Februar 24, 2022

«Es geht um das andere Amerika» Interview mit RLS-Fellow Stefan Liebich

Stefan Liebich war von 2009 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags für Die LINKE und zuvor, von 1995 bis 2009, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin. Seit Januar 2022 ist er Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Über seine nächsten Vorhaben in den Vereinigten Staaten und Kanada und sein Projekt «Progressive America» sprach mit ihm Federica Drobnitzky.

In Deutschland kennt man Dich vor allem durch Dein ehemaliges Amt als Bundestagsabgeordneter der Linkspartei und als leidenschaftlichen Außenpolitikexperten. Könntest Du Dich, bevor wir zum eigentlichen Thema kommen, dennoch kurz vorstellen?

Ich bin in der DDR zur Welt gekommen, dort zur Schule gegangen und groß geworden. Nach einem dualen Studium der Betriebswirtschaftslehre mit IBM bin ich, eher überraschend, für die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – eine der Vorgängerparteien der heutigen Partei DIE LINKE – ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden. Ich repräsentierte einen Wahlkreis in Berlin-Marzahn, der eigentlich gar nicht links war.

Stefan Liebich, ehemaliges Die-Linke-Mitglied und jetzt RLS-Stipendiat, spricht mit Federica Drobnitzky über seine bevorstehenden Pläne in den USA und Kanada für sein neues Projekt Progressive America.

Als Landtagsabgeordneter der PDS und als Landesvorsitzender war ich dann dabei, als es die erste rot-rote Koalition in Berlin gab, nämlich von 2001 bis 2011. Ich habe also den Koalitionsvertrag mitverhandelt und linke Politik aus der Regierungsperspektive, später auch als Fraktionsvorsitzender, mitgestaltet.

2009 bin ich dann in meinem Wahlkreis Pankow, Prenzlauer Berg und Weißensee das erste Mal in den Deutschen Bundestag gewählt worden. Und dies mit Direktmandat – darauf bin ich auch heute noch ziemlich stolz. Den Wahlkreis konnte ich dann zweimal, also insgesamt über drei Wahlperioden, verteidigen, was für die Linken etwas Besonderes bleibt. Im Bundestag war ich darüber hinaus Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, auch außenpolitischer Sprecher unserer Fraktion und Vize-Vorsitzender der Parlamentariergruppe USA. Die transatlantischen Beziehungen aus linker Perspektive zu betrachten, hat mich schon immer interessiert.

Was hast Du während Deiner Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestags denn politisch bewegen können?

Die zwölf Jahre, die ich im Bundestag verbrachte, hat DIE LINKE auf Bundesebene in der Opposition gesessen. Im deutschen politischen System gilt, dass Anträge der Opposition so gut wie nie beschlossen werden. Dennoch habe ich versucht, Themen und Positionen aus linker Sicht einzubringen und somit politischen Einfluss von links auszuüben.

Was hat Dich in dieser Zeit politisch besonders bewegt?

Zwei Dinge, die mich wirklich bewegt haben, sind mir bis heute stark in Erinnerung geblieben: In Kamerun gibt es eine harte Auseinandersetzung zwischen dem französisch- und dem englischsprachigen Teil des Landes. Eines Morgens erfuhren meine Kolleg*innen und ich in geheimer Runde, dass Spezialkräfte der Bundeswehr im Rahmen der Mission «Western Lion» kamerunische Sicherheitskräfte ausbildeten. Nachmittags wurde dann im offiziellen Kontext über die Gräueltaten der Sicherheitskräfte vor Ort berichtet. Dass die Bundeswehr Sicherheitskräfte in einem Land ausbildete, in dem Bürgerkrieg herrschte, war für mich absolut falsch. Durch viele Fragen und in Zusammenarbeit mit Journalist*innen habe ich dazu beigetragen, dass die umstrittene Ausbildungsmission in Kamerun beendet wurde.

Besonders bewegt hat mich auch Namibia, das zwischen 1884 und 1915 unter deutscher Kolonialherrschaft stand. Vor allem in der Zeit zwischen 1904-1908 kam es – im Zuge der Niederschlagung eines antikolonialen Aufstands – zu schlimmsten Gräueltaten. Zehntausende Angehörige der Volksgruppen Herero und Nama wurden durch deutsche Truppen getötet. Ich habe mich erfolgreich dafür eingesetzt, dass in Namibia ein Goethe-Institut eingerichtet wurde.

