Im März hat der US-Kongress parteiübergreifend für das Corona-Hilfspaket CARES gestimmt, um Unternehmen und Bürger*innen in der Krise durch eine Reihe von Maßnahmen finanziell zu unterstützen. Doch Sexarbeiter*innen und „sittenwidrige“ Unternehmen wurden von dem Gesetz über die staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen was ihre wirtschaftliche Belastung durch die Pandemie zusätzlich verschlimmert hat. Viele Sexarbeiter*innen mussten auf Online-Arbeit ausweichen, um über die Runden zu kommen. Laut der Zeitschrift Elle stieg bei Plattformen wie OnlyFans im April, während die Arbeitslosenquote in die Höhe schnellte, , die Zahl der registrierten Nutzer*innen um 75 % an Doch viele straßenbasierte Sexarbeiter*innen hatten nicht das Privileg, die Ansteckungsgefahr einfach durch den Verzicht auf Arbeit oder virtuelle Optionen zu minimieren. Da vielen die Möglichkeiten wegbrechen, sicher Geld zu verdienen, haben zahlreiche Organisationen begonnen, sich für mögliche langfristige wirtschaftliche und gesundheitliche Auswirkungen auf die Community zu wappnen, insbesondere unter obdachlosen, Schwarzen, People of Color, Trans* oder straßenbasierten Sexarbeiter*innen sowie Sexarbeiter*innen mit Behinderung.
Als Reaktion auf das Ausbleiben staatlicher Unterstützung haben sich Koalitionen von Sexarbeits-Aktivist*innen weltweit für lokale und nationale gegenseitige Hilfe in Form gemeinsamer Nothilfefonds eingesetzt und welche eingerichtet , um direkte finanzielle Soforthilfe für die Bedürftigen aus der Community zu ermöglichen. Während viele dieser Fonds anfangs als Übergangslösung für die ersten Monate der Pandemie gedacht waren, sind einige zu längerfristigen Ressourcen geworden, da konstanter Bedarf nach Gemeinschaftshilfe besteht. «Wir bekommen immer noch Anfragen und haben manchmal leider auch weiße Sexarbeiter*innen, die sich als Schwarze Sexarbeiter*innen mit Behinderung ausgeben, um finanzielle Vorteile zu bekommen,» sagt Gassoh, eine ehrenamtliche Koordinatorin im Ortsverband von Sex Workers Outreach Project (SWOP) in Baltimore. Die Organisation habe die spärlichen Hilfsgelder seit März unter mehr als 100 Sexarbeiter*innen aufteilen müssen. «Ohne Mietnachlass und mit dem baldigen Ende der Aussetzung von Zwangsräumungen werden viele Sexarbeiter*innen zwischen Obdachlosigkeit und einem Leben bei Familienmitgliedern oder Partner*innen wählen müssen, wobei einige dort Opfer häuslicher Gewalt waren», so Gassoh.
Die 32-jährige Sexarbeiterin Hazel musste seit April immer wieder die Finanzhilfe von SWOP in Salt Lake City beanspruchen. Obwohl Hazel und andere Sexarbeiter*innen von den gemeinschaftlichen Nothilfefonds aus der Community profitieren, kann dieser Notgroschen kaum ihre Lebenshaltungskosten abdecken. «Ich wurde dauernd aus meiner Wohnung rausgeschmissen, als [die Pandemie] angefangen hat. Ich habe ein paar Hotels durch, weil wir die Miete nicht stemmen konnten», erklärt Hazel.
Obwohl das Geschäft langsam wieder besser laufe, sei sie gerade einmal so in der Lage, für die Miete aufzukommen, um nicht auf die Straße gesetzt zu werden. Die derzeitigen finanziellen Probleme, die viele Sexarbeiter*innen haben, werden höchstwahrscheinlich Kreise ziehen. Laut Tamika Spellman, einer Mitarbeiterin für politische Arbeit bei HIPS, einer NGO aus Washington DC, die schadensmindernde Angebote für Drogengebrauchende und Sexarbeiter*innen anbietet, gibt es in der Sexarbeit «aufgrund der massiven Arbeitsplatzverluste im öffentlichen und privaten Sektor enorme Einbußen und damit eine wachsende Einkommensschere.»
Die seit März bestehende finanzielle Unsicherheit unter Sexarbeiter*innen wirkt sich unmittelbar auf einige der anhaltenden und aufkommenden Gesundheitsrisiken aus. HIPS hat bereits zuvor umfassende Maßnahmen zur Schadensminderung, Vermittlung von Unterkünften und an Wohlfahrtseinrichtungen, Essensausgaben sowie Beratung und Behandlungsmöglichkeiten angeboten und nun als Antwort auf die Pandemie die Leistungen im Gesundheitsbereich erweitert.
«Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um das vorhandene Material zur Verfügung zu stellen, damit es möglichst einfach ist, gesund zu bleiben, verteilen Schutzausrüstung und lokal hergestellte Händedesinfektionsmittel», sagt Spellman. Die Organisation klärt Sexarbeiter*innen auch zu den aktuellen Entwicklungen in Bereich Prävention und Gesundheitsschutz auf und sieht ihren Auftrag darin, dabei zu helfen «sicherere Entscheidungen zu treffen.»
