Juli 10, 2023

Die ultimative Menschenrechtsverletzung: Massenvernichtungswaffen

Sharon Dolev

Sharon Dolev ist eine Friedens- und Menschenrechtsaktivistin, die sich für die Abschaffung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten einsetzt, und zwar durch innovative Politik, Bildung, Lobbyarbeit und Aktivismus. Sie ist die Gründerin und Leiterin der israelischen Abrüstungsbewegung (IDM), der Middle East Treaty Organization (METO) und die israelische Vertreterin der mit dem Friedensnobelpreis 2017 ausgezeichneten International Campaign for Abolishing Nuclear Weapons (ICAN).

Das New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung engagiert sich seit vielen Jahren für die Abschaffung und Abrüstung von Atomwaffen. Seit 2020 haben wir das Privileg, mit METO in unseren gemeinsamen Bemühungen um den Kampf für den Planeten und die Menschen zusammenzuarbeiten.


Die ultimative Menschenrechtsverletzung: Massenvernichtungswaffen 

Der Biochemieprofessor und berühmte Science-Fiction-Schriftsteller Isaac Asimov (1920-1992) arbeitete in seine Kurzgeschichten die drei „Robotergesetze“ ein. Sie sollten als ethische Richtlinien im Umgang mit künstlicher Intelligenz dienen und die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen gewährleisten. Später fügte Asimov als Ergänzung ein „Nulltes Gesetz“ hinzu. Es würde die drei Vorgängergesetze überlagern, wenn sie dem Prinzip der Erhaltung der Menschheit zuwiderlaufen würden.  

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) erkennt die jedem Menschen angeborene Würde und Rechte an, einschließlich des Rechts auf Leben. Angesichts von Massenvernichtungswaffen (MVW) und potenziell gefährlichen neuen Technologien wäre wohl auch heute ein zusätzliches Prinzip angebracht: ein grundsätzlicher „Artikel Null“, der nicht nur die Rechte von Staaten und Menschen schützt, sondern auch unseren Planeten und das Existenzrecht zukünftiger Generationen.   

Menschenrechte und Massenvernichtungswaffen

Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen – sei es nuklear, chemisch oder biologisch – selbst in kleinem Maßstab, hat weitreichende Folgen für die Opfer und künftige Generationen. Überlebende eines solchen Angriffs haben an Langzeitkrankheiten und dauerhaften Behinderungen zu leiden, was ihr Recht auf Gesundheit verletzt. (Artikel 25). Raketen mit Atomsprengköpfen auf Städte zu richten, verstößt gegen internationale Gesetze, die das vorsätzliche Abzielen auf Zivilisten verbieten. Indigene Gemeinschaften  sind direkt von Atomwaffentests und Uranabbau betroffen, was zu Gesundheitsproblemen, Vertreibung, Umweltkontamination und kultureller Entwurzelung führt. Es handelt sich um eine Verletzung des Rechts auf eine saubere und nachhaltige Umwelt (Artikel 12).

Darüber hinaus führen der Besitz und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bei Nationen und Bevölkerungsgruppen zu einem Gefühl der Unsicherheit und Instabilität. Die ständige Angst vor einer Katastrophe untergräbt das Recht der Menschen auf Sicherheit (Artikel 3), Frieden (Artikel 28) und ein stabiles Lebensumfeld.

Ein weiteres Ungleichgewicht besteht zwischen den globalen Ausgaben für Waffen, die Milliarden von Menschenleben auslöschen können, und den Mitteln, die der Rettung von Leben und der Förderung der menschlichen Entwicklung dienen. Bedauerlicherweise, aber wenig überraschend fließt ein Übermaß an finanziellen Ressourcen, die pro Jahr viele Milliarden Dollar ausmachen, in die Entwicklung, Produktion, Lagerung und Instandhaltung von Massenvernichtungswaffen. In krassem Gegensatz dazu werden wichtige Bereiche wie Bildung (Artikel 26), Gesundheitsfürsorge (Artikel 25), Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung unterfinanziert. Diese ungleiche Verteilung perpetuiert die tief sitzende Ungleichheit. Nur ein Bruchteil der für die Lösung dringender Menschenrechtsfragen benötigten Mittel fließt in diesen Bereich.    

