dem gewerkschaftlichen Lager käme, hätte die Rot-Rot-Grün-Debatte einen ganz anderen Charakter als jetzt, wo sie nur als Regierungsoption und medial stattfindet.
Frage: Aber das setzt doch voraus, dass DIE LINKE auch eine Gewerkschaftsstrategie hat, wenn sie in den Gewerkschaften eine solche Mobilisierung vorschlagen können will.
Riexinger: Nicht nur eine Gewerkschaftsstrategie, im Kern müssen wir in jedem politischen Feld versuchen, unsere Verankerung in der Gesellschaft in Aktivität umzusetzen. Dazu gehören ganz maßgeblich die Gewerkschaften, die außerparlamentarischen Bewegungen, aber auch die Kommunalpolitik. Wir haben doch im kommunalen Bereich eine wirkliche außerparlamentarische Bewegung gegen Privatisierung und für Rekommunalisierung. Es gab viele erfolgreiche Bürgerbegehren gegen die Privatisierung von Krankenhäusern. Es ist ganz untergegangen, dass es am 22. September 2013 einen Volksentscheid in Hamburg gab. Obwohl SPD und CDU dagegen und nur DIE LINKE, die Grünen und eine Bürgerbewegung für die Rekommunalisierung der Energienetze waren, stimmte die Mehrheit dafür. Das nenne ich „hegemoniale Politik“. Man hat eine Mehrheit der Leute nicht nur „meinungsmäßig“ gewonnen, sondern sie sind zumindest auch hingegangen und haben dafür abgestimmt. Natürlich könnte man sich das noch ein bisschen weiter denken. Politische Hegemonie kann heißen, Zustimmung zu den bestehenden Verhältnissen zu erreichen. Das ist der Hegemoniebegriff der Herrschenden. Bei der Linken heißt es, Meinungsführerschaft zu übernehmen bei der Ablehnung dieser Verhältnisse oder bei der Durchsetzung eigener Positionen. Das heißt aber, nicht nur Meinungsumfragen zu dominieren, sondern das auch in hegemoniale Politik umzusetzen.
Meine Leitlinie als Gewerkschaftssekretär in Stuttgart war es immer, Hegemonie anzustreben. Ich will in der politischen Auseinandersetzung eine Mächtigkeit entwickeln, die uns in die Lage versetzt, etwas abzuwehren oder etwas durchzusetzen. Ich glaube, mit diesem Begriff müssen wir uns als LINKE stärker auseinandersetzen. Antonio Gramsci hat ja analysiert, dass Herrschaftsverhältnisse über ganz viele Dinge zementiert werden und nicht nur durch Autorität oder Polizei. Er hat versucht, einen Hegemonie-Begriff für linke Politik zu entwickeln. Das müssen wir mit einbeziehen.
Für unsere Kampagnen heißt das, dass diese erstens sehr viel langfristiger angelegt sein müssen und auch über Jahre gehen können und dass sie das Ziel haben, zumindest in einzelnen Punkten auch gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, indem wir bestimmte Dinge durchsetzen. Der Mindestlohn ist ein Beispiel, bei dem es vielleicht jetzt gelungen ist, im Bündnis mit Gewerkschaften und anderen eine Meinungsführerschaft herzustellen und wo es eine gewisse Chance gibt, dass er eingeführt wird. Natürlich kann man solche Kampagnen auch bei der Verteilungsfrage machen, die ich für ganz wesentlich halte. Aber die große Schwäche der Kampagne UmFAIRteilen ist meiner Meinung nach, dass sie überhaupt kein Durchsetzungskonzept hat.
Frage: UmFAIRteilen ist doch ein klassisches Beispiel für eine politisch ganz gut gemachte, aber eigentlich als reine PR-Aktion angelegte Kampagne. Da gibt es doch keine Strategiediskussion und eben keine Durchsetzungsperspektive. Da sind doch die Volksbegehren und Volksentscheide anders gelagert. Hier gibt es ja oft Minderheiten aus SPD und Grünen, die aktive Träger der Volksbegehren sind. Das heißt aktivistische Minderheiten entwickeln gemeinsam über den Volksentscheid eine Erfolgsperspektive. Das ist ja vielleicht ein wesentlicher Aspekt auch der Einheitsfrontpolitik, dass sie eben eine echte Erfolgsperspektive beinhaltet, dass also die Mobilisierungsmotivation auch daher kommt. Wie kann eine solche Durchsetzungsstrategie, eine Erfolgsperspektive in anderen Bereichen überhaupt entstehen?
