Dezember 21, 2020

Pandemie-Sexarbeit in New York City

Rosa Luxemburg Stiftung - New York

Ich bin in New York City aufgewachsen, mit Dreck auf den Straßen und Müllhaufen auf den Gehwegen. Das Coronavirus ist nicht der erste Krankheitserreger, der unsere Stadt heimsucht. Es ist nicht die erste Pandemie, die unsere Stadt zu drastischen Veränderungen zwingt. Nur ist diese Pandemie einfach ganz anders als alle anderen davor.

Mit Entsetzen verfolgte ich im Fernsehen, was in der Stadt passierte, als der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo den Bundesstaat auf „PAUSE“ setzte. Ich hatte Flashbacks von Nachrichten aus der Zeit, als ich ein Kind war und HIV in New York City wütete. 1986 war ich sechs, und HIV war auf seinem Höhepunkt. Die Ähnlichkeiten zwischen der frühen Berichterstattung über COVID-19 und HIV waren frappierend. Die Expert*innen wussten nicht, woher HIV kam, was es war, wer es kriegen konnte, wer immun war, wie es sich verbreitete. Die Welt geriet in Panik.

Im März 2020 gucke ich Nachrichten. Die Rede ist von einem Erreger namens Coronavirus. Er soll so virulent und tödlich sein wie HIV in den 80er Jahren. Ich denke sofort an SARS im Jahr 2003 und H1N1 im Jahr 2009.

Als H1N1 zuschlug, war ich zu Hause und schaute mit meinem Opa Nachrichten. Er warnte mich davor, nach draußen zu gehen, U-Bahn zu fahren und mit Leuten abzuhängen. Ich war damals Ende Zwanzig, arbeitete seit ein paar Jahren als Domina, und wenn ich nicht im BDSM-Verlies war, arbeitete ich auf der Straße.

Ich hörte nicht hin. Denn ich musste ja arbeiten.

Das war in den Straßen von Brooklyn, wo man über das Virus nicht viel sprach. Wenn ich nach Hause kam, schauten Opa und ich zusammen wie immer die Nachrichten. Sicher, mir war bewusst, dass es das Virus gab, und ich machte mir Sorgen. Aber wiederum… ich musste arbeiten.

Ich traf Vorsichtsmaßnahmen, indem ich potenzielle Kund*innen auf erkältungs- und grippeähnliche Symptome und Atemschwere abcheckte. Ich trug in der U-Bahn eine Maske und fasste außerhalb der Wohnung nichts an, Aufzugsknöpfe, Treppen- und U-Bahn-Geländer etc.

Im Herbst 2010 wurde ich krank. Ich arbeitete damals in einem gemieteten Studio. Wir Sexarbeiter*innen waren vernetzt und mieteten solche Räumlichkeiten, damit wir Kund*innen zu flexiblen Preisen und Zeiten empfangen konnten. Die Studiowohnung war nicht luxuriös eingerichtet, aber schön und sauber. Nur Sexarbeiter*innen nutzten sie.

Als ich mich das erste Mal krank fühlte, arbeitete ich trotzdem weiter, weil ich dachte, ich hätte nur eine Erkältung. Ich sagte der Kundschaft, dass ich mich krank fühlte, gab ihnen die Option, zu buchen oder eben nicht, nahm rezeptfreie Medikamente, um meine Symptome zu unterdrücken, und arbeitete einfach weiter. Nach ein paar Tagen war mir klar, dass es sich um mehr als nur eine Erkältung handeln musste. Ich hatte hohes Fieber, konnte kaum aus dem Bett aufstehen und hatte Mühe zu atmen. Aber dann machte ich mir Tee, kochte Suppe, nahm das Erkältungsmittel Theraflu, um die Symptome zu unterdrücken, und ging wieder zur Arbeit. Da ich mit meinem Opa, einem älteren Mann mit einer Herz- und Lungenkrankheit, zusammenlebte, hatte ich Angst, nach Hause zu gehen, jedes Mal, wenn ich durch Brooklyn gelaufen war. Zweimal in der Woche pendelte ich deshalb eine Stunde in beide Richtungen, um für drei Tage in Brooklyn zu sein und vier Tage zu Hause mit Opa in Manhattan. In Brooklyn wurde ich kränker. Ein Kunde hat mich damals fast eine Woche lang rund um die Uhr betreut und schließlich meine Familie angerufen, als ich es nicht nach Hause schaffte.

Zwei Wochen nach dem ersten Auftreten der Symptome begab ich mich ins Krankenhaus. Die Diagnose lautete Lungenentzündung. Man verordnete mir sechs Wochen Bettruhe zu Hause. Das war für meine Arbeit und mein Bankkonto natürlich katastrophal. Ich zog mich in mein Schlafzimmer zurück, so weit weg von Opa wie nur möglich, und nach ein paar Wochen hatte auch Opa eine Lungenentzündung. Zum Glück erholten wir uns dann beide.

Als H1N1 in der Stadt umging, setzte die New Yorker Verkehrsbehörde auf Risikominderung. U-Bahn-Benutzer*innen empfahl sie Masken und soziale Distanz; „Eine Armlänge Abstand halten“, lautete das Motto und die Stadt und der Staat riefen zur freiwilligen Einhaltung auf. COVID-19 heute fühlt sich an wie all die Pandemien davor zusammengenommen.