Eine Region am Scheideweg

Staaten verwenden ihre Sicherheitsausgaben hauptsächlich zur Sicherung staatlicher Interessen, statt der menschlichen Sicherheit, das heißt dem Wohlergehen und der Sicherheit von Gemeinschaften und Einzelpersonen, Priorität einzuräumen. Im Nahen und Mittleren Osten legt die Mehrheit der Staaten mehr Wert auf die Stärkung der Staatssicherheit und behandelt die Sicherheit der Menschen und die Wahrung der Menschenrechte nachrangig. Ein Beispiel dafür ist der Arabische Frühling, der Ende 2010 begann und zu einer Welle von Aufständen anwuchs. Ausgelöst wurde er durch eine Kombination aus wirtschaftlicher Ungleichheit und Arbeitslosigkeit, begleitet von Korruption und grassierender politischer Unfreiheit. Mit Sicherheit kann man sagen, dass der Mangel an Investitionen in menschliche Sicherheit und Menschenrechte in der Region zu Aufständen, zum Zusammenbruch von Staaten, zum Ausbreitung nichtstaatlicher Akteure und letztendlich zur Neubildung der geopolitischen Landschaft geführt hat. Wenn es um Massenvernichtungswaffen geht, darf man nicht vergessen, dass Staaten zwar für den Einsatz solcher Waffen zur Verantwortung gezogen werden, aber nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten haben, wenn nichtstaatliche Akteure diese Waffen an sich reißen oder verwenden.  

Die Auswirkungen jeglicher Verwendung von Massenvernichtungswaffen sind nicht zu ermessen. Man kann den Umfang radioaktiver Verstrahlung oder die Ausbreitung von chemischen Substanzen ebenso schwer kontrollieren wie eine Pandemie. Ein weiteres globales Problem, das keine Grenzen kennt, ist der Klimawandel: Wasserknappheit, schwere Schäden in der Landwirtschaft, zunehmende Wüstenbildung und Flucht- und Migrationsbewegungen. Der Klimanotstand hinterlässt im  Nahen und Mittleren Osten bereits deutliche Spuren. Er verschärft in dieser instabilen Region ethnische, konfessionelle und politische Spannungen, die keine Regierung im Alleingang bewältigen kann. Das Potential für weitere Ressourcenkonflikte und die Ausbreitung nichtstaatlicher Akteure stellt aber nicht nur eine Bedrohung dar, sondern bietet auch die Möglichkeit, multilaterale Verhandlungen über solche Herausforderungen auf regionaler (und globaler) Ebene voranzutreiben.

Keine regionale Runde zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Abrüstung im Nahen und Mittleren Osten kann deren Trägermittel ignorieren. Dies gilt ganz besonders für die  jährlich stattfindende UN-Konferenz zur Schaffung einer MVW-freien Zone. Sie ist derzeit das einzige Forum, zu dem alle Staaten im Nahen und Mittleren Osten zur Zusammenarbeit in einem regionalen Kontext eingeladen sind. Dabei geht es um Raketen, U-Boote und Flugzeuge. Um zu einer Einigung über die „großen Waffen“ zu kommen, muss sich die Diskussion entsprechend auch mit der regionalen Sicherheit befassen. Zu hoffen ist, dass diese Gelegenheit nicht verpasst wird und die Debatte zur regionalen Sicherheit auch die menschliche Sicherheit in ihrer ganzen Komplexität mit einbezieht.  

Die Geheimhaltung der meisten Programme von Massenvernichtungswaffen erschwert eine transparente, offene und öffentliche Diskussion über ihren Einsatz und nimmt uns allen das Recht auf Ausübung der Meinungsfreiheit (Artikel 19). Denn diese Waffen stellen eine Bedrohung für die Menschheit dar, und das nicht erst, wenn sie eingesetzt werden, sondern schon während des Produktionsprozesses, das heißt wenn sie erforscht, entwickelt, beschafft und hergestellt werden. Aufgrund der staatlichen Geheimhaltung und des Desinteresses von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien an diesem „verbotenen“ Thema ist die öffentliche Diskussion über MVW unzureichend. Da die Debatte darüber ausbleibt, fällt uns eine breitenwirksame Aufklärung über die großen Risiken und Menschenrechtsverletzungen, die mit Massenvernichtungswaffen zusammenhängen, sehr schwer.

