Dezember 21, 2020

Kämpfe um Geld und Würde: Sexarbeit in Berlin

Rosa Luxemburg Stiftung - New York

In Deutschland und in vielen Teilen der Welt wird die COVID-19-Pandemie mit Sexarbeiter*innen in Verbindung gebracht. Sie werden für etwas verantwortlich gemacht, für das sie nicht verantwortlich sind, nämlich die Krise unter Kontrolle zu halten. Gleichzeitig erleben wir obszöne Schwanzvergleiche in der politischen Landschaft von Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo Erkrankungen und Sterbefälle hingenommen werden, um „die Wirtschaft zu retten“, und hurenfeindliche, fremdenfeindliche, transphobe, rassistische und klassistische Diskriminierungen von Sexarbeiter*innen bruchlos weiter gehen.

Das Coronavirus ist eine Gefahr für Berufe und Existenzen auf der ganzen Linie. Von der Kunst bis zum Einzelhandel – wer oder was als lebensnotwendig angesehen wird, hat sich verschoben. Eines aber bleibt konstant: der Hass auf Frauen sowie auf alle, die dem heteronormativen Urteilsblick nicht standhalten. Und das vor allem, wenn diese Frauen und alle anderen feminisierten Menschen in der Branche mehr verdienen als Männer. Vor allem aber auch, weil es sich um eine Arbeit handelt, die – so die gängige Meinung – für das Patriarchat umsonst zu verrichten sei. Obwohl der Prostitution oder der Sexarbeit generell der Ruf vorauseilt, “der älteste Beruf der Welt“ zu sein, wird im herrschenden patriarchalen Diskurs verleugnet, dass diese Tätigkeit ein wirklicher Beruf ist. Deshalb sind Sexarbeiter*innen selbst in Deutschland mit seinem angeblich “günstigen” Rechtsklima auf Dauer stark gefährdet.

Sexarbeiter*innen auf der ganzen Welt blicken in die Abgründe von finanziellen Einbußen, Obdachlosigkeit und Gefährdung von Leib und Leben. Regierungen haben die meisten Sexarbeiter*innen von finanziellen Hilfspaketen ausgenommen und ihnen das Recht auf Arbeit entzogen. Gleichzeitig durften vergleichbare Etablissements derselben Branche weiter betrieben werden. Damit geht eine Stigmatisierung der Tätigkeit und derjenigen, die sie ausüben, einher, die Betrügern, Dieben und Vergewaltigern Tür und Tor öffnet.

Deutsche Politiker*innen nahmen die Gunst der Stunde wahr und versuchten, die Uhr auf die Zeit vor der Legalisierung von Sexarbeit im Jahr 2002 zurückzudrehen. Sexarbeiter*innen wurden bewusst als „Superspreader“ von COVID-19 diffamiert. Die Öffentlichkeit sollte davon überzeugt werden, dass Bordelle und Stripclubs geschlossen und private Full-Service-Sexarbeit verboten bleiben müssten, während andere Branchen ihren Betrieb wieder aufnehmen durften. So war die Full-Service-Sexarbeitsbranche die allerletzte, die wieder zugelassen wurde: ein direktes Ergebnis von Hurenphobie, Sexismus und Ignoranz.

In der Pandemie mussten Sexarbeiter*innen-Communities die gegenseitige Hilfsarbeit verstärken. Viele gerieten in finanzielle Not, weil sie Kund*innen verloren und der Konkurrenzdruck wegen des Anstroms ins Online-Geschäft stärker wurde. Einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen war für Viele nicht mehr möglich. Es überrascht nicht, dass viele dieser Arbeiter*innen Frauen, trans- und nicht-binäre Menschen und Immigrant*innen sind, viele davon Schwarz.

In diese schwierige finanzielle Lage brachte uns allerdings nicht erst COVID-19. Die Branche braucht einen neuen Ansatz zum rechtlichen Schutz ihrer Arbeiter*innen und eine Kampagne für die Entstigmatisierung. Die grobe Vernachlässigung dieser Berufstätigen geht einher mit der steigenden Anzahl von Straftätern, die in ihnen eine leichte Beute sehen. Denn sie nutzen die rechtlichen Schlupflöcher aus, die in legalisierten Sexarbeiter-Modellen enthalten sind.