Riexinger: Man darf das Instrument der Volksabstimmung nicht geringschätzen. Es gibt verschiedene politische Instrumente, die man einsetzen kann, und die Volksabstimmung ist eines davon. Wenn sie zum Erfolg führt, ist das auch eine Art der Einheitsfrontpolitik.
Aber natürlich spielen Streiks eine große Rolle. Die Niedriglohnpolitik drängt immer mehr Menschen an die Grenze der Armut, zum Beispiel Erzieherinnen und Verkäuferinnen. Diese Menschen sind nicht der klassische Industriearbeiter, aber sie haben sich in den letzten Jahren erheblich bewegt. Das ist ein wichtiges Aufgabenfeld für DIE LINKE, weil es im öffentlichen Dienst und auch in vielen anderen Bereichen immer auch gleichzeitig um politische Regulierung geht und es grundsätzlich sinnvoll wäre, diese ökonomischen Auseinandersetzungen auch zu politisieren.
Es ist kein Zufall, dass Frauen jetzt in deutlich größerer Zahl DIE LINKE wählen als vor einigen Jahren und dass weibliche Gewerkschaftsmitglieder öfter die LINKE wählen als männliche. Ich stelle die These auf, dass das sehr viel mit den Kämpfen der letzten zehn Jahre zu tun hat und dass in den eben genannten Bereichen ein gewisser Bewusstseinsprozess stattgefunden hat, der zwar nicht immer so läuft, wie wir uns das vorstellen, aber kontinuierlich.
Privatisierung und Rekommunalisierung haben nicht nur etwas mit Bürgern oder Einwohnern zu tun, sondern auch immer mit den Beschäftigten der jeweiligen Betriebe. In Stuttgart haben wir die Privatisierungen in einem Bündnis der Beschäftigten mit den Einwohnern verhindert. Und die Beschäftigten waren der aktivere Teil und haben das Bündnis gegründet. Gesellschaftliche Fragen sind mit betrieblichen Kämpfen und Auseinandersetzungen durchaus verknüpfbar. Und weil das politische Prozesse sind, wäre es eine Aufgabe der LINKEN, diese Verknüpfungen herzustellen.
Frage: Welche Themen wären noch denkbar?
Riexinger: Zum Beispiel die Verteilungsfrage. Das wird von den Bürgerlichen jetzt bewusst als Steuererhöhung diskutiert. In Wirklichkeit geht es aber um die öffentliche Daseinsfürsorge und um die öffentliche Infrastruktur.
Wenn wir die Frage stellen, ob wir Geld von den Reichen brauchen, damit wir Kindertagesstätten ausbauen oder Brücken und öffentliche Verkehrswege bauen können und ähnliche Dinge, bekommen wir überall eine Mehrheit. Diese Verbindung herzustellen, aber auch zu sagen, dass darum jetzt ein gesellschaftlicher Kampf geführt werden muss, das ist auch etwas, was DIE LINKE in die Gewerkschaften hineintragen muss. Die SPD behauptet zu Unrecht, man könne sozialen Fortschritt erreichen, ohne Reichtum umzuverteilen. Das bedeutet Wahlbetrug und eine weitere dramatische Verschlechterung im gesellschaftlichen Leben. In dieser Situation sollten wir eine Kampagne zu den Kommunalwahlen nicht allein als Wahlkampagne machen, sondern diese verbinden mit einer Kampagne um die öffentliche Daseinsfürsorge und diese wiederum verbinden mit der Vermögensteuer und mit der Frage, ob Reichtum besteuert werden muss.
Und dann muss jede Kampagne einfach einen Gegner haben. Es gibt ja dieses Bild von dem berühmten US-amerikanischen Organizer Saul Alinsky:8 Wenn du eine erfolgreiche Kampagne machen willst, bestimme deinen Gegner, nagele sein Bild an die Wand und schieße dich darauf ein. Also du musst auch wissen, gegenüber wem du das denn durchsetzen willst, was du forderst.