Letztes Jahr hast Du Dich nach insgesamt 25 Jahren linker Politik dazu entschieden, Dein Amt als Bundestagsabgeordneter niederzulegen. Warum diese Entscheidung?

Ich bin ein durch und durch politischer und linker Mensch – und das wird auch immer so bleiben. 25 Jahre sind eine lange Zeit. Als ich 1995 Abgeordneter wurde, hätte ich niemals geglaubt, dass ich so lange im Amt bleiben würde. In den letzten Jahren habe ich zunehmend gemerkt, dass ich mal etwas Anderes machen muss. Insbesondere meine Zeit als Außenpolitiker hat in mir die Neugier geweckt, in einem anderen Land zu leben. Durch mein Amt bin ich zwar an viele Orten gereist, oftmals waren das aber nur kurze Momente im Rahmen einer zweitägigen Delegationsreise. Jetzt freue ich mich darauf, die Möglichkeit zu haben, einige Monate im Ausland zu verbringen und progressive Menschen vor Ort besser kennenzulernen.

Du bist seit dem 1. Januar Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York für transatlantische Themen, was bedeutet, dass Du Dein vorheriges Mandat als «politischer Brückenbauer» weiterführen wirst. Von wo aus und über was wirst Du in den kommenden Monaten für die Stiftung berichten?

Europäer*innen haben in den letzten Jahren viele Dinge aus Nordamerika gehört, die kritikwürdig waren. Man hat Donald Trump, den virulenten Rassismus und die Kriege in Afghanistan und dem Irak mitbekommen.

Dies hat aber auch dazu geführt, dass ein fast durchgängig negatives Bild über das Land vermittelt wurde. Ich habe mich in meiner Zeit als linker Politiker immer dafür stark gemacht, dass man nicht für oder gegen ein Land sein kann, sondern dass wir an der Seite der Menschen stehen, die für ihre sozialen Rechte – wie Frieden, Gender Equality und eine gesunde Umwelt – kämpfen.

Unter der Überschrift Progressive America möchte ich daher über das «andere» Amerika berichten. Während zweier längerer Aufenthalte – nämlich von Februar bis April und von September bis November dieses Jahres – werde ich also im Auftrag des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung durch die USA und Kanada reisen und fortschrittliche Menschen treffen – Menschen, die beispielsweise als sozialistische Kommunal-Abgeordnete linke Alternativen stark machen wollen, die als Gewerkschafter in einer Industrieregion für starke Gewerkschaften kämpfen, die sich für den Green New Deal, Black Lives Matter und Stop Asian Hate einsetzen.

Mein Ziel ist es nicht, ein systematisches Mapping der amerikanischen Linken vorzunehmen. Vielmehr geht es mir darum, mit einzelnen Geschichten progressive Ansätze zu illustrieren, um ein buntes Bild von Nordamerika zu zeichnen. Meine Berichte werden dann auf der Webseite und den Social-Media-Kanälen der Rosa-Luxemburg-Stiftung und auf meinem Blog «Progressive America» erscheinen. Gleichzeitig bin ich auch im Gespräch mit linken Medien.

Am 8. November werden die Midterms, die sogenannten Halbzeitwahlen, stattfinden. Wirst Du im Hinblick darauf tiefer in progressive Wahlkampfdebatten eintauchen?

Genau. Während ich die ersten drei Monate meiner Reise dafür nutzen möchte, die erwähnten Einblicke zu porträtieren, also über linke Kultur und Geschichte in den USA und Kanada zu berichten, möchte ich im zweiten Teil konkret auf die Zwischenwahlen eingehen. Wo finden spannende, umkämpfte Rennen und Wahlkampfveranstaltungen statt? Wer sind interessante, progressive Kandidat*innen? Diesen und ähnlichen Fragen werde ich nachgehen.