Es ist wichtig, zwischen den Straftätern, die die Sexarbeiter*innen missbrauchen, und andererseits den Kund*innen, die einen respektvollen Umgang pflegen und den Arbeiter*innen, die diesen eine Dienstleistung anbieten, zu unterscheiden. Schließlich bezeichnen wir einen Dieb, der sich in einem Geschäft als Käufer ausgibt, nicht als Kunde. Ebenso wenig sollten wir jemanden, der eine Sexarbeiterin ausraubt, als Kunden betrachten.

Die Straftäter geben sich zunächst als seriöse Kunden aus, begehen dann aber Grenzüberschreitungen in der Hoffnung, die Sexarbeiter*innen würden bei ihrer verzweifelten Suche nach Einkommen einfach nachgeben. Wenn die Regierung sich weigert, Sexarbeiter*innen in die Finanzplanungen miteinzubeziehen und stattdessen Gesetze verabschiedet, die die Menschen kapitalismusbedingt zu unsicherer Arbeit zwingen, dann ist die herrschende Politik direkt schuld an der Zunahme krimineller Aktivitäten.

In Berlin beklagen Full-Service-Anbieter*innen häufig, dass die Nachfrage nach ungeschützten sexuellen Dienstleistungen stark gestiegen sei. Einige Arbeiter*innen haben angefangen, diesem Druck trotz des Verbots von ungeschützter Sexarbeit nachzugeben oder überlegen, das Risiko einzugehen, weil die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen stark gesunken ist. Dabei gibt es einen direkten Zusammenhang mit der Gesetzeslage: Sexarbeiter*innen, die diesbezüglich zu Missbrauchsopfern werden, genießen keinen Rechtsschutz.

Dass Sexarbeiter*innen Opfer von Raub und Diebstahl werden, ist nichts Neues, besonders in der Stripclub- und Bordellszene. Darüber hinaus ist in der Pandemie deutlich geworden, dass die kapitalistischen Bedingungen Unternehmen dazu zwingen, Erwerbstätige mehr und länger für weniger Lohn sowie unter gefährlicheren Bedingungen arbeiten zu lassen. Aufgrund des Stigmas, das Sexarbeit trägt, und wegen der kapitalismustypischen Spaltung der Arbeiter*innenschaft ist es um die Solidarität mit Sexarbeiter*innen nicht gut bestellt So sehr Missbrauch und Gewalt in der Pandemie also zunehmen, so sehr bleiben sie gleichzeitig unbeachtet.

Die Arbeitsbedingungen für Tänzer*innen haben sich weiter verschlechtert. Strip-Club-Besitzer in Berlin kommen mit der Ausbeutung ihrer Angestellten und der Verletzung von Arbeitsrechten einfach so davon. Vor der Pandemie erhielten die Tänzer*innen 30 Euro pro Schicht. Aber so viel zahlen die Besitzer seit der Wiedereröffnung nicht mehr. Die Begründung lautet, sie müssten sich von den finanziellen Verlusten „erholen“.

Neben dem Verlust des mageren Schichtlohns von weniger als 5 Euro pro Stunde werden die Tänzer*innen auch auf andere, rechtlich schwer anfechtbare Weise abgezockt. Schon vor den COVID-19-Beschränkungen belegten die Besitzer Schichten mit zu vielen Tänzer*innen, manchmal bis zu 25 an einem Wochentag, statt 10. Dadurch sank der Durchschnittsverdienst von ursprünglich 200 Euro pro Nacht, den einige Tänzer*innen verdienten, auf 100 Euro pro 8-Stunden-Schicht. An Wochenenden waren Schichten mit bis zu 40 Tänzer*innen so stark überbelegt, dass sich die Verdienstmöglichkeiten noch viel weiter verringerten.

Als die Beschränkungen aufgehoben wurden, verbot das Management den Tänzer*innen unter dem Vorwand, es diene der eigenen Sicherheit, Trinkgelder in bar anzunehmen. Wer dagegen verstieß, wurde bestraft. Eine Tänzerin, die von einem Freund des Besitzers Trinkgeld angenommen hatte, erhielt eine Geldstrafe in doppelter Höhe des Trinkgeldes. Bekannt ist, dass Besitzer hinter der Bühne in die Geldbörsen der Tänzer*innen schauen, um sicherzustellen, dass sie kein Trinkgeld erhalten haben.

