April 19, 2020

Die Risiken von Online-Radikalisierung zu Zeiten von COVID-19

Cynthia Miller-Idriss

Im Zeitraum weniger Wochen wurde das soziale Leben und der Lernbetrieb von mehr als 91% der Jugendlichen weltweit auf den Kopf gestellt. Für 1.5 Milliarden Schüler*innen wurden die Schulen geschlossen, was zu einem nie dagewesenen massenhaften Umsteigen auf Online-Lernplattformen führte. In den USA allein verbringen nun 55 Millionen Kinder einen Großteil ihrer Zeit in diversen, halbstrukturierten Online-Lernumgebungen.

Dass Eltern und Lehrer*innen von den anstehenden technischen und logistischen Aspekten dieser Umstellung überfordert sind, ist verständlich. Zugleich ist es jedoch wichtig, nicht nur die momentanen Herausforderungen anzugehen, sondern sich auch möglicher längerfristiger Konsequenzen bewusst zu sein, einschließlich des Risikos rechter Radikalisierung und Extremismus.

Junge Menschen verbringen während der Coronakrise mehr Zeit online (Foto: Tom Woodward).

Bereits lange vor COVID-19 warnten Medien Eltern und Erzieher*innen vor den wachsenden Gefahren extremistischer Online-Propaganda und überzeugungskräftiger Rekrutierer, denen Kinder und Jugendliche im Internet ausgesetzt seien. Wie die Amokläufe von Christchurch und El Paso auf traurige Weise deutlich gemacht haben, sind Online-Interaktionen einer der Hauptwege, auf denen Menschen extremistischen Ideen begegnen, gewaltvolle Taktiken verbreiten oder Attentate im Livestream zeigen. Anders als bisher bedarf es keiner physischen Orte mehr, um Extremismus ausgesetzt zu sein – seine virtuellen Verbreitungsräume erreichen uns direkt über unsere Bildschirme in Form von Memes, Imageboards, Chatrooms, und Online-Spielen.

Infolge von COVID-19 ist der Zugang zu Computern massiv angestiegen. Dies ist unter anderem auch das Ergebnis des kostenlosen Zurverfügungstellens elektronischer Geräte und des Einrichtens von Hotspots durch Schulbezirke, die sich um eine gleichberechtigte Teilnahme am Fernunterricht bemühen. Zugleich räumen Eltern vielerorts ein, dass sie ihren Kindern mehr Zeit vor dem Bildschirm und mit Online-Spielen zugestehen, um so für sich selbst etwas mehr ungestörte Zeit zum Arbeiten zu haben. Da Schüler*innen Lernplattformen, Suchmaschinen und Chatrooms meist allein navigieren, ist der Zugang zu Online-Räumen weitgehend unbeaufsichtigt.

Infolge von COVID-19 ist der Zugang zu Computern massiv angestiegen. Dies ist unter anderem auch das Ergebnis des kostenlosen Zurverfügungstellens elektronischer Geräte und des Einrichtens von Hotspots durch Schulbezirke, die sich um eine gleichberechtigte Teilnahme am Fernunterricht bemühen. Zugleich räumen Eltern vielerorts ein, dass sie ihren Kindern mehr Zeit vor dem Bildschirm und mit Online-Spielen zugestehen, um so für sich selbst etwas mehr ungestörte Zeit zum Arbeiten zu haben. Da Schüler*innen Lernplattformen, Suchmaschinen und Chatrooms meist allein navigieren, ist der Zugang zu Online-Räumen weitgehend unbeaufsichtigt.

Diese Dynamiken schaffen Raum für die Rekrutierung und Radikalisierung durch Extremisten. Drastische Isolation und eine verstärkte Online-Präsenz, unter anderem auf Plattformen für Videospiele und in den sozialen Medien, schaffen mehr und mehr Möglichkeiten, Menschen extremistischen Inhalten auszusetzen und sie zu radikalisieren. Zugleich erscheinen die simplifizierenden Lösungsansätze rechter Extremisten angesichts der großen Unsicherheit, die die gegenwärtige Krise mit sich bringt, vielen attraktiv. Für Extremisten ist jetzt ein idealer Zeitpunkt, die Sorgen Jugendlicher, die über Energielosigkeit, die wirtschaftliche Notlage ihrer Familien, einen tiefempfundenen Orientierungsverlust sowie Angst und Verwirrung klagen, auszunutzen. Da alltägliche Interaktionen mit Trainern, den Leiter*innen von Jugendgruppen, Arbeitgeber*innen, Lehrer*innen und anderen Menschen derzeit nicht stattfinden, sind auch soziale Sicherheiten, wie Netzwerke vertrauter Erwachsener und Gleichaltriger, nicht vorhanden. Das Ergebnis ist, dass Jugendliche zu einer Zielscheibe für die extreme Rechte werden, die ihnen einfache Antworten anbietet, wenn es darum geht, einen Sündenbock für ihre Probleme zu finden.

Extremisten haben ihre Chance bereits genutzt und verbreiten Propaganda und rechtsextreme Inhalte über Online-Kanäle. Desinformation und Verschwörungstheorien über das Virus, seine Ursprünge und die Reaktionen der Regierungen sind weit verbreitet. So besagt ein kürzlich veröffentlichter Bericht, dass innerhalb eines Zeitraums von zwei Wochen 18 von 40 Millionen Tweets über COVID-19 manipuliert wurden, um so gefährliche Narrative in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Am 1. April ließ ein Zugführer willentlich eine Lokomotive entgleisen, um diese mit einem Lazarettschiff der Marine zusammenstoßen zu lassen. Mit dieser Aktion wollte er die Menschen wachrütteln und die Lügen enttarnen, die die Regierung seines Erachtens über den Zweck des Schiffs verbreitete.