Bis auf „Shelter in Place“ (Ausgangssperre bzw. Selbstquarantäne, Anm. D. Ü.). Diese Reaktion auf COVID-19 ist etwas anderes.

Ich bin seit 1992 beruflich und ehrenamtlich tätig in der Sexualgesundheit sowie in der Aufklärung und Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen. Als „Shelter in Place“ angewiesen wurde, überschlugen sich meine Gedanken. Was ist mit den Menschen, die ich betreue? Meine Arbeit konzentriert sich auf Menschen, die auf der Straße arbeiten, und auf Obdachlose. Die Menschen, die ich betreue, können eine Ausgangssperre nicht einhalten oder sich in Selbstquarantäne begeben. Viele sind Drogen abhängig. Was ist mit all meinen Kolleg*innen im Sexgewerbe, die nicht online arbeiten? Unser Einkommen hängt von intimen Begegnungen ab. Viele entziehen sich herkömmlichen Beschäftigungsverhältnissen.

Als ich mich im Frühling in Selbstquarantäne begab, musste ich an alles Vieles denken: an die Kolleg*innen, die Dienstleistungen anbieten, um in Hotelzimmern schlafen zu können; an Sexarbeiter*innen, die zusammenleben oder den Job vorübergehend machen; an Orte, an denen Sexarbeiter*innen auf Abruf arbeiten, an Salons, BDSM-Verliese… meine Gedanken rasten! Was würde aus der Sexarbeit werden!?!?!

Dann erinnerte ich mich: Wir sind der älteste Beruf der Welt. Das ist zwar ein abgenutztes Klischee, das dazu dient, uns abzuwerten. Aber in diesem Fall unterstreicht es, wie widerstandsfähig Sexarbeiter*innen sind. Ich persönlich habe schon mehrere, weniger schlimme Pandemien erlebt und durchgestanden. Aber würden ich und andere Sexarbeiter*innen diese Pandemie überleben?

Schnelles Vorspulen zum Sommer. Als Langzeitmieter*innen, die sich wegen der Ausgangssperre in Selbstquarantäne begeben hatten, konnten wir uns nicht vorstellen, dass unser Vermieter sein Haus mit uns Mietern*innen drin verkaufen würde. Aber dann machte er es. Ich musste meine BDSM-Arbeit stark herunterfahren. Dazu kam das SESTA-FOSTA-Gesetz von 2018, das zwar Webseiten, die Sexhandel möglich machten, verbot, aber auch Online-Netzwerke, auf die Sexarbeiter*innen angewiesen waren, zerstört hat. Ich betrachte mich inzwischen als halbpensioniert. Meine Stammgäste sind handverlesen, wir kennen uns seit Jahren. Ich habe keinen von ihnen seit dem Frühjahr gesehen. Aber jetzt brauchte ich dringend Geld, um umzuziehen und meine Rechnungen zu bezahlen. Was also tun?

Vor unserer ersten Sitzung hatten wir beide Angst, uns mit Covid-19 anzustecken. Er ist ein Nippel-Folter-Typ. Sollte es ein Date im Auto sein? Oder ist es sicherer im Hotelzimmer? Wie sicher ist es, zusammen in einem Auto zu sein? Wir haben beide Familienangehörige. COVID-19 bei einer Sitzung zu kriegen ist ein schrecklicher Gedanke für beide, Freier und Sexarbeiter*in.

Als ich mich in sein Auto setzte, war seine erste Frage: „Wie lauten die neuen Regeln? Ich weiß, du hast neue Regeln“. Daran hatte ich nicht gedacht. Ich antwortete: „Wenn meine Maske unten ist, bleibt deine oben. Die Fenster im Auto bleiben offen. Und wir bleiben im Auto wegen der Lüftung.“ Das ging nicht gut, wir waren beide zu nervös. In der darauffolgenden Woche trafen wir uns wieder unter denselben Verfahrensregeln, und dieses Mal funktionierte es. In der folgenden Woche traf ich mich wieder mit ihm, stieg in sein Auto und, ohne es mit mir abzusprechen, fuhr er uns zu einem Hotel. Ich weigerte mich, mit ihm ein Zimmer zu buchen, weil ich nicht bereit dazu war, mit einem Kunden in einem geschlossenen Raum zu sein.

Ich weiß nicht, wann ich dazu bereit sein werde.

Vielleicht, wenn ich in einem BSDM-Verlies wäre. Hier sind wir es gewöhnt, vor und nach den Sitzungen alles gründlich zu desinfizieren. Momentan, bei steigenden COVID-19-Fallzahlen, fühle ich mich nicht wohl an Nippeln zu ziehen in einem Auto, Maske tragend und mit offenen Fenstern – zumindest im Moment nicht.

Jay/Jae ist eine halbpensionierte Domina, Forscherin und Anwältin, die mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen in New York City und Atlanta im Bundesstaat Georgia arbeitet. Sie engagiert sich für Sexualgesundheit, Prävention von Krankheitsübertragungen und Strafrechtsreformen.

Read of the other articles in this series or download the PDF:

Kämpfe um Geld und Würde: Sexarbeit in Berlin

Bis auf weiteres bekleidet: Strippen in COVID-19-Zeiten

Wie Deutschland Sexarbeiter*innen im Stich lässt

Unsichtbar: Sexarbeit und gegenseitige Hilfe während der Corona-Krise


Verbunden