Eine Einschätzung von Stefan Liebich, Fellow des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Nordamerika.
„Es ist höchste Zeit, dass diese illegalen und gefährlichen Aktivitäten aufhören“, sagte Kanadas Premierminister Justin Trudeau. Am Freitag, dem 18. Februar begann die Räumung. Die Polizei informierte die Besetzer*innen der Innenstadt Ottawas in ihren LKWs, dass sie nach Hause fahren müssten und anderenfalls empfindliche Geldstrafen, der Verlust der Möglichkeit grenzüberschreitend zu arbeiten und sogar Haftstrafen drohen würden. Erste Verhaftungen begannen. Einige LKWs begannen die Stadt zu verlassen, andere schworen zu bleiben. Sie wollten sich in ihren Trucks verbarrikadieren. Eine Räumung dürfte angesichts des Gewichts der Fahrzeuge und der Wetterbedingungen, es schneit und es sind minus 15 Grad, eine logistische Herkulesaufgabe werden.
Was hier in den letzten Wochen stattfand, überraschte viele im In- und Ausland, widersprach es doch dem Image der netten Kanadier*innen und ihrem Verfassungsgrundsatz von “Frieden, Ordnung und guter Regierungsführung”.
Rückblende.
Es begann vor vier Wochen. An verschiedenen Orten Kanadas formierten sich LKW-Convoys, die sich dann am 29. Januar in der Hauptstadt trafen, um für „Freiheit“ (Freedom) zu demonstrieren. Der „Freedom-Convoy“ war geboren.
Ursprünglicher Anlass der Demonstrationen war eine Entscheidung der kanadischen Regierung, die jene LKW-Fahrer*innen zu einer Impfung gegen COVID-19 verpflichtete, wenn sie im grenzüberschreitenden Verkehr tätig sein wollten. Neunzig Prozent der Trucker*innen Kanadas hatten damit kein Problem und sind geimpft. Schließlich gab es auf der anderen Seite der Grenze, in den USA, zeitweise explodierende Ansteckungsraten, auch weil in einigen Bundesstaaten republikanische Impfgegner*innen das Sagen haben. Aber für eine Minderheit war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schon bald ging es nicht mehr nur gegen diese Maßnahme, sondern “gegen Masken, gegen Impfungen generell, gegen die Wissenschaft, gegen Trudeau, gegen alles”, sagte mir Justin Ling, ein kanadischer Journalist und in diesen Tagen gefragter Interviewpartner zu den Protesten.
Angeführt wurden sie unter anderem von James Bauder, Tamara Lich und Benjamin Dichter, die an Trumps Wahlbetrug-Verschwörung und George Soros’ Verantwortung für das Corona-Virus glauben und mit der Abspaltung des westlichen Kanada oder der rechtsradikalen People’s Party of Canada sympathisieren.
Dass die zahlenmäßig gar nicht so vielen Protestierenden einen so großen Eindruck hinterlassen, liegt vor allem an den LKWs, mit denen es gelang, die Stadt und wichtige Lebensadern zu blockieren. Aber wie war es möglich, dass das ohne Gegenwehr der Staatsgewalt geschah? Einige Beobachter*innen gehen davon aus, dass die Polizei erwartete, die Demonstrant*innen würden kommen, ihr Anliegen vortragen und dann wieder gehen, wie es sonst in Ottawa üblich gewesen sei. Natasha Lennard von der linken Webseite “Intercept” geht weiter und beschuldigt die Ordnungskräfte, dass sie “mit ihrem zurückhaltenden Vorgehen dazu beigetragen haben, dass die von der Rechten angeführten Demonstrierenden ihr Lager vor dem kanadischen Parlament aufschlagen konnten. Auf Videos ist sogar zu sehen, wie einige Polizisten den Demonstrant*innen Unterstützung anbieten. Bei mehr als einer Gelegenheit haben Polizisten die Gegendemonstrant*innen aus dem Weg geräumt, als sich LKW-Konvois der Blockade anschlossen.” Bei linken oder indigenen Protesten schreckte die kanadische Polizei in der Vergangenheit nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Im Gegenteil.