Ein gutes Beispiel dafür sind die Grünen. Sie mussten im Bundestagswahlkampf eine Kampagne der Wirtschaftsverbände und vieler Medien gegen ihr Steuerkonzept über sich ergehen lassen. Das Umverteilungskonzept der Grünen war sehr bescheiden. Trotzdem wurden sie in Grund und Boden gesendet und geschrieben. Das zeigt, wie wenig man mit Rot-Rot-Grün durchsetzen kann, wenn man das Außerparlamentarische nicht mitdenkt. Was wäre erst los, wenn unser Umverteilungskonzept ernsthaft Gegenstand von Auseinandersetzungen wäre. Was auf den ersten Blick wie eine parteipolitische Auseinandersetzung aussieht, wäre auf einmal eine richtige Klassenauseinandersetzung, bei der die Reichen mit allen Mitteln gegen den Umverteilungsprozess kämpfen. Zu glauben, wir könnten das ohne außerparlamentarische Mobilisierung durchstehen, ohne dass eine gesellschaftliche Bewegung das trägt, ist pure Illusion.
Frage: Der Mangel an strategischen Diskussionen hängt doch auch damit zusammen, dass in solchen Diskussionen die „sozialen Bewegungen“ oft eine leere Formel sind. Das kostet ja auch nichts, wenn man sagt zusammen mit den sozialen Bewegungen machen wir dies oder jenes. Im Zweifelsfall heißt es dann, dass man als LINKE als Solidaritäts-Onkel auf eine Streikkundgebung geht und dort einen Redebeitrag hält und ein Soli-Flugblatt verteilt. Ich will darauf hinaus, dass das Politikkonzept, was du beschreibst, auf eine interventionistische Herangehensweise hinausläuft, und zwar sowohl in Bezug auf die Gewerkschaften als auch auf das soziale Bewegungsmilieu. Denn bei Blockupy zum Beispiel gibt es keine wirkliche Strategie, wie der Slogan „Widerstand im Herzen des Krisenregimes“ an den Alltagskämpfen ansetzen soll. Und ich finde, das bedeutet ja, dass wir auch den Bewegungsaktivisten einen Vorschlag machen müssen, an welchem Punkt eine Zuspitzung möglich sein kann und an welchem Punkt wir sagen können: Hier gibt es einen Gegner, den wir an die Wand nageln können, auf den wir uns einschießen können. Da gibt es ein Volksbegehren, das wir gewinnen können, da gibt es einen Streik, der kann eine gesellschaftliche Dynamik in Gang setzen. Und es scheint mir, dass wir als LINKE, vor lauter Wahlen, die wir immer machen müssen, diese Diskussion gar nicht richtig führen können.
Riexinger: Ja, das stimmt. Das kommt daher, dass man Bewegungen nicht einfach machen kann. Bewegungen entstehen anhand vorhandener Widersprüche. Wo sie sich entladen und wo sie sich herausbilden, kann man nicht vorherbestimmen. Schon gar nicht kann das DIE LINKE mit ihren bescheidenen Mitteln. Aber was wir schon tun könnten, ist ein bisschen mehr Analysearbeit zu leisten, wo gesellschaftliche Widersprüche vorhanden sind, an denen sich überhaupt etwas entzünden kann, und sich zu denen zu verhalten. Da gibt es ja durchaus positive Beispiele, wie die Aktionen zur Rekommunalisierung in Berlin und Hamburg, bei denen DIE LINKE richtig reagiert hat. Parteientwicklung heißt auch, dass Erfahrungen in solchen Bewegungen und sozialen Kämpfen gemeinsam ausgewertet werden und so in das kollektive Verständnis der Partei eingehen. Davon sind wir weit entfernt. Wir haben viel zu viele Glaubenssätze, die wir immer austauschen, und viel zu wenig Diskussionen über vorhandene Widersprüche und über vorhandene Erfahrungen, die auch einfließen in die Partei. Das wäre eine ganz wichtige Aufgabe. Genauso müssen wir lernen, dass Kampagnen niemals als Top-Down-Kampagnen funktionieren. Wir können nicht einfach beschließen: Jetzt machen wir eine Kampagne, und dann machen das alle.
Die Leistung der Zentrale muss es sein, diese Erfahrungen zu kommunizieren und das immer wieder zu bündeln. Vor Ort kann das ganz vielfältig sein, aber wir müssen dann immer wieder zum Beispiel gemeinsame Aktionstage für alle haben. Zudem muss es eine richtig gute Kommunikation nach Innen geben. Die Mitglieder müssen sehen, dass sie nicht alleine stehen, sondern, dass 30, 40, 50 andere Kreisverbände oder auch andere Organisationen mitmachen. Dann kann es Kraft entfalten.