Israels nukleare Ambiguität

Der einzige Staat im Nahen Osten, der sich dem regionalen Diskurs verschließt, ist Israel. Dass es über nukleare, chemische und biologische Waffenprogramme verfügt, darf als gesichert gelten. Israels Politik der nuklearen Ambiguität wirft schwere menschenrechtliche Bedenken auf, insbesondere in Bezug auf das Recht auf Information (Artikel 19), das Recht auf Sicherheit (Artikel 3) und das Recht auf eine saubere und nachhaltige Umwelt (Artikel 12). Da der Rest der Welt Israel für einen Atomwaffenstaat hält, zielt die Politik der nuklearen Ambiguität, die die Regierung verfolgt, in erster Linie auf die israelischen Bürger:innen ab. Das Tabu,  das dieses Thema umgibt, verhindert einen offenen Dialog. Es hindert zivilgesellschaftliche Organisationen daran, Bedenken im Zusammenhang mit den Massenvernichtungswaffenprogrammen zu äußern und die Gefahr zu thematisieren, die diese Programme für die Gemeinden in der Umgebung von Massenvernichtungswaffenanlagen darstellen.  Auch den israelischen Medien fehlt das Wissen und die Erfahrung, um dieses Thema objektiv und angemessen kritisch zu behandeln. Dies ist auch im Zusammenhang mit der regionalen Sicherheit der Fall  –  aufgrund eines Mangels an Diskurs und aufgrund der Haltung, es sei sicherer wegzusehen und diese ökologischen und geopolitischen Zeitbomben zu ignorieren.

Ein ganzheitlicher Ansatz zur Abrüstung von Massenvernichtungswaffen

Um für Abrüstung und die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen auf regionaler und globaler Ebene zu sorgen, müssen Zusammenhänge erkannt und ein ganzheitlicher Ansatz gewählt werden. So unterstreicht die Middle East Treaty Organisation die Notwendigkeit eines umfassenden Rahmens, um die komplexen Herausforderungen zu bewältigen, denen die internationale Gemeinschaft gegenübersteht. Sie hebt die Wechselwirkungen hervor: Abrüstung, Massenvernichtungswaffen, globale Sicherheit und Menschenrechtsanliegen. Zu letzteren zählen der Zugang zu sauberem Trinkwasser (Artikel 25), Bildung, Gesundheitsversorgung, Armutsbekämpfung und ökologische Nachhaltigkeit.

Wenn wir uns auf die Abrüstung und Abschaffung von Massenvernichtungswaffen versteifen, besteht die Gefahr, dass wir zugrunde liegende, globale Spannungs- und Konfliktpunkte aus dem Blick verlieren. Aus der Verknüpfung genereller Abrüstungsbemühungen mit Fragen der menschlichen Sicherheit kann ein umfassender Ansatz entstehen, der den Ursachen von Instabilität auf den Grund geht. Die Existenz und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen stellen die ultimative Menschenrechtsverletzung dar. Wenn wir uns die Prinzipien eines „Artikel Null“ zu eigen machen und dabei die Abschaffung von Massenvernichtungswaffen mit menschlichen  Sicherheitsbelangen verknüpfen, ist der Einsatz für eine sichere und gerechtere Welt eine Möglichkeit. Unabdingbar ist es, dem Schutz von Leben, dem Schutz der Menschenrechte und dem Streben nach globalem Frieden Priorität einzuräumen. Arbeiten wir gemeinsam am Abbau fortschrittsfeindlicher Barrieren und am Aufbau einer Zukunft, in der das Recht auf Leben wirklich für alle gilt: für künftige Generationen, für andere Arten und für den Planeten selbst.


Sharon ist seit über 35 Jahren eine soziale und politische Aktivistin. Zusätzlich zu den oben genannten Funktionen war sie Direktorin von Greenpeace in Israel und leitete die Friedens- und Abrüstungskampagnen der Organisation. Sie war auch in der Meretz-Partei aktiv, einer linken, sozialdemokratischen und grünen politischen Partei, die auch als Bewegung für Bürgerrechte bezeichnet wird, in der Genfer Initiative und bei Women in Black, einem weltweiten Netzwerk von Frauen, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen und sich aktiv gegen Ungerechtigkeit, Krieg, Militarismus und andere Formen von Gewalt wenden. In den letzten Jahren moderierte sie eine wöchentliche Radiosendung mit dem Titel „According to foreign sources“, in der sie über Massenvernichtungswaffen weltweit, die Zone und den Zustand der Demokratie in Israel diskutierte.


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