März 17, 2023

Zwei deutsche Staaten, eine UNO

Stefan Liebich

Vor 50 Jahren wurden DDR und BRD in die Vereinten Nationen aufgenommen. Darüber und was das Völkerrecht heute für die DIE LINKE bedeutet, sprach RLS-Fellow Stefan Liebich mit dem außenpolitischen Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Dr. Gregor Gysi.

Stefan Liebich:

“Manche Kritik an den Vereinten Nationen klingt bitter, zynisch, ist von fast jubilierendem Pessimismus – so, als hoffe man heimlich, dass die Schwächen der Organisation Idee und Ziel widerlegten. Doch Rückschläge auf dem Weg zu einem Ideal beweisen nicht notwendig, dass jenes Ideal falsch war, sondern oft nur, dass der Weg besser sein könnte.”

Dieses Zitat ist von Willy Brandt. Er sagte dies am 26. September 1973 in seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Das war der Zeitpunkt, vor 50 Jahren, als die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik Mitglied der Vereinten Nationen wurden. Heute bin ich im Deutschen Bundestag und spreche mit Dr. Gregor Gysi, dem außenpolitischen Sprecher der Fraktion DIE LINKE.

Gregor, Du warst damals 25 Jahre alt, Rechtsanwalt in Berlin, der Hauptstadt der DDR und Mitglied der regierenden Partei, der SED. Wie erinnerst du dich an den Zeitpunkt, als die DDR Mitglied der UNO wurde?

Gregor Gysi:

Ich fand spannend, dass aus der Bundesrepublik der Bundeskanzler anreiste und die DDR durch Außenminister Otto Winzer vertreten wurde und nicht durch den Regierungs- oder Staatschef. Ich weiß nicht, woran das lag. Entweder waren sie davon überzeugt, dass Otto Winzer das besser kann, vielleicht sprach er auch besser Englisch. Ich denke nicht, dass sie es abwerten wollten. Es war für die DDR ein wichtiger Schritt, Mitglied der UNO zu werden. In der Zeit davor, während der Hallstein-Doktrin, hatte die Bundesrepublik zu weit über 100 Staaten diplomatische Beziehungen, die DDR hauptsächlich zu den staatssozialistischen Ländern. Die Bundesregierung hatte im Rahmen dieser Doktrin gedroht, ihre diplomatischen Beziehungen mit einem Land abzubrechen, das diplomatische Beziehungen zur DDR aufnimmt. Eine Ausnahme war die Sowjetunion, die in beiden Ländern eine Botschaft hatte. Die USA, Großbritannien und Frankreich hätten im UN-Sicherheitsrat keine Aufnahme der DDR zugelassen und die Sowjetunion und wahrscheinlich auch China keine Aufnahme der Bundesrepublik. Es gab eine gleichberechtigte Nicht-Mitgliedschaft. Und das hat sich vor fünfzig Jahren erledigt.

Egon Bahr hat mir einmal erläutert, wie die Änderung zustande kam, die schließlich zur Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in der UNO führte. Die DDR bildete sehr gute Ärztinnen und Ärzte und Ingenieure aus, und die kamen dann in den Westen, weil sie dort freier waren und besser bezahlt wurden. Die Ausbildungskosten hatte die DDR, nicht die Bundesrepublik. Nur mit dem Mauerbau war das vorbei. Wenn die Bundesregierung nun nicht mit der Regierung der DDR verhandeln würde, könnte sie für die Ostdeutschen und für die Westdeutschen, die Verwandte in der DDR hatten, auch nichts erreichen. Deshalb setzten er und die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Willy Brandt sich für “Wandel durch Annäherung” ein. Als dann der Grundlagenvertrag abgeschlossen wurde, war der Weg für beide Staaten in die UNO frei. Und als die DDR aufhörte zu existieren, hatte auch die UNO ein Land weniger und eine Fahne musste eingeholt werden.

