Manhattans 4. Avenue geht vom Astor Place zum Union Square. Nur sechs Häuserblocks lang, ist sie normalerweise eine der belebteren, geschäftigeren Straßen der Stadt. Als ich sie aber am 2. April entlanglief, war sie leer. Die Polizei hatte einen größeren Teil für Autos gesperrt, um Fußgängern mehr Platz zum Abstandhalten zu geben – allerdings waren auch nicht viele Fußgänger unterwegs. New York, die Stadt, die niemals schläft, ständig voll Bewegung und Energie, war leer wie nie zuvor. Wie konnte das sein? Was war passiert?
Am 31. Dezember 2019, während die ganze Welt das neue Jahr feierte, gab die Provinzregierung in Wuhan, China, bekannt, dass in den Krankenhäusern täglich Dutzende Fälle einer rätselhaften Atemwegserkrankung behandelt würden. Einige Tage später identifizierten chinesische Forscher das neue Virus, das Tausende Menschen infiziert hatte, als Coronavirus. Am 11. Januar 2020 verzeichnete China den ersten Todesfall durch den Virus. Zehn Tage später, am 21. Januar, wurde von den ersten bestätigten Fällen aus Südkorea und den Vereinigten Staaten berichtet. Der Fall im Staat Washington, im Nordwesten der Vereinigten Staaten, führte schnell dazu, dass die nördliche Pazifikküste Amerikas erstes Epizentrum des Ausbruchs wurde. In diesem Moment kostete die Entscheidung, ein eigenes Testkit zu entwickeln, weitere zehn Tage, weil Unentschlossenheit, das Herunterspielen der Schwere des Ausbruchs und politische Manöver die Entwicklung des Tests verzögerten. So arbeiteten amerikanische Behörden auf allen Ebenen auf einer völlig unzureichenden Datengrundlage an ihrer Antwort auf die Epidemie. Doch selbst nachdem ein Test entwickelt war, gab es eine neue Krise – es wurde unzureichend getestet. Es gab nicht genug Testkits für alle, die einen Test brauchten. Es schien, als könnten nur Reiche Tests bekommen. Als endlich in einem nennenswerten Rahmen getestet wurde – nicht etwa im Februar, sondern in der letzten Märzwoche –, explodierten die Zahlen. Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung, am 12. April, haben die Vereinigten Staaten mehr als 546,341 gemeldete Fällen und über 21,698 Tote. Die globale Pandemie traf auf ein völlig unvorbereitetes Gesundheitssystem. In Amerika, wo Krankenhäuser – ob öffentlich oder privat –, im Wesentlich nach Profitgesichtspunkten geführt werden, konnte man einfach nicht auf eine Situation wie diese vorbereitet sein. Auf die Möglichkeit einer Katastrophe eingestellt zu sein würde bedeuten, Vorräte an Ausrüstung und Medikamenten anzulegen und einsatzfähig zu kalten sowie in Krisenzeiten zu verteilen. Es bedeutet nicht nur zu produzieren, was im gegebenen Moment gebraucht wird. Es müsste außerdem eine ausreichende Zahl von Beschäftigten mobilisiert werden können, nicht Belegschaften, die durch eiserne Sparpolitik auf das für unerlässlich gehaltene Maß zusammengeschrumpft sind. Aber das widerspricht fundamental dem gegenwärtigen Geschäftsmodell der Krankenhäuser – Gewinn zu erwirtschaften. Ein anderes strukturelles Problem ist, dass Millionen von Amerikaner*innen entweder keine oder eine unzureichende Krankenversicherung haben. Das führt dazu, dass der allgemeine Gesundheitszustand im Land schlecht ist. Die Tatsache, dass ein größerer Anteil junger Menschen schwerer am Virus erkrankt, könnte teilweise damit erklärt werden. Diese Krise hat auch die hinter der glitzernden Fassade von New York verborgenen Widersprüche offengelegt. New York, globale Drehscheibe, Zentrum von Finanz, Kunst und Kultur, ist gleichzeitig mit einer Verteilungskrise konfrontiert, die mit Armut, Obdachlosigkeit und Verdrängung einhergeht. Dieses New York ist das neue Epizentrum der Coronakrise geworden. Derzeit sind über 180.000 Infektionen mit mehr als 9.000 Toten gemeldet, und die Zahlen steigen täglich. Krankenhausausrüstung wird in der Stadt und im Staat New York knapp. Pfleger und Schwestern berichten, dass sie mit völlig unzureichender persönlicher Schutzausrüstung arbeiten müssen und damit sowohl sich als auch ihre Patient*innen gefährden. Vor den Krankenhäusern überall in der Stadt parken Kühlwagen, die als provisorische Leichenräume dienen. Sirenen heulen Tag und Nacht, und es gab Vorschläge, Parks zu zeitweiligen Friedhöfen zu machen. Das ist New Yorks neue Normalität.
Andreas Günther ist Direktor des New Yorker Büros der Rosa Luxemburg Stiftung.