Mit Blick auf Demokratie und Sozialpolitik geben die Midterms ja Grund zur Sorge…

Als Teil meiner Arbeit sehe ich es als wichtig an, an die Öffentlichkeit und an etablierte transatlantische Institutionen zu vermitteln, dass sich die demokratischen Strukturen in den USA in den letzten Jahren verändert haben, zum Positiven wie zum Negativen. Einerseits haben Progressive in Nordamerika massiv an Einfluss gewonnen. In Deutschland kennt man Bernie Sanders als den Mann, der bei Joe Bidens Amtseinführung mit Fäustlingen dasaß. Dass er aber Vorsitzender des wichtigen Haushaltsauschusses im US-Senat ist, was ihn befähigt, Abstimmungen zu «Medicare for all», also einer Gesundheitsversicherung für alle, und Kürzungen im Militärhaushalt zu erzwingen, das weiß kaum jemand.

Genauso wenig ist vielen in Deutschland und Europa bewusst, dass Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) mittlerweile keine linke Einzelkämpferin mehr ist, sondern dass die Progressiven heute fast die Hälfe der demokratischen Abgeordnet*innen im Repräsentantenhaus ausmachen. Auf der anderen Seite bläst progressiven Kräften aber auch aus den eigenen Reihen der Wind ins Gesicht, wie kürzlich am Beispiel der Senator*innen Kyrsten Sinema und Joe Manchin zu sehen war. Sie hinderten ihre Kolleg*innen an der Verabschiedung neuer Bundesgesetze zum Wahlrecht und ebneten damit den Weg für weitere Verschärfungen der Stimmrechtsbeschränkungen in den republikanisch kontrollierten Staaten.

Dass die Demokratie in den USA ernsthaft gefährdet ist, und dass die Republikaner*innen zum Teil Positionen vertreten, wie wir sie in der Bundesrepublik nur von der Alternative für Deutschland (AfD) kennen, kommt bei uns oftmals nicht an. Dieselbe öffentliche Verurteilung und Abgrenzung, die die AfD zu Recht in Deutschland erfährt, findet in den USA aber auch hier in Deutschland gegenüber den Republikaner*innen nur selten statt.

Stefan Liebich bei einem Gespräch mit Québec solidaire-Mitgliedern Marie-Josée Béliveau, André Frappier und Vorsitzenden Alejandra Zaga Mendez.

Du hattest es eingangs bereits erwähnt: Im Deutschen Bundestag warst Du unter anderem Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe USA. Zudem wurdest Du als erster LINKE-Politiker in den Kreis der Atlantik-Brücke aufgenommen. Gleichzeitig bist Du in der DDR groß geworden, in einer Familie, die der Staatsideologie positiv gegenüberstand. Woher kommt Dein ausgeprägtes Interesse an amerikanischer Politik?

Ich habe damals in der DDR akzeptiert, dass es eine Mauer gab, und dass da Länder waren, die ich nicht besuchen kann. In Frage gestellt habe ich das, zu diesem Zeitpunkt, nicht. Als dann 1990 die Mauer fiel und ich der deutschen Vereinigung sehr skeptisch gegenüberstand, hatte ich aber natürlich – wie alle anderen auch – die Möglichkeit, meinen geographischen Horizont zu erweitern.

Im Sommer 2002 kam ich das erste Mal nach New York, in eine Stadt, die von den Terroranschlägen des 11. September und einer aufgeheizten Stimmung rund um den Krieg gegen den Terror geprägt war. Dieser Aufenthalt hat mein Interesse an den amerikanischen Progressiven geweckt. Mit meinem Einzug in den Bundestag im Jahr 2009 wurde ich dann USA-Experte – schlicht, weil ich der Einzige in meiner Fraktion war, der sich damals damit beschäftigen wollte.

Und was hast Du von Deiner Mitgliedschaft im Kreis der Atlantik-Brücke mitgenommen?

Die Atlantik-Brücke ist eine zu Recht umstrittene Organisation. Während meiner damaligen Mitgliedschaft hatte ich jedoch die Möglichkeit, linke Positionen in Diskussionsrunden gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) einzubringen. Während des amerikanischen Wahlkampfs 2016 ist es mir außerdem gelungen, ein großes Porträt über Bernie Sanders zu schreiben und über den Newsletter der Atlantik-Brücke zu verschicken.

Viele linke Europäer*innen haben in den letzten sechs Jahren auf der Suche nach Inspiration auf progressive US-Politiker*innen wie Bernie Sanders und AOC geschaut. Glaubst du, dass durch das Biden-Kabinett der progressive Aufbruch zum Stillstand gekommen ist?