Viele Straßenhilfsprogramme haben ebenfalls ihre Tätigkeit entsprechend ausgebaut, teilen Schutzmaterial aus, Handschuhe, Desinfektionsmittel und Informationsmaterial zu COVID-19. Manche Nischen der Sexindustrie haben haben in den letzten Monaten mit zusätzlichen Abstandsregelungen und Gesundheitsmaßnahmen den Betrieb wieder aufgenommen– so wurde in Striplokalen die Maskenpflicht eingeführt und die Bühne wird nach den Auftritten der Tänzer*innen desinfiziert.
Trotz der Bemühungen der aktivistischen Gruppen um das Wohl von Sexarbeiter*innen zwinge die finanzielle Notlage einige dazu, von Safer-Sex-Methoden oder persönlicher Schutzausrüstung abzusehen, erklärt Hazel. Das hat bei ihr dazu geführt, dass sie Stammkund*innen aufgrund von Gesundheitsbedenken absagen musste: «Ich glaube, viele Leute haben Angst vor dem [Coronavirus]. Manche haben keine Angst, aber die ohne Angst machen mir Angst.»
Es überrascht Gassoh nicht, dass straßenbasierte Arbeiter*innen bei SWOP Baltimore vermehrt Selbsttests auf Geschlechtskrankheiten anfragen und «Verletzungen in Verbindung mit Gewalt von Kund*innen und Drogengebrauch» zunehmen.
In vielerlei Hinsicht sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Sexarbeit vergleichbar zu der Situation nach der Verabschiedung von FOSTA/SESTA 2018 – einem Gesetz, das den Menschenhandel bekämpfen soll, indem Websitebetreiber*innen für den von User*innen geposteten Inhalt zur Verantwortung gezogen werden. Seitdem das Gesetz in Kraft getreten ist, hat es laut Studien nicht nur den Opfern von Menschenhandel zusätzlich geschadet, sondern zu weiterer Kriminalisierung von Sexarbeit und Gewalt gegen Sexarbeiter*innen beigetragen. Bald nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, wurden zentrale Ressourcen wie Backpage abgeschaltet, und Spellman, Gassoh und Vertreter*innen anderer Organisationen beobachteten in den folgenden Monaten, wie die restlichen Plattformen, über die Sexarbeiter*innen Termine mit ihren Kund*innen vereinbaren konnten, beschlagnahmt oder gesperrt wurden.
«Dass nun auch die wenigen letzten verfügbaren Anzeigeräume im Internet verschwunden sind, macht es wesentlich schwieriger, in den eigenen vier Wänden sicher zu sein und ausreichende Einnahmen zu haben, um zu überleben, ohne auf die Straße zu müssen, wo das Ansteckungsrisiko für COVID-19 die größten Sorgen bereitet, dicht gefolgt von der Gefahr aggressiver Polizeikontrollen von Sexarbeiter*innen und ihren Kund*innen», erklärt Spellman.
Darüber hinaus führe die zunehmende Kriminalisierung von Sexarbeiter*innen zu einem höheren Risiko, ausgebeutet zu werden, erklärt Gassoh, denn «der Mangel an Unterstützung von Staat und Bundesregierung schafft erst die prekären Bedingungen, die den Menschenhandel und damit verbundene Zwangsarbeit begünstigen, so auch den Sexhandel.»
Hazel stellt fest, dass die Polizei in Salt Lake City aggressiver geworden ist. Sie schließt sich den Bedenken von Gassoh und Spellman an, was ihren schrumpfenden Handlungsspielraum betrifft, für sich selbst zu sorgen. «Wenn wir aus den Hotels raus müssen, wo sollen wir dann hin? Auf die Straße? Wenn es so weit kommt, habe ich keine Möglichkeit, Geld zu verdienen», sagt sie voller Verzweiflung. «Wenn wir in Quarantäne müssen, weiß ich nicht, was uns bleibt.»
Vor dem Hintergrund der wachsenden Sicherheits- und Geldsorgen sind die Organisationen nicht nur um die physische Gesundheit der Sexarbeiter*innen besorgt, sondern auch um deren seelisches Wohl in den kommenden Jahren. «Eine Traumatisierung ist sehr wahrscheinlich, neben anhaltenden Angststörungen und anderen psychischen Problemen», so Spellman.
Wie schon das Gesetz von 2018 und die fortwährende Kriminalisierung, schafft die Corona-Pandemie für Sexarbeiter*innen neue Hindernisse, sich Lebensunterhalt, Gesundheitsversorgung und Wohnraum zu sichern. Doch die Gemeinschaft der Sexarbeiter*innen war und bleibt widerstandsfähig. Wir halten stets zusammen und unsere Community wird auch das meistern, solange wir für einander da sind und uns gegenseitig stärken.
Kyli Rodriguez-Cayro ist eine kubanisch-amerikanische Autorin, Vermittlerin im Bereich psychischer Gesundheit und Aktivistin zu Sexarbeit, die in Salt Lake City lebt.