April 5, 2024

Tech-Workers: Marginalisierung oder Gegenmacht?

Valentin Niebler

Eine Anhörung im Stadtrat von Austin im US-Bundesstaat Texas ging kürzlich in den sozialen Medien viral. Noch während zwei Beschäftigte der Google-Tochter YouTube Music dort um Unterstützung für ihre Verhandlungen mit dem Unternehmen baten, wurde ihnen die Nachricht ihrer Kündigung durchgestellt. «Ich will nicht stören», unterbrach eine Mitarbeiterin ihren Kollegen in seiner Ansprache, «aber wir wurden gerade alle gekündigt». Gerade noch hatten die beiden dem Stadtrat erklärt, dass sie sich der Gewerkschaft Alphabet Workers Union angeschlossen hatten, um gegen prekäre Löhne und ihre Ausgliederung aus dem Unternehmen zu kämpfen. Kurz darauf war klar, dass Google und der Subunternehmer Cognizant darauf mit der Schließung ihrer ganzen Abteilung reagierten. 

Dieser Vorfall steht sinnbildlich für die Situation der amerikanischen Tech Industry, die sich bereits seit geraumer Zeit in einer Krise befindet. Galt die Branche der Digital-Unternehmen in den 2010er Jahren noch als gigantischer Wachstumsmotor, ist die Euphorie heute abgeflaut. Seit dem Anstieg der Leitzinsen Anfang 2022 ist das Investitionsvolumen und damit die Nachfrage nach Arbeitskräften in dem Sektor kontinuierlich gesunken. Darauf folgte eine Welle von Entlassungen, Standort-Schließungen und Lohnkürzungen, die bis heute andauert. Erhebungen zufolge wurden 2023 allein in den USA über 300.000 Beschäftigte bei Firmen wie Amazon, Microsoft, Google oder Salesforce entlassen; viele von ihnen halten sich mit dem befristeten Arbeitsvisum H1B im Land auf. Die lange gefeierte Branche hat sich damit auch für qualifizierte Fachkräfte zum Risikofaktor entwickelt.

Beispiellose Organisierungswelle in der Tech-Branche

Zwar sind Entlassungswellen in der Tech-Branche keine Seltenheit; auch über den Startup-Bereich hinaus sind viele Unternehmen kurzlebig und von Turbulenzen geprägt. Trotzdem sticht diese Krise heraus: Erstens sorgt der Kapitalmangel für einen Druck auf den Arbeitsmärkten, wie er seit dem Platzen der Dotcom-Bubble 2001 nicht mehr zu beobachten war. Die Krise geht damit über Einzelunternehmen und Branchensegmente hinaus. Zweitens haben sich zugleich die Konfliktbedingungen in der Branche verändert: In den letzten sieben Jahren hat eine bisher beispiellose Welle kollektiver Mobilisierungen die Branche geprägt, die sich nun auch auf die Aushandlung der Krise auswirkt. Von Plattform-Unternehmen wie Kickstarter, Grindr oder Bandcamp über Videospiel-Hersteller wie Activision bis hin zu Monopol-Konzernen wie Google oder Amazon waren in den USA in den letzten Jahren aktive Arbeitskämpfe, Mobilisierungen und Gewerkschaftsgründungen zu beobachten. Das Netzwerk Collective Action in Tech listet aktuell über 500 Arbeitskämpfe in den letzten zehn Jahren. Obwohl der Organisierungsgrad in vielen Tech-Unternehmen weiterhin niedrig ist, stellt die Entwicklung doch einen Paradigmenwechsel in der gewerkschaftsfeindlichen IT-Branche dar.

Ein Anzeichen dieser Wende ließ sich im Oktober 2023 in New York beobachten. Am Washington Square Park in Manhattan fand die Tech Organizing Conference des Gewerkschaftsnetzwerks Labor Notes statt, die sich an Beschäftigte und Organizer*innen in der Branche richtete. Über 200 Teilnehmer*innen aus den Vereinigten Staaten und Kanada trafen sich dort, um auf Workshops zu Themen wie «Aufbau von Klassenbewusstsein», abteilungsübergreifendes Organizing oder Salting (bei dem sich Aktivist*innen Jobs in bestimmten Unternehmen suchen, um dort die Organisierung voranzutreiben) zu sprechen. Dabei berichteten etwa zwei Programmierer in einem Layoff Guide, wie sie sich gegen die Entlassungen bei Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk wehrten. Ein weiteres Thema war, wie sich Arbeiter*innen gegen progressive doublespeak wehren können – also gegen die Versuche der Unternehmen, sich beispielsweise durch Empowerment-Workshops, die sich an marginalisierte Gruppen richten, für schlechte Arbeitsbedingungen unangreifbar zu machen. «Vor einigen Jahren wurde die Tech-Worker-Bewegung noch mit Straßenprotesten von Google-Arbeiter*innen verbunden», erklärten einige Teilnehmer*innen in einem Nachbericht zur Konferenz, «mittlerweile werden die Konflikte aber fokussierter ausgetragen. Erfolgreiche Gewerkschafts-Kampagnen in Tech-Unternehmen sorgen mittlerweile regelmäßig für Schlagzeilen.»

