In meinem Wohnzimmer liegen quer verstreut Kisten und Taschen herum. Ich stolpere darüber auf dem Weg in die Küche, um den dort pfeifenden Teekessel auszuschalten. Als der Tee fertig ist, lasse ich mich nieder inmitten all meiner Werkzeuge: zwischen Spritzbestecken, Narcan (ein Nasenspray bei Opioid-Überdosis, Anm.d. Ü.), fünferlei noch zu sortierenden Kondomen, Snacks und Glaspfeifen. In ein paar Stunden werde ich die Kisten und Taschen säuberlich verpackt in meinem Schlafzimmerschrank verstaut haben. Dort bleiben sie bis Anfang nächster Woche.
Das ist jeden Freitagnachmittag mein Ritual. Ich stelle die Notfall-Koffer zusammen, so gut es eben geht. Gedacht sind sie für unsere Leute, wenn wir auf unsere wöchentlichen Touren auf die Straßen von Brooklyn gehen. Gelegentlich ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass wir herzlich wenig anzubieten haben, ja eigentlich gar nichts. Wir sind nur ein paar Leutchen, alle Sexarbeiter*innen. Wir können uns nur mit Mühe umeinander kümmern, wo wir doch schon alle für uns selber sorgen müssen.
Sämtliche Schlagzeilen lauten heutzutage „Sexarbeiter*innen in der Krise“ und „COVID-19 löst Krise bei Sexarbeiter*innen aus.“ Ich weiß, wovon ich spreche. Eine Schlagzeile mit dem entsprechenden Artikel darunter stammt schließlich von mir. Und es stimmt ja auch. Die erste COVID-19-Welle in den USA ging einher mit Clubschließungen, Arbeitsplatzverlusten, erhöhten Sicherheitsrisiken und finanzieller Unsicherheit. Sie traf große Teile unserer Community. Vor Covid-19 ging es uns relativ gut. Wir hatten uns von den verheerenden Auswirkungen von SESTA-FOSTA (im Jahr 2018 vom US-Kongress beschlossenes Gesetzespaket gegen Sexhandel, Anm. d. Ü.), das wir energisch bekämpft hatten, einigermaßen erholt und wieder eine gewisse Stabilität erreicht. Nun aber zieht sich die Pandemie Monat für Monat weiter hin. Unsere Kämpfe, Hoffnungen und gegenseitige Unterstützung mussten wir entsprechend anpassen.
Wenn man einer kriminalisierten Schicht angehört, dann ist zwischen einer akuten Krise wie Corona und einer Dauerkrisensituation namens Alltag oft kein Unterschied mehr auszumachen. Ich darf mich in vielerlei Hinsicht zu den Glücklicheren zählen. Ich bin weniger Druck ausgesetzt als viele andere Sexarbeiter*innen. Ich kann mich eher in Sicherheit wiegen. Denn ich bin weiß, nicht trans* und habe gültige Papiere.
Mein Arbeitsalltag ist gar nicht so anders als vor der Pandemie. Anfangs ging es mit Aufträgen massiv bergab. Aber sechs Wochen später merkten die Männer von New York City auf einmal, dass sie Sex doch ganz gerne haben – dem verdammten Virus zum Trotz. In manchen Wochen habe ich viel zu tun, in den meisten allerdings eher wenig. Wer sich nach dem Sex wieder auf den Weg machen will, muss seine Maske erst oft noch suchen.
Ich sitze also auf dem Boden, als das Handy vibriert und meine Messages anzeigt. Wer ist heute Nacht mit Outreach dran, wird gefragt, und ich antworte, dass ich das übernehme, und dass wir noch jemand brauchen, der das Essen abholt. 27 ungelesene Messages befinden sich in einem anderen Thread – jemand hat ein Wohnproblem, es handelt sich um Notfall-Crowdfunding, für die Person muss schleunigst ein AirBnB besorgt werden, bis eine Dauerlösung gefunden ist.
