Bei der New Yorker Bürgermeisterwahl am 5. November errang Bill de Blasio, der Kandidat der Demokratischen Partei, mit einem der progressivsten Wahlprogramme der jüngeren US-Geschichte bemerkenswerte 73,7 Prozent der Stimmen. De Blasios Sieg ist zugleich eine unmissverständliche Absage an die neoliberale Amtsführung seines Vorgängers, Michael Bloomberg, und eine entschiedene Forderung der Öffentlichkeit, die Stadtpolitik New Yorks nach anderen, linken Prinzipien zu gestalten.
Bei seiner Amtsübernahme am 1. Januar wird de Blasio auf eine Stadt voller Konflikte und Widersprüche treffen. Geschuldet sind diese Konflikte in erster Linie der haarsträubenden sozialen Ungleichheit in New York, die inzwischen jener in den subsaharischen Staaten Afrikas gleichkommt. Das reichste eine Prozent der New Yorker Bevölkerung – dem viele Führungskräfte und leitende Angestellte aus dem Finanzsektor sowie der Versicherungs- und Immobilienbranche angehören – hortet Rekordsummen und verwandelt die Stadt in den größten Vergnügungspark der Welt für Reiche. Gleichzeitig werden Millionen Bürgerinnen und Bürger immer stärker marginalisiert und in die Armut gedrängt. Mittlerweile lebt jedes dritte Kind unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, und unter den mindestens 50.000 Obdachlosen der Stadt sind über 20.000 Kinder – mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Erhebung dieser Zahlen.
De Blasio brachte die zunehmende Polarisierung der Stadt in seinen Wahlreden auf den Punkt, in denen er New York als „a Tale of Two Cities“ bezeichnete, als „eine Geschichte von zwei Städten“. Mit diesem Sinnbild, das einen Romantitel des sozialkritischen Schriftstellers Charles Dickens zitiert, stützte de Blasio sich geschickt auf die Rhetorik der Occupy-Wall-Street-Bewegung. De Blasios Vorschläge, energisch gegen das soziale Gefälle vorzugehen, umfassen eine Reichensteuer zur Finanzierung kostenloser Kindergartenplätze für alle, 200.000 neue oder renovierte Sozialwohnungen und eine Beendigung der verdachtsunabhängigen Personenkontrollen durch die Polizei („stop and frisk“), die in erster Linie auf Schwarze, Latinos und sozial Schwache abzielen. Diese Vorschläge sind zweifelsohne zu begrüßen, doch es bleibt abzuwarten, ob sie sich auch in die Tat umsetzen lassen.
Erstens kontrolliert der Bürgermeister von den 70 Mrd. US-Dollar, die das Budget New Yorks umfasst, nur einen kleinen Teil. Der Löwenanteil muss ausgegeben werden, um Schulden abzubezahlen und zentrale Verwaltungsaufgaben und andere städtische Programme zu finanzieren, die nicht gekürzt werden können. Darüber hinaus unterliegt die Stadt der ungewöhnlichen Regelung, dass sie Steuererhöhungen und bestimmte neue Ausgaben von der Hauptstadt des Bundesstaates genehmigen lassen muss. Angesichts dieser Hindernisse werden de Blasios Versprechen bald mit der Realität finanzieller Engpässe konfrontiert werden.
Zweitens wird sich der designierte Bürgermeister mit den Interessensgruppen auseinandersetzen müssen, die von Bloombergs Regierung am meisten profitiert und seine Stadtpolitik beinflusst und mitgestaltet haben. Angesichts des Wahlergebnisses, das de Blasios insgesamt erzielte, mag es überraschen, dass er es in einer demographischen Gruppe nicht vermochte, die Mehrheit für sich zu gewinnen: nämlich in der der männlichen weißen Wähler. Die einflussreichen Interessengruppen werden nach wie vor von älteren weißen Männern dominiert, die keineswegs bereit sind, ihre Privilegien aufzugeben. Sie werden sich von de Blasios eindeutigem Mandat vermutlich wenig beeindruckt zeigen und nicht von ihrem bisherigen Kurs abweichen. Tatsächlich ist de Blasio bereits erste unerfreuliche Kompromisse mit diesen rücksichtslosen Eliten eingegangen und wird dies wohl auch weiter tun, womit er zugleich die Umsetzung seines fortschrittliches Wahlprogramms aufs Spiel setzt.
Obwohl de Blasio also in der Tat vor großen Herausforderungen steht, sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei der jüngsten Wahl um ein wahrlich historisches Ereignis handelt. De Blasio ist nicht nur der erste Bürgermeister seit einem halben Jahrhundert, der nicht aus Manhattan stammt, sondern er gewann die Wahl zudem mit dem größten Vorsprung, den ein nicht-amtierender Kandidat je in der Geschichte New Yorks erzielt hat. Dies gelang ihm dadurch, dass er eine außerordentlich vielfältige Wählerschaft, die aus nahezu allen Teilen der Stadt und überwiegend aus den unteren und mittleren sozialen Schichten stammt, von sich überzeugen konnte. Die breiteste Unterstützung erfuhr er dabei von New Yorks zwei Millionen Afroamerikanern, die zu 96 Prozent für ihn votierten. Eine Werbekampagne, in deren Mittelpunkt de Blasios schwarze Frau und ihre gemeinsamen Kinder standen, hatte seinen Wahlkampf beflügelt. Die Presse schlachtete diesen Multikulturalismus leidlich aus und suggerierte damit, dass Schwarze und andere People of Color – de Blasio gewann auch 87 Prozent der Stimmen von Latinos und 70 Prozent der Stimmen von asiatischen Amerikanern – sich nur am persönlichen Hintergrund des Kandidaten orientierten anstatt am Inhalt seines Wahlprogramms.