Bald wurde klar, dass Konservative in Nordamerika bis zum rechten Rand des politischen Spektrums die Bewegung für ihre Zwecke nutzten, sie finanzierten und anfeuerten. Die People’s Party, die rechtsextreme Canadian Nationalist Party, der rechte Rand der kanadischen Konservativen und der US-Republikaner eilten unterstützend zur Hilfe. Die Trucker wurden von Donald Trump, Ted Cruz und Marjorie Taylor Greene unterstützt und auch von rechten Medienstars wie Tucker Carlson und seinem Sender Fox News, der bei den beginnenden Verhaftungen “analysierte”: “Mit dieser Logik hätten sie auch gegen die Bürgerrechtsbewegung vorgehen können. Sie hätten Martin Luther King verhaften können.” (King saß mehrmals im Gefängnis.) Und der rechte Rückhalt hat Konsequenzen. USA-Fahnen, die patriotische Kanadier eigentlich nicht mögen, Flaggen der konföderierten Südstaaten aus dem US-Bürgerkrieg und sogar Hakenkreuzfahnen sind zu sehen und es ist leicht, auf antimuslimische, von weißer Vorherrschaft träumende Argumentationen zu finden. QAnon und Bill-Gates-Verschwörungserzählungen stoßen hier auf Sympathie. Einige der Protestierenden sind auch keine Trucker, sondern stramme Rechtsradikale.
Aber man machte es sich zu einfach, wenn man das Ganze als eine rechtsradikale US-Veranstaltung abtun würde. Es sind auch normale Arbeiterinnen und Arbeiter, Familien, selbst Yoga-Lehrer dort. Es ist ein Mix. Manches wirkt wie ein friedliches Woodstock, anderes aggressiv. Die Verzweiflung vieler Protestierender ist real. Sie berichten von Geschäftsaufgaben, Arbeitslosigkeit und Selbstmorden. Die kanadische Regierung hat zwar mit massiven Hilfsprogrammen den Auswirkungen der Pandemie entgegenzuwirken versucht, und ein genereller Anstieg der Suizid-Zahlen in Kanada war bisher nicht erkennbar. Aber man kann nicht ausschließen, dass das in bestimmten Regionen oder Gruppen der Fall war. Und der Ärger darüber, dass die Pandemie eben nicht alle gleichermaßen betrifft, ist mit Händen zu greifen. Wer in seinem Haus an seinem neuen Macbook im Home-Office arbeitet, spürt die Auswirkungen von Covid eben anders als eine große Familie in einer kleinen Wohnung, deren Alleinverdiener nicht arbeiten kann.
Proteste wieder dieser kosten Geld. Verdienstausfälle, Heizung, Lebensmittel, Unterkunft, Medienarbeit. Deshalb richtete sich die Aufmerksamkeit schon bald auf die Finanziers. Und die kam von reichen Kanadiern und US-Amerikanern. Tatsächlich glaubten einige, der Kommunismus drohe in Kanada oder sei bereits angekommen. Mitchell Thompson zitiert für „PressProgress“ einen Unternehmer, der Geld gespendet hat: “In den letzten zwei Jahren hat Kanada begonnen, ein kommunistisches Land zu werden. Wir haben Diktatoren auf Bundes- und Provinzebene”. Aber auch Milliardäre wie Elon Musk attackieren die kanadische Trudeau-Regierung und schrecken dabei selbst vor Hitler-Memes nicht zurück. Die oppositionelle sozialdemokratische Neue Demokratische Partei (NDP) nutzte die Skepsis der meisten Kanadier*innen gegenüber dem großen US-amerikanischen Nachbarn sogleich für die Forderung nach einem Verbot der Finanzierung aus dem Nachbarland. Justin Ling glaubt allerdings, dass das falsch und überzogen sei. “Es ist ein kanadischer, kein US-Protest. Es hätte ihn auch ohne US-Einfluss gegeben. Ich bin eher überrascht, dass nicht noch mehr Geld aus den USA geflossen ist.”
Nach einigen Tagen waren neben der Blockade von Ottawas Innenstadt weitere Konsequenzen der Blockaden spürbar. Die Ambassador-Brücke zwischen den USA und Kanada, eine wichtige Lebensader für die kanadische Ökonomie, war dicht und das führte zu leeren Regalen und selbst zu Stilllegung von Werken, weil Zulieferungen fehlten.
Als einige Protestierende auch noch begannen, den Obdachlosen in Ottawa das Essen in einer Suppenküche wegzunehmen und deren Mitarbeiter*innen beleidigten, hatten die Menschen genug. Es gab Gegenproteste und die Forderung nach einem Ende der Blockade.
Und auch in der Politik nahm der Druck zu, und zwar zunächst auf die konservative Partei in Kanadas Parlament. Das Hin und Her im Umgang mit den Protesten zwang ihren Vorsitzenden Erin O’Toole, der bereits angeschlagen war, zum Rückzug. Dessen Übergangsnachfolgerin Candice Bergen war bereits mit eine “Make America Great Again”-Kappe zu sehen und hat sich sogleich an die Seite der Protestierenden gestellt. Und die Fähigkeit zur Mobilisierung von Geld und Aktivist*innen, die die Protestierenden haben, hätten sie natürlich auch gern. Von einer weiteren Rechtsverschiebung ist daher auszugehen, auch wenn ein moderater Teil der Partei Abstand zum rechten Rand halten will. Andere Abgeordnete machen längst mit ihnen Selfies.
