Die Stadt New York wird ab Januar 2015 einen kommunalen Personalausweis einführen. Dies ist deshalb besonder bemerkenswert, weil auch New Yorker ohne legalen Aufenthaltsstatus Zugang zu diesem Dokument erhalten werden. Für 500 000 illegalisierte MigrantInnen, die im Schatten der Gesellschaft in permanenter Unsicherheit leben, wird die Communal ID völlig neue Teilhabemöglichkeiten eröffnen: Sie erhalten Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen, können leichter Miet-, Handy- und andere Verträge abschließen, unkomplizierter Bankgeschäfte erledigen und vieles mehr. Am wichtigsten ist, dass der Ausweis für sie einen Schutz im Umgang mit der Polizei bedeuten wird. Bei einfachen Kontrollen ist nicht mehr erkennbar, dass sie nicht über gültige Aufenthaltspapiere verfügen.
Der kommunale Personalausweis ist zentraler Baustein einer veränderten Migrationspolitik, die der demokratische Bürgermeister, Bill de Blasio, in den ersten Monaten seiner Amtszeit auf den Weg gebracht hat. Gleichzeitig ist er Ergebnis einer gut und lange vorbereiteten Kampagne. Während die Reform des Einwanderungsgesetzes auf Bundesebene stockt und nach wie vor Menschen in großem Stil abgeschoben werden, haben einzelne Städte und Bundesstaaten Taktiken entwickelt, um an Washington vorbei die Integration und Sicherheit von Einwanderern zu stärken. New York City könnte bei dieser Verschiebung des politischen Terrains eine Vorreiterrolle spielen.
Die Revolte der Städte
Frustriert davon, dass auf Bundesebene seit Jahren nur minimale Fortschritte in Fragen einer Einwanderungsreform zu verzeichnen sind, haben sich Aktivistnnen und Aktivisten zunehmend der kommunalen Ebene zugewandt. Die Städte scheinen aussichtsreichere Orte zu sein, um die Lebensbedingungen von schätzungsweise elf Millionen Einwanderern ohne Papiere substanziell zu verbessern. Seit 2005 sind so im ganzen Land Dutzende konkrete Maßnahmen umgesetzt worden: Sie reichen von der Einschränkung der Zusammenarbeit mit den Einwanderungsbehörden des Bundes, über die Ausweitung kommunal finanzierter Gesundheitsversorgung und sozialer Dienstleistungen bis zur Gewährung von städtischen Ausweispapieren und Wahlrechten.
Die Wahlen von 2013 haben auf lokaler Ebene teils deutlich die Kräfteverhältnisse verschoben und die fortschrittlichsten Kommunalpolitiker der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten an die Macht gebracht. Eine Zeitung beschrieb dieses Phänomen als „Revolte der Städte“. In Boston, Minneapolis, Pittsburgh, Seattle und andernorts wurden linke Bürgermeister und Stadträte gewählt. Bill de Blasio gilt als Paradebeispiel dieses neuen urbanen Populismus. Er stützt sich auf eine linksorientierte Regierung, in der die wichtigsten Ämter mit fortschrittlichen Politikerinnen und Politikern besetzt sind. Im Stadtrat werden Gesetzgebungsverfahren von der starken linken Fraktion – dem Progressive Caucus – bestimmt, sie stellt 18 von 51 Abgeordneten.
Dieser fortschrittliche Block wurde maßgeblich durch einen neuen eindrucksvollen Akteur auf der politischen Bühne der Stadt an die Macht gebracht: die Working Families Party (WFP). Diese dritte Partei ist eine sozialdemokratische Koalition aus Gewerkschaften, Stadtteilgruppen und Bürgerrechtsaktivisten. Sie organisiert nicht nur politische Kampagnen, sondern beteiligt sich auch an Wahlen. Um progressive Politik zu unterstützen, stellt die Partei jedoch keine eigenen Kandidaten auf, sondern unterstützt die jeweils fortschrittlichsten Kräfte – meist demokratische Kandidaten. Nachdem sie bereits 2010 die Bildung eines Progressive Caucus ermöglichte, konnte die WFP 2013 viele der zentralen Wahlkampfthemen bestimmen und Einfluss darauf nehmen, welche Kandidaten von den Demokraten aufgestellt wurden. Einige der wichtigsten Mitgliederorganisationen der WFP haben eine starke migrantische Basis. Zu dieser gehören schlagkräftige Gewerkschaften wie die Ortsverbände 32BJ und 1199 der Service Employees International Union (SEIU), aber auch stadtteilorientierte Gruppen wie Make the Road NY. Sie sind Teil einer Bewegung für kommunale Rechte von Migranten, die im letzten Jahrzehnt deutlich an Sichtbarkeit und Einfluss gewonnen hat. Dank der erfolgreichen Wahlbeteiligung der WFP – die den Sieg de Blasios erst ermöglichte – hat diese Bewegung nun das Ohr des Bürgermeisters und des Stadtrats. Auch weil sie im Zweifelsfall die Kapazitäten hat, außerparlamentarischen politischen Druck aufzubauen, bieten sich der Bewegung noch nie dagewesene Möglichkeiten.
Die Kampagne für einen kommunalen Personalausweis zeigt, wie gut hier die unterschiedlichen Ebenen und politischen Akteure zusammenspielen konnten. Nachdem die Communal ID im Vorfeld der Bürgermeisterwahlen 2013 als Wahlkampfthema gesetzt worden war, gelang es Make the Road NY, eine breite Koalition zu bilden aus Gruppen, die für die Rechte von EinwanderInnen, LGBTs, Obdachlosen und anderen eintreten. In dieser Konstellation ließ sich der nötige politische Druck aufbauen. De Blasio unterstützte den Ausweis, der Vorschlag wurde mit Unterstützung der Vorsitzenden des Stadtrats Melissa Mark-Viverito vom Progressive Caucus als Gesetzesvorlage eingebracht und schließlich von einer überwältigenden Mehrheit verabschiedet.
