Dezember 21, 2020

Wie Deutschland Sexarbeiter*innen im Stich lässt

Rosa Luxemburg Stiftung - New York

Als im März der erste Lockdown in Deutschland in Kraft trat, riefen meine Kolleg*innen und ich eine Online-Veranstaltungsreihe von und für Sexarbeiter*innen ins Leben. Wir tauschten Informationen über die COVID-19-Regeln und Schutzmaßnahmen aus und beantworteten Fragen zur Inanspruchnahme von staatlichen Soforthilfen. Wir waren offen für Sexarbeiter*innen in Zeiten der Not. Durch diese wöchentlichen Veranstaltungen waren wir in der einzigartigen Lage, von vielen Sexarbeiter*innen etwas über ihre aktuelle Situation und ihre Probleme zu erfahren. Wir hielten die Treffen bis Juni ab und haben sie beim zweiten Berliner Lockdown wieder aufgenommen.

Eine unmittelbare Auswirkung des Lockdowns waren Reisebeschränkungen. Davon am stärksten betroffen waren zunächst temporäre Arbeitsmigrant*innen, Nicht-EU-Migrant*innen ohne dauerhaften Status in Deutschland und neu zugewanderte Menschen. Mit der Schließung der Bordelle und der Grenzen saßen Arbeiter*innen, die in Berlin einen mehrmonatigen Aufenthalt geplant hatten, ohne Arbeit und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr nach Hause fest. Mit der vorübergehenden Schließung der Ausländerbehörde fanden sich Nicht-EU-Migrant*innen, die auf die Verlängerung ihres Visums warteten, in einer rechtlichen Grauzone wieder.

Zu den Aufenthalts- und Visaproblemen kamen Reisebeschränkungen hinzu. Sexarbeiter*innen waren nicht mehr in der Lage, innerhalb von Deutschland oder ins Ausland zur Arbeit zu reisen. Viele von uns waren deshalb gezwungen, die Arbeitsweise zu ändern.

In Gesprächen, die ich seit März mit Hunderten von Berliner Sexarbeiter*innen geführt habe, ergab sich, dass COVID-19 unsere Einkünfte massiv beeinträchtigt hat. Jede Form von Sexarbeit, die Präsenz erfordert, war von März bis September illegal und wurde danach mit Beginn des zweiten Lockdowns erneut für illegal erklärt. Dies wirkte sich sehr negativ auf Stripper*innen, professionelle Dominas und Bordellarbeiter*innen aus. Nach Monaten der Ungewissheit entschieden sich viele Sexarbeiter*innen, auf andere Tätigkeitsbereiche auszuweichen, darunter auch auf Mindestlohnjobs.

Einige von uns gingen zur Online-Sexarbeit über, wie dem Verkauf von Videochats, vorab aufgezeichneten Videos oder Bildern mithilfe von Webseiten wie OnlyFans. Anfangs waren diese Plattformen vielversprechend. Doch nur die technisch versiertesten Arbeiter*innen, die ihr Gesicht entblößten, ihre Privatsphäre und Daten aufgaben sowie über englische Sprachkenntnisse verfügten, schafften es, von der Online-Arbeit zu leben. Für andere waren die Einstiegshürden zu hoch.

Das deutsche Sozialsystem sorgte in Form von staatlichen Hilfeleistungszahlungen für Entlastung, vor allem mit der Soforthilfe, einer einmaligen Zahlung von 5.000 Euro für Freiberufler*innen. In diese Kategorie fallen auch Sexarbeiter*innen, und viele erhielten nach einer Antragstellung den Zuschuss auch. Erhellend ist jedoch, wer ihn bekam und wer nicht. Sexarbeiter*innen, die in den Genuss der 5.000-Euro-Zahlung kamen, waren Freiberufler*innen mit einer Steuernummer, Wohnsitz in Berlin, einer Einkommenssteuererklärung vom Jahr davor, Deutschkenntnissen und mit einer behördlichen Registrierung laut dem Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG). Laut diesem Gesetz von 2016 sind Sexarbeiter*innen zur Registrierung ihrer Daten verpflichtet. Keinen Anspruch auf die Soforthilfe hatten somit neuere Migrant*innen, diejenigen mit abzusehenden Problemen bei einer späteren Visumsverlängerung, aus Angst vor dem Outing nicht unter dem ProstSchG registrierte Menschen, aufgrund von Visaproblemen illegal Arbeitende und diejenigen, die ihre Einkünfte aus der Sexarbeit nicht versteuert hatten. Wer bei den Behörden nach der Anspruchsberechtigung fragte, erhielt eine entsprechende Auskunft viel zu spät, als nämlich die von der Regierung zugewiesenen Mittel bereits aufgebraucht waren.