Frage: Wie kann denn DIE LINKE so etwas lernen?
Riexinger: Man kann sich Kampagnen in anderen Ländern angucken, die erfolgreich waren. Oder man kann die Schlecker-Kampagne heranziehen, die überhaupt nicht von oben, sondern an ein paar dezentralen Stellen entwickelt worden ist und dann einen Schneeballeffekt ausgelöst hat. Da waren auch Akteure dabei, die so eine Kampagne verallgemeinern konnten. Diese Fähigkeiten müssen wir natürlich entwickeln. Aber es muss erst einmal das Bewusstsein entstehen, dass Kampagnen gesellschaftliche Wirklichkeit verändern müssen. Kampagnen haben immer zwei Ziele. Das eine ist: Jede Kampagne ist immer eine Bewusstseinskampagne. Das heißt, sie muss ein klares Problem aufgreifen, klare Forderungen stellen, klare Ziele haben, und darüber muss es im positiven Sinn ein Element der Aufklärung geben. Wenn dann eine Kampagne gut ist, muss sie auch Druck aufbauen, also in eine Druckkampagne übergehen. Politischer Druck bedeutet auch, dass er sich gegen jemanden richten muss: gegen die Regierung, gegen die Arbeitgeberverbände, gegen jemanden vor Ort. Das ist meines Erachtens auch die Schwäche von UmFAIRteilen. An wen erheben wir denn die Forderungen, sofern sie überhaupt stehen? Also gegenüber wem sollen die jetzt durchgesetzt werden?
Das muss einfach klar sein. Deswegen brauchen wir auch mehr Vorbereitungszeit für Kampagnen und müssen die zum Teil länger anlegen. Nur weil man ein Hochglanzflugblatt schreibt und das überall verteilt, ist das noch keine Kampagne. Ich glaube, die Kampagnenfähigkeit der Partei muss zuerst noch entwickelt werden, und die entwickelt man natürlich über Kampagnen selbst.
Frage: Hat denn DIE LINKE, wenn man den von dir hier entwickelten Maßstab ansetzt, überhaupt jemals eine richtige Kampagne durchgeführt?
Riexinger: Keine bundesweite. Regionale Kampagnen schon.
Frage: Wie bekommen wir das denn hin in der Partei eine Kampagnentradition zu entwickeln, die Kampagnen mit so einer Zielstellung formuliert? Die Dynamik von Parteivorständen und Parteitagen ist doch die: Es werden immer irgendwelche Grundsatzdokumente beschlossen, in denen alle ihre Themen drin haben wollen, immer allgemein deklaratorische Dokumente, bei denen auch alle immer sagen: Das fehlt noch, das fehlt noch, das fehlt noch…
Riexinger: Das ist der erste Fehler.
Frage: Und dann wollen die einzelnen Fachpolitiker und Fachkreise da alle ihre Sachen unterbringen. Wie bekommen wir es als LINKE hin, eine Strategiediskussion in Gang zu setzen, bei der wir an den Widersprüchlichkeiten ansetzen, auf durchsetzbare Ziele orientieren und auf eine Langfristigkeit?
Riexinger: Erstens muss klar sein: Kampagnen leben davon, dass sie wenige Forderungen haben, die tendenziell durchsetzbar sind. Es ist nicht gesagt, dass man sie durchsetzt; aber Forderungen zu stellen, bei denen man schon vorher weiß, dass man sie nicht durchsetzen kann, weil man keine Mittel dazu hat, führen zu keiner Kampagne. Man muss sich bei Kampagnen reduzieren und sich viele Gedanken machen, was die Forderungen sind.
Das zweite ist: Ich glaube, dass schon bei der Entwicklung einer Kampagne die Akteure mit einbezogen werden müssen. Es ist eben nicht so, dass der Parteivorstand einfach eine Kampagne beschließt und sie dann durchstellt. Bei ver.di habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kampagnen mit verschiedenen Betrieben oder Fachbereichen immer mit einem Kampagnen-Workshop begonnen haben, bei dem alle Akteure dabei waren. Die haben selber gesagt, was ihre Probleme und Forderungen sind, wie der Slogan der Kampagne lauten soll, was die ersten Schritte sein müssten und eine Sammlung von möglichen Aktivitäten gemacht. Wenn man das übersetzt auf die Kreis- und Landesverbände, brauchen wir viel mehr Zeit zur Konzeption einer Kampagne. Nur das, was die Leute selber mitentwickelt haben, machen sie auch. Man muss da ein bisschen mehr auf die Dynamik von unten setzen.