Stefan Liebich:

Dazwischen lagen 17 Jahre. Das UN-Mitglied DDR war geschätzt und geachtet. Ihr stellvertretender Außenminister, Peter Florin von der SED, war für die DDR 1980 und 1981 Mitglied im UN-Sicherheitsrat und führte dabei auch turnusmäßig den Vorsitz. Und er wurde 1987 und 88 einstimmig zum Vorsitzenden der UN-Generalversammlung gewählt. Wie wichtig war der DDR Führung diese internationale Anerkennung?

Gregor Gysi:

Sehr wichtig. Das war erstens der Weg, um überhaupt die Existenz der DDR zu sichern. Je anerkannter sie von immer mehr Staaten war, desto schwerer – so war zu Recht ihre Einschätzung – fiele es, sie in irgendeiner Form zu liquidieren. Zweitens hatte sie dadurch ganz andere Chancen, die notwendigen Devisen zu erwirtschaften, die sie ja dringend brauchte, um den Rohstoffbedarf zu decken, Maschinen und vieles andere einzukaufen.

Stefan Liebich:

Ich möchte mit dir über das Verhältnis unserer Partei zum Völkerrecht und zu Blauhelmmissionen sprechen. Die DDR beteiligte sich 1989 mit 30 Polizeibeobachtern, die dem Ministerium für Nationale Verteidigung, dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Außenministerium und dem Innenministerium angehörten am UN-Einsatz zur Wahlbeobachtung in Namibia. 10 Jahre später beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig, mit einer UN-Mission die Gewalt der pro-indonesischen Milizen in Timor-Leste zu beenden. Deutschland wollte sich daran mit zwei Militärmaschinen beteiligen, die verletzte UN-Angehörige aus dem Land fliegen sollten. Damals gab es in deiner Fraktion Nein-Stimmen und wenig später hat die Partei in Münster beschlossen, Einsätze der Vereinten Nationen nach Kapitel VII ohne Prüfung eines Einzelfalls immer abzulehnen. Das ist seitdem de facto in alle Parteiprogramme geschrieben worden. Diese Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, selbst wenn sie durch die Vereinten Nationen beschlossen sind, verstehen viele nicht. Woher kommt sie? Warum ist das so schwierig?

Gregor Gysi:

Die Mitglieder meiner Partei aus der früheren DDR kamen aus dem Warschauer Vertrag, dem Militärbündnis der sozialistischen Staaten. Der wurde aufgelöst, sie waren plötzlich in der NATO, und sie sollten aus ihrer Sicht nun plötzlich zu Einsätzen von NATO-Soldaten Ja sagen. Das widersprach ihrer ganzen Kultur und ihrer Seele. Deshalb waren sie strikt dagegen.

Ob Kampfeinsatz oder Blauhelme – das war erst mal egal und das verstehe ich emotional. Es ist aber politisch nicht richtig. Ich denke, dass inzwischen die Stimmung bei Blauhelmen eine andere ist. Bei Kampfeinsätzen würde meine Partei nach wie vor Nein sagen. Ich meine, in gewisser Hinsicht auch zu Recht. Das hängt damit zusammen, dass wir eine andere Geschichte haben als andere Länder. Darauf komme ich gleich zu sprechen. Das Völkerrecht schützt kleinere Staaten vor großen Staaten. Der Westen dachte, da er im Kalten Krieg gewonnen hat, dass er das Völkerrecht nicht mehr braucht. Die NATO hat das Völkerrecht beim Angriff auf Serbien verletzt. Die USA haben das Völkerrecht beim Angriff auf den Irak verletzt. Das hat sie nicht gestört. Jetzt, beim Krieg von Russland gegen die Ukraine, sind sie auf einmal entschiedene Anhänger des Völkerrechts. Da ich wirklich ein Anhänger des Völkerrechts bin, habe ich den Krieg der NATO gegen Serbien verurteilt, den Krieg der USA gegen den Irak verurteilt und verurteile ebenso scharf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Nicht dass ich nicht wüsste, welche Fehler die NATO begangen hat, aber nichts davon rechtfertigt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Wenn wir sagen, wir stehen auf der Seite des Völkerrechts, dann kannst du es dir nicht aussuchen. Du kannst nicht sagen, den einen Artikel respektiere ich und den anderen Artikel respektiere ich nicht. Und deshalb sage ich, wir hätten bei Kapitel-VII-Einsätzen immer eine Einzelfallprüfung vornehmen müssen. Wir können ja jedes Mal Nein sagen. Das ist etwas anderes. Wir müssen das Völkerrecht insgesamt respektieren. Und danach gibt es eben auch Beschlüsse nach Kapitel VII. Mich stört, dass wir eine Einzelfallprüfung ablehnen, weil es so eine Abwertung des Völkerrechts ist.