So hat sich mein Leben wegen COVID-19 verändert. Die Maßnahmen, die für gegenseitige Hilfeleistungen aufgebracht werden, haben drastisch zugenommen. Die Arbeitsstunden, die wir täglich hineinstecken, haben sich verdreifacht. Denn sehr, sehr viele Menschen in unserer Community sind stark von dieser Pandemie betroffen: Verlust von Arbeit, Wohnung und finanzieller Sicherheit. Tänzer*innen müssen jetzt auf der Straße arbeiten, wo die Gewalt zunimmt; von der Straße weg und ganz online zu gehen, ist schwierig. Und Neulinge überlegen sich, ob diese Art von Arbeit wirklich wert ist, wo mehr Armut als je zuvor droht und immer mehr Kunden ausbleiben. Statistiken über Arbeitsplatz- und Einkommensverluste würde ich gerne auswerten – nur gibt es dazu keine Zahlen, weil darüber niemand Buch führt. Unser SWOP-Verband hier in Brooklyn (Sex Workers Outreach Project, Anm. d. Ü.) versucht alles Mögliche mit gegenseitigen Unterstützungsfonds, Weiterempfehlungen und anderen Outreach-Methoden. Obwohl wir nicht allzu schnell reagieren können, freuen wir uns, wenn wir uns um die kümmern können, die uns brauchen.
Jeder kann von uns Sexarbeiter*innen lernen, wie gut wir aufeinander achten. Wenn etwas Schlimmes passiert, sind wir die ersten an Ort und Stelle. Leider wissen wir nur allzu genau, was ein Unglück bedeuten kann. Von der Lieferung von Lebensmitteln an Bedürftige bis hin zu Demonstrationen stehen Sexarbeiter*innen seit jeher in politischen Bewegungen ganz vorne, obwohl wir immer wieder übersehen werden. Wir existieren an der Grenze zwischen omnipräsentem Sex und kaum wahrnehmbarer Marginalisierung. Man nimmt uns zuallererst wahr als Queers, als Trans*, als Frauen, als Schwarze, als Migrant*innen und nicht als Sexarbeiter*innen – so, als ließen sich diese Identitäten voneinander trennen.
In der Coronakrise haben wir einmal mehr die Rolle von Ersthelfer*innen in unseren Communities übernommen. Wir sind sofort zur Stelle und helfen vor Ort aus. Gleichzeitig stehen wir bei örtlichen Kämpfen und US-weiten politischen Auseinandersetzungen, die unser Leben auf Dauer beeinflussen werden, an vorderster Front. Recht entmutigend war es herauszufinden, dass keine meiner branchenfernen Freund*innen vom Earn It Act gehört hatte – einem Gesetz, das die digitale Sicherheit beeinträchtigt und so gut wie alle Sexarbeiter*innen bedroht, die online arbeiten oder annoncieren. Irgendwie müssen wir die Zeit, den Raum und die Energie finden, um all diese Schlachten erfolgreich zu bestehen. Denn schlimmstenfalls stünden an ihrem Ende Tod und die Entrechtung von so Vielen.
Wir steigen jetzt alle zusammen ins Auto, mit Essenstüten auf dem Schoß, und tauschen uns aus, während wir zum nächsten Einsatz fahren. In den Pausen reden wir weiter, machen Witze und schmieden Pläne. Ich liebe es, wie schnell wir von „Welche neuen Serien hast du gesehen?“ zu „Ich habe ein paar neue Ideen für bessere ambulante Versorgung“ kommen.
Solange es keine vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit in den Vereinigten Staaten gibt, ist all unsere Arbeit begrenzt, weil was wir tun latent illegal ist. Es finden noch andere Kämpfe statt – die Abschaffung von Earn It, der Kampf für eine kostenlose Gesundheitsversorgung und die Verteidigung unserer reproduktiven Rechte. An vielen Fronten arbeiten wir daran, die Schäden, die unseren Communities zugefügt werden, zu beheben. Wie immer hege ich Hoffnung für unsere gemeinsame Zukunft. Da wir institutionell meist im Stich gelassen werden, sind wir füreinander da, bewegen uns notgedrungen im Halbschatten oder ganz im Verborgenen und bieten einander Mitgefühl und Fürsorge, was uns von außen versagt bleibt. Auch wenn wir oft unsichtbar sind, kümmern wir uns immer umeinander. Und die Chancen stehen gut, dass wir uns auch um Sie kümmern.
Molly Simmons ist eine Vollzeit-Sexarbeiterin und Sexarbeiter-Aktivistin in Brooklyn. Sie ist eine Vertreterin der Gruppe SWOP Brooklyn, die für die Entkriminalisierung von Sexarbeit kämpft und Sexarbeiter*innen in der Region New York gegenseitige Hilfe anbietet.
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