Neues Selbstverständnis als Tech-Arbeiter*innen

Der Begriff Tech Worker hat sich mittlerweile in breiten Kreisen der Branche als Selbstbezeichnung etabliert. Sich selbst als Arbeiter*in zu verstehen, war unter Angestellten in der Branche lange unüblich; stattdessen verstanden sich viele Beschäftigte als Kreative oder Fachleute, die sich in der Arbeit selbst verwirklichen oder «die Welt zu einem besseren Ortd machen. Die immer stärker hervortretende Machtkonzentration der Unternehmen, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und eine Vielzahl sexualisierter Übergriffe in der männlich dominierten Branche haben diesen Eindruck verändert.

Ein Grund für den Wandel im Selbstverständnis ist auch die aktive Arbeit der Tech Workers Coalition (TWC), einer Grasswurzel-Bewegung von Tech-Beschäftigten, die in Städten wie New York, San Diego oder Seattle organisiert ist und Arbeiter*innen ohne Organisierungserfahrung beim Einstieg in das Organizing hilft. In Deutschland ist die Gruppe seit 2019 ebenfalls vertreten. Gerade in der Entstehungsphase ab 2016 war die TWC mit lokalen Treffen, Lesekreisen und Abendveranstaltungen eine Anlaufstelle für zahlreiche Tech-Arbeiter*innen weltweit. Auch die Tech-Konferenz in New York wurde von der Gruppe mit organisiert, zusammen mit Kolleg*innen des Emergency Workplace Organizing Committee, einem in der Pandemie entstandenen Netzwerk, das neue Arbeitskämpfe vor Ort unterstützt. Eng verbunden sind beide Gruppen überdies mit den Democratic Socialists of America, einer linken Organisation, die im Zuge der Bernie-Sanders-Kampagne viele junge Menschen in die Politik gezogen hat.

Die Bewegung der Tech-Workers wächst in einer Zeit heran, die Aktivist*innen hoffnungsvoll als Wiedergeburt der Gewerkschaftsbewegung in den USA interpretieren. Und in der Tat: Eine Streikwelle wie derzeit hat die USA seit den 1970er Jahren nicht mehr erlebt; von Lehrer*innen über Krankenhaus-Personal bis zur Filmbranche ist ein breites Spektrum der arbeitenden Klasse beteiligt. Im Jahr 2023 streikten über eine halbe Million Beschäftigte für höhere Löhne und bessere Bedingungen, was nicht nur auf die während der Pandemie gemachten Erfahrungen, sondern auch auf die hohe Inflation und ein seit langem rückgängiges Lohnniveau zurückzuführen ist.

Im September unterstützte Joe Biden als erster Präsident in der US-Geschichte aktiv einen Arbeitskampf, als er einen Streikposten der Gewerkschaft United Auto Workers bei Detroit besuchte. Dass sogar Donald Trump einen Besuch bei den Streiks vorgaukelte – er besuchte in Wirklichkeit einen nicht organisierten Zulieferbetrieb –, zeigt, dass Gewerkschaften zurzeit eines der wenigen linken Mobilisierungsthemen im Land sind. Zwar warnen Expert*innen vor einer Überschätzung der Entwicklung und weisen auf die weiterhin sinkende Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder hin. Trotzdem hat sich die Diskurs- und Handlungsmacht der Gewerkschaften und die Rückendeckung für ihre Arbeitskämpfe sichtbar erhöht. Besonders an der derzeitigen Streikwelle hervorzuheben sind auch die vielen Erfolge bislang nicht organisierter Belegschaften, wie etwa bei den oben erwähnten Tech-Unternehmen oder der Kaffee-Kette Starbucks.