Nein. Die progressiven Kräfte in den USA hatten es seit der Zeit von Ronald Reagan in den 80er Jahren deutlich schwerer. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems kam dann eine weitere Herausforderung hinzu, weil die sozialistische Idee insgesamt diskreditiert war. Als Antwort auf erstarkende Neoliberale wurde 1991 der Congressional Progressive Caucus als Zusammenschluss fortschrittlicher Kongressabgeordneter gegründet. Zu diesem Zeitpunkt lag die amerikanische Linke am Boden. Eine akademische Linke existierte zwar, es gab aber kaum progressive Bewegungen.

Vor etwa zehn Jahren, mit dem Aufkommen von Occupy Wall Street, hat sich dann vieles geändert. Amerikanische Progressive fingen wieder an, auf die Straße zu gehen und für stärkere Kontrollen des Banken- und Finanzsektors durch die Politik, die Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen und die Reduzierung der sozialen Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu kämpfen. Den Präsidentschaftswahlkampf von Bernie Sanders im Jahr 2016 kann man gar nicht genug würdigen. Auf Wahlkampf-Kundgebungen, bei denen teilweise mehr als 50.000 Menschen zusammenkamen, bekannte sich Sanders offen als demokratischer Sozialist. Das war absolut neu, zumindest für amerikanische Verhältnisse. Meiner Meinung nach ist genau in dieser Zeit eine starke progressive Bewegung entstanden, die seitdem nicht zum Stillstand gekommen ist. Dass eine anfänglich kleine Gruppierung wie die Democratic Socialists of America (DSA) seitdem ihre Mitgliederzahl verzehnfachen konnte, dass man heute in allen Bundesstaaten Kandidat*innen findet, die offen sagen, dass sie demokratische Sozialist*innen sind, ist ebenfalls neu.

Das Problem ist, und das hat Andreas Günther, Leiter des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York, in einem Gespräch treffend beschrieben, dass sich die «Stärke der Linken noch nicht in politischer Münze ausgezahlt hat». Sie sind stark, aber im Kongress dominiert weiterhin eine Handvoll einflussreicher, rechter Demokrat*innen.

Muss das amerikanische Zweiparteiensystem hier als Bremse für die Entwicklung progressiver Kräfte verstanden werden?

Die Demokratische Partei umfasst eine riesige ideologische Spannbreite. Auf deutsche Verhältnisse übersetzt, reicht das Spektrum von der LINKEN bis hin zur CDU.

Dies erklärt auch, warum die amerikanische Linke noch nicht mehrheitsfähig ist. Ich habe aber den Eindruck, dass es im ganzen Land deutlich mehr und breitere progressive Bewegungen gibt als früher. Man schaue nur auf die gewerkschaftliche Organisation bei Starbucks-Filialen. Bei Amazon ist zwar ein erster Versuch, ein Logistikzentrum in Alabama gewerkschaftlich zu organisieren, gescheitert. Anfang Dezember urteilte das National Labor Relations Board jedoch, dass die verlorene Abstimmung wegen illegaler Einmischung des Arbeitgebers wiederholt werden muss.

Dass sich diese Bewegungen noch nicht so in der «großen Politik» im Weißen Haus und im Kongress niederschlagen, stimmt natürlich. Aber daran gemessen, wo die Linke vor zehn Jahren stand, ist das auch eine etwas kühne Erwartung.

AOC sagte während des Präsidentschaftswahlkampfs 2020, dass sie und Joe Biden in keinem anderen Land der Welt in derselben Partei wären, außer in den USA.

Das ist natürlich wahr. Wenn progressive Amerikaner*innen aber beklagen, sie würden ein Verhältniswahlrecht bevorzugen, wie wir es in Deutschland haben, um in einer «eigenen» Partei zu sein, dann muss ich ihnen entgegnen, dass dies nicht automatisch größeren politischen Einfluss bedeutet. Ich hatte das bereits am Anfang durchblicken lassen: Im deutschen Wahlsystem ist es nun mal so, dass man seine Stimme beispielsweise für Sozialdemokrat*innen oder Grüne abgibt, am Ende aber eine Koalition regiert, an der auch die FDP und die CDU beteiligt sein können.

