Oktober 1, 2013

Deutschunterricht

Rosa Luxemburg Stiftung - New York

Leidenschaftlich die Ergebnisse der Wahl zum deutschen Bundestag* im New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu verfolgen, ohne jemals in Deutschland gewesen zu sein oder mehr als eine Hand voll deutsche Wörter zu kennen, war eine ungewöhnliche Erfahrung. Es war indes leicht, mich zu entscheiden, für wen ich die Daumen drückte – als amerikanischer Sozialist hielt ich es mit der Linkspartei.

Meine spontane Enttäuschung über die ersten Prognosen sagte allerdings vor allem etwas darüber aus, wie viel weiter entwickelt der Kampf für eine sozialistische Alternative im Herzen Europas im Vergleich zu den Vereinigten Staaten ist. 8,6 Prozent waren kein so starkes Ergebnis wie vor vier Jahren, auch nicht ganz die 9 oder 10 Prozent, die sich die Optimistischeren unter uns erhofft hatten, und natürlich meilenweit davon entfernt, das Land zu regieren. Aber dieses Ergebnis hat erneut gezeigt, dass die Partei über eine stabile Basis von Unterstützern verfügt, und es deutet darauf hin, dass selbst im wohlhabenden und erfolgreichen Deutschland die Möglichkeit einer progressiven linken Mehrheit besteht.

Es ist zugleich ein Wahlergebnis, das bemerkenswerter ist als alles, was die nordamerikanische Linke in einem ganzen Jahrhundert zustande gebracht hat.

Gewiss, auf der europäischen Linken lasten die Erbschaft des Staatssozialismus, der Aufstieg fremdenfeindlicher rechter Parteien und der Druck der Globalisierung. Sozialist in Amerika zu sein, ist allerdings ein noch viel einsameres und schwierigeres Unterfangen. Unser Mitte-Links-Spektrum ist besetzt von der Demokratischen Partei, einer sozialliberalen Formation mit sehr schwacher struktureller Verbindung zur Arbeiterschaft. In gewisser Hinsicht ist sie das Endprodukt dessen, wonach die Reformer des Dritten Weges in der britischen Labour Party oder der deutschen SPD streben.

Die soziale Frage spielt in amerikanischen Wahlkämpfen kaum eine Rolle. Und wenn es doch einmal um Klassenfragen geht, so werden diese zu einer Identitätskategorie verwässert, die eine schrumpfende Gruppe weißer Arbeiter bezeichnet, welche an ihren Arbeitsplätzen im industriellen Sektor festhalten. Ignoriert wird hingegen jenes immer weiter wachsende, und keineswegs vorrangig weiße, sogenannte Prekariat, das durch gemeinsame Ausbeutung geeint wird – von den Nannies über die Tagelöhner bis zu den Beschäftigten im Fast-Food-Sektor. Und wenn die US-Linke sich traut, einen eigenen Kandidaten aufzustellen – wie mit Ralph Nader, als er vor gut einem Jahrzehnt für die Green Party antrat –, dann setzt sie auf ein linkspopulistisches Programm, und der Begriff „Sozialismus” bleibt tabu.

Oft wird das amerikanische Mehrheitswahlrecht für diese Entwicklung verantwortlich gemacht. Doch im Grunde ist unser politisches System eher ein „Kein-Parteien-System” als ein Zwei-Parteien-System. Die Herausbildung gut organisierter politischer Massenparteien ist ein Phänomen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ausgehend von Deutschland war das damals ein bewusster Fortschritt der Arbeiter. Dass die Demokratische wie die Republikanische Partei in den USA lockerere politische Strukturen sind als die entsprechenden Parteien anderswo, spiegelt sich in ihrer relativ unausgeformten und oft widersprüchlichen Politik. „Parteien” sind sie nur im weitesten Sinne. Sie knüpfen keinerlei inhaltliche Anforderungen an die Mitgliedschaft, sondern stehen grundsätzlich allen offen. Jeder kann sich bei den Demokraten oder bei den Republikanern einschreiben, und keiner kann von der Mitgliedschaft ausgeschlossen werden. Letztendlich sind die Parteien daher kaum mehr als Koalitionen sozialer Kräfte, in denen verschiedene Gruppen um Einfluss ringen.

Im Vergleich dazu scheint ein System wie das deutsche (trotz seiner Fünfprozenthürde) unendlich viel schlüssiger und demokratischer. Die amerikanische Linke würde, selbst wenn sie überraschenderweise wiederauferstünde, im Kongress keine vergleichbare Plattform finden wie sie die deutsche Linke im Bundestag hat.

Doch den Blick ins Ausland zu richten, sei es aus Neid oder zur Inspiration, ist viel zu lange das Lebenselixier der amerikanischen Sozialisten gewesen. Dabei ist unsere Aufgabe einfach: Wir müssen unsere kleine Minderheit organisieren und erweitern sowie eine sichtbare und offen radikale Opposition etablieren. Im Herzen des Empire können sogar solch bescheidene Erfolge weitreichende Konsequenzen haben, die unseren Verbündeten im Ausland mehr politische Spielräume verschaffen. Hier liegt eine Parallele zu der Rolle, die die deutsche Linke spielen kann bei der Unterstützung der sozialen Bewegungen in Griechenland und anderswo in der europäischen Peripherie.

Aber auch für diejenigen, denen diese Träume allzu fern erscheinen, gibt es Zeichen der Hoffnung. So zeigte eine Umfrage des Pew Research Center im Jahr 2011, dass Amerikaner im Alter zwischen 18 und 29 Jahren den Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus vorziehen. Auch wenn wir nicht genau wissen, was die Befragten unter „Sozialismus” verstehen, indiziert dies doch eine deutliche Unzufriedenheit mit dem, was der politische Mainstream anzubieten hat.

Freilich wird die Demographie nicht von selbst die amerikanische Linke retten. Es bedarf politischen Handelns. A. Philip Randolph, einer der großen amerikanischen Sozialisten, erinnerte einst seine Zuhörer gern daran: „An der Festtafel der Natur sind keine Plätze reserviert. Du bekommst, was du dir nimmst, und du behältst, was du tragen kannst. Wenn du dir nichts nimmst, wirst du nichts bekommen; und wenn du nichts tragen kannst, behältst du nichts. Und ohne Organisation kannst du dir nichts nehmen.”

DIE LINKE ist eine Art von Organisation, die Erfolge für die Arbeiterschaft erringen kann – und ohne die Schwierigkeiten zu ignorieren, mit denen auch sie sich konfrontiert sieht, ist dies Grund genug, hin und wieder einen Blick ins Ausland zu werfen, um nach Lehren und, wenn ich das so sagen darf, nach Inspiration zu suchen.

Bhaskar Sunkara ist Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Jacobin und leitender Redakteur von In These Times.

*Am 22. September wurde ein neuer Bundestag gewählt. CDU und CSU haben die Wahl mit 41,5% der Stimmen gewonnen. Die SPD stagniert bei 25,7%. Überraschenderweise wurde DIE LINKE drittstärkste Kraft mit 8,6% und 64 Abgeordneten im Bundestag. Während Die Grünen 8,4% erzielen, bricht Merkels Koalitionspartner FDP ein. Die Partei verliert 10% und wird nicht mehr im neuen Bundestag vertreten sein. Die neu gegründete rechtspopulistische Anti-Euro-Partei „Alternative für Deutschland“ verfehlt den Einzug ins Parlament knapp. – Die Red.


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