Premierminister Trudeau und seine Liberalen nutzten das, um sich davon abzugrenzen und den Konservativen Wählerinnen und Wähler in der politischen Mitte abzuwerben. Aber es gibt auch den Vorwurf gegenüber seiner Partei, dass genau das Grund für sie war, so lange dem Treiben zuzuschauen.
Jagmeet Singh, der Vorsitzende der NDP meint, dass es sich um mehr als eine Protestbewegung handelt. Stattdessen bestünde “die erklärte Absicht des Konvois darin, die Regierung zu stürzen”, was auf deren Transparenten auch nachzulesen war. Der Kurs der NDP besteht darin, einerseits die Regierung dafür zu kritisieren, dass sie die Interessen der einfachen Kanadier*innen während der Pandemie zu wenig im Blick hatten und lieber die Reichen geschützt haben. Aber sie fordert auch ein härteres Vorgehen gegenüber den Protesten und unterstützt die Notstandsregelungen.
Diese Einschätzung teilen nicht alle auf der linken Seite. Einerseits: „Der ‚Freiheitskonvoi‘ ist kein Protest der Arbeiterklasse. Es ist kein Protest, der darauf abzielt, Ausbeutung oder die Herrschaft des Kapitals zu bekämpfen. Schon gar nicht will er Migrant*innen, Indigene oder Minderheiten helfen, deren Freiheit nie anerkannt wurde“, schreibt Bryan D. Palmer für Verso. Klar ist, dass die “Freiheit”, die sie meinen, eine rein individuelle ist. Sie interessieren sich nicht für die Rechte auf Gesundheit und Leben anderer, die durch die Übertragung des Virus gefährdet werden. „Der ‚Freedom Convoy‘ ist kein Kampf für die Freiheit aller, sondern ein Versuch, die Demokratie im Namen der Freiheit zu zerstören“, meint Palmer. Die “Freiheit” europäischer Siedler*innen, Krankheiten und Seuchen nach Amerika zu bringen, hat übrigens mit dazu beigetragen, die Menschen, die dort bereits lebten, nahezu auszurotten.
Andererseits: Dass Premierminister Justin Trudeau das erste Mal seit einem halben Jahrhundert den nationalen Notstand ausgerufen hat, ist aus linker Sicht keine gute Nachricht. Es verleiht der kanadischen Regierung außerordentliche Befugnisse, einschließlich der Außerkraftsetzung des Rechts auf öffentliche Versammlungen und der Erlaubnis, Personen, von denen angenommen wird, dass sie an den Protesten teilnehmen, die Nutzung von Finanzinstituten zu untersagen.
“Für die Linke gibt es bei der Berufung auf diese repressiven Befugnisse nichts zu unterstützen”, warnt Natasha Lennard. “Dieselben Maßnahmen werden eingesetzt, um die von uns unterstützten Bewegungen zu unterdrücken. Arme, an den Rand gedrängte und rassistisch unterdrückte Bevölkerungsgruppen”.
“Die Tatsache, dass die Anti-Mandats-Bewegung klug genug war, Konvois, Besetzungen und Blockaden genau zu dem Zeitpunkt zu mobilisieren, als viele konservativ geführte Provinzregierungen sich bereits darauf vorbereiteten, die Impf- und Maskenregelungen abzubauen, bedeutet, dass die radikale Rechte dies als ihren Sieg reklamieren und weiter nutzen wird. Das und die Dollars, die in ihre geheimen Kassen fließen, werden die Wut nur noch weiter anheizen. Dies ist leider der politische Boden unserer Zeit”, konstatiert Bryan D. Palmer
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Anmerkung des Autors: Da ich während meines Aufenthalts in Kanada nicht selbst in Ottawa war, habe ich für diese Analyse Gespräche mit den Journalist*innen Justin Ling, Andrea Levy und C.J. Atkins sowie die nachfolgenden Artikel genutzt:
https://truthout.org/articles/convoy-movement-isnt-a-struggle-over-freedom-its-an-attempt-to-kill-democracy/
https://theintercept.com/2022/02/16/canada-protests-freedom-convoy-ottawa/
https://pressprogress.ca/we-are-fed-up-wealthy-business-people-who-donated-to-far-right-convoy-believe-they-are-oppressed
https://www.versobooks.com/blogs/5268-freedom-comes-to-canada