Einige rechtsextreme Gruppierungen nutzen die Krise auch, um sich selbst als stärkere und bessere Helfer als die jeweiligen Regierungen darzustellen. In ganz Europa haben rechte Gruppen Fotos gepostet, auf denen sie gegenseitige Hilfe (mutual aid) anbieten, Nahrungsmittel an ältere und einkommensschwache Bürger*innen verteilen oder Gesundheitspersonal in die Arbeit fahren – all das in der Hoffnung, Solidarität zu schaffen und eine breitere Unterstützung für nationalistische und exklusive Plattformen zu finden. Andere Rechtsextreme wiederum rufen ihre Anhänger*innen in Onlineforen dazu auf, COVID-19 gezielt unter jüdischen Mitbürger*innen und der Polizei zu verbreiten – also quasi ein Aufruf zu biologischen Terroranschlägen.

Online-Lernräume sind hierbei besonders gerne Angriffsziele. Online-Kurse, virtuelle Konferenzen oder Sprechstunden von Erzieher*innen werden immer wieder zum Ziel von „Zoombombing“. Schüler*innen oder Hacker*innen verbreiten auf diese Weise rassistische Inhalte und Videos. Rechte Provokateure und Aktivtist*innen halten derweil Universitätsstudent*innen dazu an, Online-Vorlesungen aufzuzeichnen, so dass die Arbeit von Professor*innen, die als zu liberal gelten, dokumentiert und bloßgestellt werden könne.

Was können wir tun? Politische Entscheidungsträger*innen, Strafverfolgungsbehörden und der Technologiesektor arbeiten bereits an Lösungsansätzen. Über ein Dutzend Technologie-Anbieter sind bereits aktiv darum bemüht, Desinformation zu COVID-19 zu bekämpfen – etwa indem sie der Öffentlichkeit Analysen, die Ergebnisse von Datenverfolgung und Aufklärung zu Desformation zur Verfügung stellen. Aber wir brauchen auch dringend Lösungsansätze im Bereich des Erziehungswesens. Eltern und Betreuungspersonen bedürfen derzeit besonderer Unterstützung. Sie brauchen Ressourcen, um das Erkennen rechter Nachrichten, Symbole, und Rekrutierungsmethoden zu stärken, inklusive der Apps und Chaträume, die Extremisten nutzen. Eltern müssen besser in der Lage sein, die zentralen emotionalen Antriebe zu erkennen, die für rechte Radikalisierung empfänglich machen. Die ersten Anzeichen zu erkennen ist jedoch nicht ausreichend; Beratung und Training, wie man effektiv eingreifen kann, sind ebenso wichtige Bestandteile. Lehrer*innen brauchen ebenfalls Unterstützung. Sie müssen wissen, wie sie ihre Online-Klassenzimmer vor „Zoombombing“ mit rassistischen und frauenfeindlichen Inhalten schützen können und was zu tun ist, wenn Schüler*innen solche Inhalte oder Benutzernamen in Chatrooms teilen. Sowohl Jugendliche als auch Erwachsene brauchen Training in Medienkompetenz, das über die Grundlagen von Datenschutz und Cyber-Mobbing weit hinausreicht. Interventionen, die wirksam gegen Hass immunisieren sollen, müssen darauf ausgerichtet sein, Menschen beizubringen, wie sie Verschwörungstheorien, Desinformation und Falschmeldungen erkennen sowie zentrale Strategien, die Extremisten zur Manipulation potentieller Rekruten nutzen, identifizieren können. Wie die globale Pandemie selbst sind die Herausforderungen, welche die Ausbreitung von Rechtsextremismus und white supremacy darstellen, keine lokale oder nationale Angelegenheit. Zwischenstaatliche und globale Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie müssen auch beinhalten, dass erzieherische Maßnahmen, die die Konsequenzen jugendlicher Isolation, wachsender Online-Präsenz und rechter Mobilisierung des Virus bekämpfen, über nationale Grenzen hinweg geteilt werden. So braucht nicht jedes Land das Rad neu zu erfinden. Eltern und Betreuungspersonal sind jetzt schon schwer am Kämpfen. Sich dann auch noch über Online-Radikalisierung Sorgen machen zu müssen, kann manch einem in unserem derzeit ohnehin schon überbeanspruchten Leben schnell zu viel werden. Aber Krisen wie diese sind immer facettenreich. So hat es etwa anfangs durchaus Sinn gemacht, als erste Reaktion die Schulen massenhaft zu schließen, um so auf die logistischen und technischen Anforderungen des Notstands zu antworten. Doch muss es jetzt darum gehen, unseren Handlungsrahmen zu erweitern. Während wir uns zuhause isolieren, die täglichen Infektionsraten verfolgen und gemeinsam trauern, ist es gleichzeitig wichtig, unsere Augen offen zu halten und genau zu beobachten, wie rechte Extremisten den jetzigen Moment für ihre eigenen Ziele ausnutzen und Jugendliche radikalisieren.

Wie wir nur allzu gut wissen, ist der beste Weg, die Verbreitung eines Virus aufzuhalten, die Prävention. Dasselbe gilt für die Verbreitung von Hass und Rechtsextremismus.

Cynthia Miller-Idriss ist Professorin für Erziehungswissenschaften und Soziologie an der American University in Washington, DC, wo sie das Polarization and Extremism Research and Innovation Lab (PERIL) am Center for University Excellence (CUE) leitet. Ihr neuestes Buch, „Hate in the Homeland: The New Global Far Right“, wird im Herbst 2020 im Verlag der Princeton University erscheinen.


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