Perspektiven und Kompromisse
Jede Erfolgsgeschichte hat auch eine Kehrseite. So gut die linken Kräfte in New York derzeit auch kooperieren, sie haben Gegner, die in der Stadt über viel Macht verfügen. Der Gesetzesentwurf enthielt ursprünglich noch einen Passus zum Schutz der Privatsphäre, der es den Behörden untersagt hätte, Dokumente zu archivieren, die bei der Beantragung des Ausweises vorgelegt werden mussten. Dieser Passus wurde von der New Yorker Polizei (NYPD) abgelehnt und daraufhin aus dem Gesetz genommen. Bis auf die New York Civil Liberties Union hatten alle beteiligten Gruppen diese bittere Pille geschluckt, um den prinzipiellen Erfolg des Projekts nicht zu gefährden. Die Stadt kann diese Dokumente nun zwei Jahre aufbewahren und sie der Polizei im Fall eines Konflikts mit den Autoritäten zugänglich machen. Dies wird einige Migranten davon abhalten, den Ausweis zu beantragen. Die Angst, dadurch doch ins Visier der bundesstaatlichen Vollstreckungs- und Abschiebebehörden zu geraten, ist riesig.
Der kommunale Ausweis bildet den vorläufige Höhepunkt einer ganzen Reihe politischer Programme, die in New York in den letzten Monaten auf den Weg gebracht wurden, um die Lebenssituation von illegalisierten Migranten zu verbessern. Zu ihnen gehören die Finanzierung eines Rechtsbeistands im Fall einer drohenden Abschiebung, Unterstützung von einwandernden Kindern aus Mittelamerika, einschließlich eines Rechtsbeistand, sowie Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem und die kürzlich zusammen mit Chicago und Los Angeles gestartete Initiative, die Einbürgerung von Migranten mit legalem Aufenthaltstatus deutlich zu vereinfachen. Die drei Millionen im Ausland geborenen New Yorker werden nun auch von anderen Maßnahmen profitieren, wie etwa der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder der flächendeckenden Versorgung mit Betreuungsplätzen für Kleinkinder.
Die Bewegung für die Rechte von Migranten hat noch einiges mehr auf dem Zettel. Angesichts der aktuellen Situation auf Bundesebene ist das vielleicht dringlichste Anliegen der Schutz vor Abschiebungen. Der kommunale Ausweis bietet zwar einen gewissen Schutz in New York, weil er das Risiko senkt, wegen fehlender Ausweispapiere festgenommen und der Bundesbehörde für Migrationsfragen – der Immigration and Customs Enforcement (ICE) – übergeben zu werden. Die grundsätzliche Gefahr einer Abschiebung bleibt jedoch bestehen. Ein wirklicher Schutz wäre nur dann gegeben, wenn die Stadt ihre Zusammenarbeit mit der ICE-Behörde endgültig einstellen würde. Die neue Stadtregierung hat sich nur zögerlich mit diesem Problem befasst; immerhin wurde Anfang Oktober ein Gesetzesentwurf angekündigt, der die Zusammenarbeit bei Festnahmen durch ICE-Beamte weiter einschränken soll. Demnach sollen Anfragen der ICE zurückgewiesen werden, es sei denn, es liegt ein Haftbefehl vor wegen der Verurteilung für ein Gewaltverbrechen. Es bleibt abzuwarten, zu welchem Gerangel mit dem NYPD und den Einwanderungsbehörden des Bundes dieser Entwurf führen und wie der Kompromiss im endgültigen Gesetz dann aussehen wird.
Ebenfalls auf der Tagesordnung steht das Projekt eines kommunalen Wahlrechts für Menschen ohne US-amerikanische Staatsangehörigkeit, das einigen Rückhalt im Stadtrat hat. Andere progressive Reformen, wie beispielsweise ein Führerschein für Menschen ohne Papiere oder der Dream Act, der Studenten ohne Papiere Stipendien gewähren würde, liegen jenseits der gesetzgeberischen Möglichkeiten der Stadt und werden schon seit langem von den Konservativen im Senat des Bundesstaats New York blockiert. In diesem Punkt fällt der Staat New York hinter die elf Bundesstaaten in den USA zurück, die bereits einen Führerschein für Menschen ohne Papiere zulassen, und den 15 Staaten, in denen unterschiedliche Versionen des Dream Act verabschiedet wurden.
Leider scheiterte der Versuch der Demokraten bei den Wahlen im November, eine Mehrheit im Senat des Bundesstaates New York zu erringen. Damit wäre noch mehr Bewegung in die Sache gekommen. Doch es gibt weitere Wahlen. Nicht nur in New York City befindet sich die Bewegung im Aufwind, und die Stadt ist bereit, diese weiter voranzutreiben. Die skizzierten reformerischen Schritte werden sicherlich hinter grundlegenden Veränderungen zurückbleiben, die sich viele Einwanderer erhoffen. Aber es ist gelungen, die Blockade auf der Bundesebene zu unterlaufen, ein Fenster aufzustoßen und einen neuen politischen Raum zu eröffnen. Die Aktivistnnen und Aktivisten für die Rechte der Migranten sind entschlossen, diesen zu betreten und weiterzukämpfen.