Das ist natürlich eine Methode, die man in der LINKEN erst erlernen muss. Deswegen laufen ja auch die örtlich begrenzten Kampagnen viel besser als die zentralen. Da hat man das Konkrete, zum Beispiel Rekommunalisierung. Man hat klare Bündnispartner und man hat einen klaren Ansprechpartner oder Gegner, an den man die Forderung richtet. Das sind alles Voraussetzungen, um eine Kampagne zum Erfolg zu führen. DIE LINKE beteiligt sich ja zum Teil auch an Bündnissen, in denen das läuft. Ich finde aber, die Partei könnte auch ein bisschen selbstbewusster ein Motor für Kampagnen sein und sich nicht einfach nur Bündnissen anschließen, sondern selbst aktiver Part und ein tatsächlicher Motor werden.
Frage: Wo siehst du da Schwerpunkte für die nächste Zeit?
Riexinger: Wir werden jetzt mit dem Parteientwicklungskonzept vorschlagen, dass man zwei bis drei Kampagnen für die nächsten zwei, drei Jahre ansetzt, also über einen längeren Zeitraum.9 Meiner Meinung nach sollten die Fragen nach der Verteilung und der öffentlichen Daseinsfürsorge das erste Thema sein, das ja auch in die Alltagspolitik mit einbezogen werden kann. Das zweite wäre, dass wir einen grundsätzlichen Kampf gegen die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse führen müssen. Das heißt, diese Frage muss eigentlich zu einer ganz universellen Frage gemacht werden. Wir müssen ganz bewusst sagen, dass wir keine Gesellschaft akzeptieren, die Millionen von Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt und sie von der gesellschaftlich gleichberechtigten Teilhabe ausgrenzt.
Das dritte Thema ist sicher Europa, nicht nur wegen der Europawahlen, sondern auch, weil hier wirklich ein hegemoniales neoliberales Konzept existiert, das sich durchgesetzt hat, in voller Konfrontation zu einem linken und fortschrittlichen Konzept. Diese drei Dinge muss man meines Erachtens angehen und zwar relativ zügig und so, dass wir kurzfristig in der Lage sind, etwas aufzubauen.
Aber das darf nicht bei der Kommunalwahl oder der Europawahl enden, sondern muss im Horizont deutlich weiter gehen. ATTAC hat es nie geschafft, eine Transaktionssteuer durchzusetzen, aber sie haben es geschafft, dass eine Forderung, die am Anfang nur eine kleine Zahl von Leute vertreten hat, heute gesellschaftlich mehrheitsfähig ist, allerdings erst nach mehr als 15 Jahren.
Frage: Wie wichtig ist die parlamentarische Arbeit in deinem Konzept für DIE LINKE?
Riexinger: Ich sehe die Partei als einen gesellschaftlichen Akteur und nicht nur als parlamentarische Vertretung. Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft oder überhaupt gesellschaftliche Verhältnisse ändern sich nicht allein im Parlament. Ich zitiere da immer gerne Kurt Tucholsky: „Die SPD meinte, sie wäre an der Macht, dabei war sie jedoch nur an der Regierung.“
Gesellschaftliche Verhältnisse ändern sich eben ganz stark durch eine Veränderung der Basis der Gesellschaft: in der Ökonomie, im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Kapital, in der Frage, ob demokratische Rechte vor Ort erkämpft werden können und vielem anderen mehr. Das sind Ansätze, um die gesellschaftlichen Verhältnisse nach links zu rücken.
Wenn man das machen will, muss man als Partei immer einen ganzheitlichen, gesellschaftlichen Ansatz haben. Man darf nicht nur in kurzfristigen Wahletappen denken. Natürlich müssen wir Wahlen gewinnen. Auch das gehört zum Charakter einer politischen Partei, dass sie Wahlkämpfe vorbereiten und Wahlen gewinnen kann. Wenn sie das nicht mehr kann, wird sie auch die anderen Aufgaben nur noch eingeschränkt wahrnehmen können. Aber in ihrer politischen Konzeption muss sie alle Teile mitdenken und in allen Teilen eine politische Handlungsfähigkeit entwickeln. Sonst hat sie keine Chance. Oder sie teilt das Schicksal vieler anderer linker Parteien, die nur auf der parlamentarischen Ebene dachten und irgendwann aus geschwächter Position in eine Regierungsbeteiligung gingen und dann dafür abgestraft wurden, weil sie so eben nicht mal Teile ihres politischen Programms durchsetzen konnten.