Tänzer*innen werden selbst dann zur Arbeit gezwungen, wenn weniger Gäste als Tänzer*innen im Club sind. In einem Club, der wegen eines kleinen Besucherandrangs um 4:00 Uhr morgens schloss, wurde jetzt eine „Drei-Gäste-Regel“ eingeführt. Das heißt, wenn mindestens drei Kund*innen im Club sind, bleibt er bis zur Schließung um 6:00 Uhr morgens geöffnet. Dabei spielt es keine Rolle, ob 15 Tänzer*innen im Club sind oder ob die Kunden kein Geld ausgeben. Die Tänzer*innen haben zu bleiben. Die Strafe für einen Verstoß ist der Verlust des ohnehin mageren Schichtlohns oder möglicherweise der Verlust des Arbeitsplatzes, je nach Laune des Managements. In der Regel besteht es aus toxischen, gewalttätigen Männern.

Neben finanzieller Not und systematischer Gewalt sind Sexarbeiter*innen auch einem erhöhten Risiko, an COVID-19 zu erkranken, ausgesetzt. Denn die Gebote von sozialer Distanzierung und Tragen von Masken sind dem Management völlig egal. Einige Tänzer*innen haben sich beschwert, dass die Masken ihr Make-up ruinieren. Weshalb also das halbe Gesicht hinter einer Maske verstecken, wo diese ohnehin alle paar Stunden gewechselt werden sollte?

Laut deutschem Gesetz stehen Beschäftigten im Krankheitsfall drei arbeitsfreie Tage zu. Aber Clubbesitzer operieren nach ihren eigenen Regeln. Wer als Tänzer*in kein ärztliches Attest vorlegt, wird bestraft. Das steht im Widerspruch zum Freiberufler*innenstatus, die eigentlich nicht dazu verpflichtet sind, zu erklären, warum sie nicht arbeiten. Doch darum scheren sich zwielichtige Clubbesitzer nicht.

Die legalisierten Zuhälter wissen, dass vielen Menschen in dieser Branche keine andere Wahl bleibt. Viele Frauen sind Migrantinnen ohne Arbeitsgenehmigung oder Visum. Daher haben sie nicht die 5.000 Euro Soforthilfe erhalten, die zu Beginn der Pandemie in Deutschland verteilt wurde. In einem Bordell werden die thailändischen Arbeiter*innen vom Chef mit 25 Euro pro Kunde abgespeist. Die andere Hälfte streicht das Management ein.

Die immer wieder geäußerte Befürchtung, Geschlechtsverkehr verbreite COVID-19 schneller als ein Friseur, eine Nageltechnikerin oder eine Ärztin, die COVID-19-Patient*innen betreut und dann zur Familie nachhause fährt, ist nichts anderes als stigmatisierende und hurenfeindliche Rhetorik. Dahinter verbirgt sich zudem die Annahme, Sexarbeiter*innen hätten einen Kunden nach dem anderen. Aber auf die meisten trifft das nicht zu. Wahrscheinlich hat ein Strip-Club oder ein Spa an einem einzigen Tag mehr Kund*innenverkehr als eine Full-Service-Sexarbeiter*in das ganze Jahr über.

Bordelle mussten sechsstellige Verluste hinnehmen, als sie Mitte März geschlossen wurden. Auch Sexclubs sind dicht, manche bieten Live-Streaming-Shows an. Mit virtuellem Sex lässt sich jedoch nicht so viel Geld verdienen, zumal der Markt mit Newcomern und niedrigen Abonnementgebühren für Online-Inhalte gesättigt ist.

Die Branche hat weiterhin mit sehr vielen Vorurteilen zu kämpfen. Sexarbeit mag legal sein. Und genauso legal ist die Stigmatisierung von Frauen, Trans- und nicht-binären, behinderten und migrantischen Menschen, die in dieser Branche überwiegend arbeiten. Die Last liegt schwer auf den Rücken von Frauen und derjenigen Menschen, die den männlich-heteronormativen Blick stören. Während Sexarbeiter*innen den Verlust von Geld und Würde hinnehmen müssen, schert sich der Rest der Welt nicht um sie und leugnet noch dazu, dass er? ein großer Teil des Problems ist.

Incredible Edible Akynos ist Stripperin, Immigrantin sowie Gründerin und Geschäftsführerin des Black Sex Worker Collective. Sie studiert für ihren Master of Fine Arts am Goddard College.

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