Sich als Progressive unter Demokrat*innen einigen zu müssen, ist sicherlich anstrengend. Ein Wahlsystem wie in Deutschland, in dem DIE LINKE zwar, trotz ihrer Flügel, homogener ist als die amerikanischen Demokrat*innen, ist eben nicht automatisch besser, da sie keinen Teil der Regierungsmacht ausmacht.

Mit welchen progressiven Akteur*innen konntest Du Dich bisher austauschen?

Letzte Woche habe ich bereits das erwähnte Interview mit Andreas Günther geführt. Neben Christiane Meier, Leiterin des ARD-Studios in New York, mit der ich mich über ihre Einschätzung der US-Politik unterhalten habe, führte ich noch ein spannendes Gespräch mit Judith Goldstein, die Politik-Professorin an der Stanford University ist. Sie hat historisch noch einmal aufgefächert, warum Demokrat*innen und Republikaner*innen sich so entwickelt haben, wie sie es taten.

Was sind Deine nächsten Vorhaben?

Ganz genau kann ich das noch nicht vorhersagen – ein bisschen Spontanität muss schon sein.

Meine nächste Station ist Lancaster, Pennsylvania. Dort werde ich die Organisation «Lancaster Stands Up» treffen, bei der sich junge Leute für bezahlbare Wohnunterkünfte, Gesundheitsversorgung für alle und gegen Rassismus engagieren. In Philadelphia möchte ich Gewerkschafter und Mitglieder der Philly DSA treffen. Mit ihnen möchte ich mich darüber unterhalten, wie man in Philadelphia sozialistische Politik macht. In Chicago habe ich vor, tiefere Einblicke in die Geschichte der Arbeiterbewegung zu gewinnen. Wenn wir heute weltweit den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse feiern, dann geht dieses Datum auf die Kämpfe der Arbeiter*innen in Chicago zurück. In Kalifornien habe ich mir vorgenommen, Vertreter*innen des neu gegründeten Betriebsrats bei Google zu treffen, die nicht nur die Rechte der Beschäftigten im Blick haben, sondern auch darauf schauen, wie die ethische Verantwortung der mit Daten arbeitenden Mitarbeiter*innen aussieht.

Ich werde mich aber auch mit einem ehemaligen republikanischen Abgeordneten unterhalten, den ich aus meiner Zeit im Bundestag kenne. Er gehört zu jenen, die die Machübernahme von Donald Trump und – obwohl er weiter ein überzeugter Republikaner ist – die antidemokratischen Spielregeln der Partei ablehnen. Das sind nur einige der Geschichten, über die ich in den kommenden Wochen und Monaten berichten werde.

Mit Blick auf die gegenwärtige internationale Lage der Linken: Was können deutsche und amerikanische Progressive Deiner Meinung nach voneinander lernen?

Um voneinander zu lernen, müssen wir uns erst einmal stärker füreinander interessieren. Ich habe oft das Gefühl, dass manche deutsche Linke die amerikanische Linke abschreiben – und umgekehrt. Stattdessen stehen die eigenen sozialen Kämpfe im Vordergrund. Das ist schade.

Allein am Beispiel von New York und Berlin, in denen bezahlbares Wohnen immer rarer wird, kann man sehen, dass hier derzeit ähnliche Kämpfe geführt werden. Linke Strategien und Ansätze, die sich aus den Kämpfen von Berliner*innen mit der Initiative «Deutsche Wohnen & Co. Enteignen», aber auch innerhalb des Parlaments und der Regierung mit Senator*innen wie Katrin Lompscher und Sebastian Scheel ergeben haben, sollten daher stärker in die USA getragen werden. Durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung passiert das ja auch schon.

Auf Parteitagen singen wir regelmäßig «Die Internationale», die heute älter als 150 Jahre ist. Das Internationalistische war schon immer etwas, was die Linke historisch verbunden hat. Deswegen wünsche ich mir, dass sich progressive Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks stärker füreinander und für gemeinsame gesellschaftliche Herausforderungen interessieren.

Stefan Liebich war von 2009 bis 2021 Bundestagsabgeordneter für Die Linke und reist derzeit als RLS-Stipendiat durch Nordamerika. Er veröffentlicht Berichte und Essays auf seinem Blog Progressive America. Übersetzt von Gráinne Toomey und Louise Pain für das Translation Collective.

This Interview was first published on rosalux.de.


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