Fest steht: Nur wenn de Blasio die Bedürfnisse seiner heterogenen Wählerschaft in den Vordergrund stellt, wird es ihm gelingen, New York erfolgreich zu regieren und seine Wahlversprechen einzulösen. Um den erhofften Linksruck in der Stadtpolitik in die Praxis zu setzen, ist diese fundamentale Erkenntnis wichtiger als alle konkreten politischen Maßnahmen. Gewiss, eine erfolgreiche Gesetzesreform wäre förderlich, um zu beweisen, dass der neue Bürgermeister handfeste Verbesserungen durchsetzen kann. Im Hinblick auf die strukturelle Krise, in der New York sich befindet, ist es jedoch noch dringlicher, dass er den von der Krise am stärksten Betroffenen Gehör verschafft. Dies ist seine vorrangige Aufgabe – und es ist die Aufgabe von linken Gruppen und Organisationen, ihn daran zu erinnern, dass er dieser Verantwortung gerecht werden muss.
Es war und ist viel davon die Rede, dass eine neue populäre Linke im Entstehen begriffen sei. In seinem viel diskutierten Aufsatz „The Rise of the New New Left“ beschreibt Peter Beinart Bill de Blasio als Leitfigur dieser Bewegung. Er nutze die schlechte wirtschaftliche Lage, politische Desillusionierung und veränderte demographische Zusammensetzung der Bevölkerung, um das Establishment der Demokratischen Partei herauszufordern. Aber ist das Amt des New Yorker Bürgermeisters einer Aufgabe dieser Größenordnung wirklich gewachsen? Der bekannte linke Aktivist Tom Hayden bemerkt in einem Artikel in der britischen Zeitung „The Guardian“ zurecht, dass beide Vorgänger de Blasios, Rudolph Giuliani und Michael Bloomberg, in der Lage waren, Einfluss auf die landesweite Politik zu nehmen. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass dies de Blasio ebenfalls gelingen könnte. Zudem erinnert David Callahan, Mitbegünder des linken Think-Tanks „Demos“, an den legendären New Yorker Bürgermeister Fiorello LaGuardia, dessen erfolgreiche Politik des New Deal nicht zuletzt auf seinen engen Beziehungen zu Bundespolitikern und seiner Fähigkeit, finanzielle Mittel von der Bundesregierung zu mobilisieren, beruhte. Es gibt demnach Beispiele für Bürgermeister, denen es gelungen ist, die nationale Politik zu beeinflussen – und diesen Einfluss umgekehrt auch dafür zu nutzen, progressiven Reformen in New York den nötigen Rückenwind zu verschaffen.
Eine solche pompöse Vision in die Tat umzusetzen, wird von de Blasio erfordern, dass er seinen politischen Gegnern und den erwähnten Interessengruppen entschieden entgegentritt – wie auch seinen eigenen politischen Überzeugungen. Schließlich war er der Wahlkampfmanager von Hillary Clintons erfolgreicher Senats-Kandidatur im Bundesstaat New York im Jahr 2000. Clintons Anhänger werden de Blasio zweifelsohne dazu drängen, mit den Eliten und Vertretern der Großkonzerne eng zusammenzuarbeiten. Diesen Zusammenhang sollten wir uns genauso in Erinnerung rufen wie de Blasios Engagement in linken sozialen Bewegungen. Es bleibt abzuwarten, welcher Teil seiner Vergangenheit stärker auf seine Politik als neuer Bürgermeister New Yorks abfärben wird.
Auch wenn bereits andere Politiker versprochen haben, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich anzugehen, ist es bisher größtenteils bei Lippenbekenntnissen geblieben. Gleichzeitig greift die Austeritätspolitik im ganzen Land um sich, deren Protagonisten uns weismachen wollen, dass wir uns nur selbst retten können, wenn wir die Ärmsten unter uns ihrem Schicksal überlassen. Wird Bill de Blasio die 73,3 Prozent seines historischen Wahlerfolgs nutzen und in progressive politische Reformen ummünzen? Nicht wenige Superreiche scheinen sich genau davor zu fürchten. Wir müssen daher unsererseits alles dafür tun, um aus de Blasio den Bürgermeister zu machen, als der er sich während seines Wahlkampfs präsentiert hat. Gelingt uns dies nicht, werden wir weiterhin in einem geteilten New York leben – dem der Reichen und dem der übrigen Bevölkerung.