Aber jetzt gibt es einen Unterschied. Der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte ging von Deutschland aus. Das war der zweite Weltkrieg mit 50 Millionen Toten. Und deshalb denke ich, dass wir bei allen kriegerischen Handlungen äußerst zurückhaltend sein müssen. Vor allen Dingen dürfen wir nicht mehr an Kriegen verdienen. Und deshalb bin ich gegen Waffenexporte, zumindest außerhalb der NATO. Wir sind aber der fünftgrößte Waffenexporte der Welt und verdienen an jedem Krieg. Im Jemen, in Libyen, in Syrien. Und das stört mich. Deshalb hätte ich keine Waffen an die Ukraine geliefert, wenn ich das zu entscheiden gehabt hätte. Aber ich wäre nicht dagegen gewesen, dass Frankreich, Großbritannien und andere Länder Waffen liefern. Die haben eine andere Geschichte als wir und es gibt ein Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Damit wir uns dabei nicht gesundstoßen, hätte ich das gleiche Geld wie diese Länder aufgewandt. Aber für humanitäre und Aufbauzwecke in der Ukraine statt für Waffen. Jetzt aber brauchen wir einen Waffenstillstand und keine Waffenlieferungen mehr.

Stefan Liebich:

Du hast im vergangenen Jahr einen längeren Text dazu geschrieben, der unter der Überschrift “Wir müssen wirklich Völkerrechtspartei werden” veröffentlicht wurde. (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1164385.linke-debatte-wir-muessen-wirklich-voelkerrechtspartei-werden.html) Dort heißt es u.a.: “Wir müssen aber auch bestimmte Standpunkte von uns kritisch aufarbeiten, die so keinen Bestand mehr haben. Wir müssen wirklich die Völkerrechtspartei werden, für die das gesamte Völkerrecht immer gilt.” Gab es denn eine Reaktion darauf? Wie war sie? Wurde darüber diskutiert?

Gregor Gysi:

Ja klar. Ich habe den Text vor dem Parteitag geschrieben und da spielte er schon eine Rolle. Aber die Mehrheit sah das eben anders.

Stefan Liebich:

Ich habe am Beginn unseres Gesprächs Willy Brandt zitiert. Nun ist die Bundesrepublik Deutschland 50 Jahre Mitglied der Vereinten Nationen. Hin und wieder war sie auch Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Dort blockiert mal der eine und mal der andere mit seinem Vetorecht wichtige Entscheidungen. Als die USA völkerrechtswidrig den Krieg im Irak geführt haben, gab es natürlich kein Votum gegen die Vereinigten Staaten, weil sie ihr Vetorecht genutzt haben. Und jetzt macht Russland das Gleiche, trotz einer klaren Mehrheit in der UN-Generalversammlung gegen den Krieg des Landes gegen ihr Nachbarland Ukraine. Wie wichtig ist denn die UNO heute noch?

Gregor Gysi:

Da würde ich das unterstützen, was Willy Brandt gesagt hat. Wir haben auch gar keine Alternative. Oder wir verzichten auf Weltpolitik und übertragen das auf die G7 oder G8 oder G20 und sagen diese Staaten haben zu entscheiden, was alle anderen zu machen haben. Deshalb plädiere ich so sehr dafür, dass wir zum Völkerrecht zurückkehren. Und ich wäre froh, wenn ich eine Regierung hätte, die nicht nur bei Russland, sondern immer auf der Einhaltung des Völkerrechts besteht.

Stefan Liebich:

Vielen Dank, Gregor Gysi.


Stefan Liebich war von 2009 bis 2021 Bundestagsabgeordneter für Die Linke und ist derzeit Fellow des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.


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