Anmerkungen:
1 KPO oder KPD-O (Kommunistische Partei Deutschland – Opposition), eine 1929 gegründete Organisation von aus der KPD ausgeschlossenen oppositionellen Kommunisten um August Thalheimer und den früheren KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler, die sich gegen die Stalinisierung des Kommunismus und für eine Fortsetzung der Einheitsfrontpolitik der KPD einsetzte. Mehrere tausend langjährige KPD-Mitglieder schlossen sich ihr an. Viele KPO-Mitglieder waren im Widerstand gegen Hitler aktiv.
2 Der Kapp-Putsch war ein Putschversuch rechtsradikaler und monarchistischer Militärs gegen die Weimarer Republik im März 1920. Während die SPD-geführte Reichsregierung kampflos aus Berlin floh, entwickelte sich eine spontane, landesweite Streikbewegung, aus der sich der bisher größte Generalstreik der deutschen Geschichte entwickelte. Unter der Wucht des Streiks brach der Putsch nach wenigen Tagen zusammen.
3 Sozialfaschismus: Von Stalin in der Kommunistischen Internationale ab 1929 durchgesetzte diffamierende Sicht auf die SPD, nach der die Sozialdemokratie faktisch der Zwilling des Faschismus sei, da beide letztlich auf den Erhalt des Kapitalismus abzielten; die KPD-Führung um Ernst Thälmann bezeichnete sie lange gar als „Hauptfeind“. Zusammenarbeit (und Einheitsfrontpolitik) waren damit unmöglich. Die Sozialfaschismus-Theorie hatte somit wesentlichen Anteil an der Spaltung und Schwächung des antifaschistischen Widerstands.
4 Revolutionäre Gewerkschaftsopposition: Ab Ende der 1920er Jahre gründete die KPD vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) unabhängige Gewerkschaftsgliederungen. Die RGO-Politik war ein Grund dafür, dass sich die Kommunisten in den letzten Jahren der Weimarer Republik von der organisierten Arbeiterschaft isolierten.
5 Stalinisierung: Umwandlung der kommunistischen Parteien analog zur Entwicklung in der Sowjetunion von zuvor demokratischen und pluralen Parteien hin zu entdemokratisierten, vom Apparat kontrollierten und vollständig von Moskau abhängigen Organisationen. Dieser Prozess fand in Deutschland 1924 bis 1929 statt. In diesen Jahren drängte die an Stalin orientierte Parteiführung um Ernst Thälmann zunächst die „linken“, dann die „rechten“ oppositionellen Strömungen aus der KPD.
6 Vgl. auch die Studie über partizipative Streikformen, die im Verdi-Bezirk Stuttgart unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Geschäftsführers Bernd Riexinger entwickelt wurden; Catharina Schmalstieg: Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, erhöhte Streikfähigkeit? Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2013. Vgl. ebenso die Rede Riexingers auf der Konferenz Erneuerung durch Streik aus dem Jahre 2013, dokumentiert u.a. in: „theorie21“, Nr. 3.
7 Als dieses Gespräch geführt wurde, war noch nicht entschieden, wer die neue Bundesregierung bilden würde. In dieser Situation kam der Vorschlag auf, eine Demonstration für die Einführung des Mindestlohns zu organisieren und gleichzeitig den Antrag im Wortlaut der Formulierung des SPD-Wahlprogramms in den Bundestag einzubringen. Doch die zukünftigen Koalitionspartner CDU/CSU und SPD ließen solche Bestrebungen ins Leere laufen, indem sie die Einberufung des Parlaments hinauszögerten.
8 Saul Alinsky gilt als Erfinder dessen, was heute Organizing genannt wird. Kürzlich hat die IG Metall-Jugend seine wichtigsten Schriften neu aufgelegt: Saul Alinsky: Call Me a Radical. Organizing und Enpowerment – Politische Schriften, IG Metall 2011.
9 Bernd Riexinger bezieht sich hier auf ein Papier, das er zusammen mit Katja Kipping verfasst hat: Verankern, verbreiten, verbinden: Projekt Parteientwicklung. Eine strategische Orientierung für DIE LINKE, www.die-linke.de/partei/parteientwicklung/projekt-parteientwicklung/texte/verankern-verbreiten-verbinden.