Im Großen und Ganzen sind die Sexarbeiter*innen, die leer ausgingen, mehrfach marginalisiert. Es handelt sich um undokumentierte Schwarzarbeiter*innen, neue und Nicht-EU-Migrant*innen und solche ohne Deutschkenntnisse. Sexarbeitsorganisationen in Deutschland, darunter auch Hydra, haben Spenden gesammelt, um Hunderten, die keine staatlichen Zuschüsse erhielten, sofortige Hilfe in Form von Bargeld zukommen zu lassen. Aber eine einmalige Zahlung von 200 bis 500 Euro reicht nur für ein paar Lebensmittel oder eine Monatsmiete aus. Die klassenspezifischen Ungleichheiten bei den Sexarbeiter*innen wuchsen nur noch an. Wer einen Zuschuss erhielt, war überwiegend weiß, deutsch und aus der Mittelschicht, und konnte das Einkommen und die freie Zeit oft nutzen, um in eine langfristige, Corona-taugliche Berufsausbildung zu investieren. Wer das Geld nicht erhielt und weiterarbeitete, hatte zu kämpfen mit dem Lockdown, der Illegalität von Kontaktsexarbeit und den gesundheitlichen Risiken.

Die ohnehin schon schwierige Situation wird durch die feindselige Haltung der Behörden, der Polizei und der Medien noch verschärft. Die von der Regierung und den Medien vorgenommene Einteilung in „unverzichtbare“ und „verzichtbare“ Arbeiter*innen hat dazu geführt, dass letztere in der Öffentlichkeit für weniger schutzbedürftig und für nicht so unterstützenswert gehalten werden. Mehrere Mitglieder des Berliner Senats bezeichneten Sexarbeiter*innen als Superspreader und wärmten damit das alte Vorurteil von Sexarbeiter*innen als dreckigen Einwanderer auf, der Krankheiten einschleppt. Wenn sich dieser Sprachgebrauch durchsetzt, wird es für uns schwer, die Kontrolle über unsere Körper zu behalten und der Sexarbeit Legitimität zu verschaffen.

In ähnlicher Weise führte die Berliner Polizei bei der Schließung von Etablissements von April bis Juni gleichzeitig Razzien in Wohnungen von Sexarbeiter*innen durch, die sich dort mit Kund*innen treffen. Sie wurden dann als Unternehmer wegen Verstoßes gegen die COVID-19-Beschränkungen mit Geldstrafen belegt. Am Härtesten betroffen waren Überlebens-Sexarbeiter*innen, die im Freien tätig sind und manchmal mehrere Bußgelder am Tag erhielten. Unabhängige Escorts berichteten von mehr verdeckten Ermittlern und ausgefeilteren Ermittlermethoden als sie bis dahin erlebt oder gehört hatten. Zwangsläufig traf es die ärmeren, marginalisierten Sexarbeiter*innen, die keine staatliche Unterstützung erhielten und weiterarbeiten mussten. Sie waren vor die Wahl gestellt, entweder ihre Existenzgrundlage zu verlieren oder Angst, Razzien und Geldstrafen hinzunehmen und wegen illegaler Arbeit erwischt zu werden. Die Razzien waren zu keinem Zeitpunkt von einer höheren Stadtbehörde genehmigt worden. Sexarbeiter*innen-Organisationen versuchten, das polizeiliche Eingreifen und die Razzien durch Druck auf die Stadt zu stoppen. Aber offenbar stand es der Polizei anheim, eigenständig gegen Sexarbeiter*innen vorzugehen. Die Razzien wurden schließlich mit dem Kompromiss aufgegeben, nicht mehr die Sexarbeiter*innen zu verfolgen, sondern gegen die Kund*innen vorzugehen. Wenn allerdings die Kriminalisierung von Kund*innen in Deutschland Schule macht, dann ist es nicht mehr weit zu einem entsprechenden Gesetzesentwurf. Das würde uns sehr schaden.

Dies ist nur der Anfang. COVID-19 hat kurz- und langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit von Sexarbeiter*innen. Das Verhalten der Kund*innen hat sich verändert. Sie treten in vielen Fällen fordernder und gewalttätiger auf. Alles in allem ist unsere Fähigkeit durchzuhalten, zu überleben und aufzublühen lobenswert, angesichts von Armut, Gewalt und Ärger mit dem Gesetz. Eine Überraschung sind diese Fähigkeiten nicht, wenn man bedenkt, dass Sexarbeit und Sexarbeiter*innen in legalen und illegalen Formen existieren, gerade in Krisenzeiten.

Damit wir überleben können, müssen sich unsere Behörden, die Medien und der Sozialstaat in Deutschland viel besser um uns kümmern. Sexarbeit ist Arbeit und Sexarbeiter*innen sind ein aktiver, bereichernder Teil der Gesellschaft. Wir brauchen Politiker*innen, die das begreifen. Wir sollten denselben Zugang zu Wohnraum, finanzieller Unterstützung und sozialer Versorgung haben wie Migrant*innen, Nicht-Migrant*innen und Nicht-Sexarbeiter*innen, ohne das Stigma, die Hürden und die Illegalisierung. Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 werden noch länger anhalten. Damit der bereits angerichtete Schaden behoben wird, wäre dies das Mindeste, was wir erwarten.

Liad Hussein Kantorowicz ist seit vielen Jahren Sexarbeiterin, Aktivistin für Sexarbeiter-Rechte und Mitbegründerin sowie Leiterin des Hydra-Peers-Projekts. Es sorgt für Peer-Education, Informationsverbreitung und Unterstützung für und durch Berlins Sexarbeiter-Communities bei Hydra e.V., Deutschlands ältester Sexarbeiter-Organisation.

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