Zwei Taktiken gewerkschaftlicher Organisierung

Bei den jüngsten Organisierungen im Tech-Sektor unterscheidet sich der Machtaufbau auch nach Unternehmenstyp. In kleineren Unternehmen oder Abteilungen können Beschäftigte die in den USA übliche Form der Gewerkschaftsvertretung etablieren, für die es ein Mehrheitsvotum der Beschäftigten und die Anerkennung des staatlichen National Labor Relations Board (NLRB) benötigt. Dabei stehen ihnen Gewerkschaften wie die Communication Workers of America (CWA), die Office and Professional Employees International Union (OPEIU) oder die United Electrical, Radio & Machine Workers of America (UE) bei, mit deren Hilfe dann auch Tarifverhandlungen möglich sind. So organisierte sich 2019 etwa die Belegschaft der Plattform Kickstarter mit Hilfe der Gewerkschaft OPEIU in New York. In Pittsburgh schaffte es 2018 eine Abteilung des Google-Dienstleisters HCL, trotz massiver Formen des «Union Bustings», mit den United Steelworkers eine Gewerkschaftsvertretung zu gründen. Mit der Kampagne CODE CWA haben die Communication Workers of America eine eigene Plattform aufgesetzt, die Organisierung bei Unternehmen wie der New York Times (bzw. deren Tech-Abteilung) unterstützt.

Dieses konventionelle Organisierungsmodell erscheint in Großkonzernen wie Google derzeit kaum realistisch. Deswegen haben Beschäftigte dort in den letzten Jahren mit dem Prinzip der Pre-Majority Union experimentiert, für die es keinen Mehrheitsentscheid der Belegschaft benötigt. Pre-Majority Unions sind semi-formelle Gewerkschaftsvertretungen mit eingeschränkten Rechten, die jedoch auch ausgegliederte Belegschaften (wie im Fall der eingangs erwähnten Beschäftigten von YouTube Music) aufnehmen und unterstützten können. Dieses Wall-to-Wall-Prinzip, also Beschäftigte in einem Konzern unabhängig von ihrer Statusgruppe zu organisieren, ist zu einer wichtigen Strategie geworden. Es knüpft an die Strategie des Industrial Unionism (also ans Prinzip der Branchengewerkschaft) an, mittels dessen sich in den 1930er Jahren mit der CIO eine radikale Gewerkschaftsbewegung formierte. Deren Prinzipien hat sich auch die Tech-Workers-Bewegung verschrieben: von der Reinigungskraft und dem Lieferdienst-Fahrer bis zur viel verdienenden Software-Entwicklerin sollen die Arbeitskräfte zusammen organisiert werden.

Politische Interventionen

Ein weiteres Merkmal der Tech-Worker-Bewegung ist, dass sie über die Aushandlung von Arbeitsbedingungen hinausgeht. Von Anfang an hat die Bewegung auch in politische Konflikte, an denen ihre Unternehmen (oder die gesamte Branche) beteiligt waren, direkt interveniert. Das betraf 2017 etwa das Googles Project Maven, einen Vertrag des Unternehmens mit den amerikanischen Grenzschutzbehörden, der nach erfolgreichen Protesten beendet wurde.

Im vergangenen Jahr waren vor allem der Krieg in Gaza und die Kriegsverbrechen des israelischen Militärs ein Thema. Mit der Kampagne No Tech for Apartheid forderten Tech-Arbeiter*innen die Aufkündigung von Project Nimbus, einer Kooperation von Amazon und Google mit dem israelischen Militär und israelischen Behörden. «Indem Amazon und Google mit der israelischen Apartheid Geschäfte machen, erleichtern sie es der Regierung, Menschen in Palästina zu überwachen und zu vertreiben», hatten über 1000 Tech-Beschäftigte bereits 2021 in einer öffentlichen Erklärung mitgeteilt. Im letzten Jahr organisierten verschiedene Gruppen aus der Bewegung dazu Teach-Ins, Proteste und Straßenblockaden, etwa anlässlich des Gipfels der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) in San Francisco. Die Kampagne beruft sich dabei auch immer wieder auf historische Vorläufer wie die Polaroid Revolutionary Workers Movement bei Kodak oder die IBM Black Workers Alliance in den 1970er Jahren.

Die Zukunft bleibt ungewiss

Trotz des sichtbaren Machtaufbaus ist weder die Stoßrichtung der Tech-Worker-Bewegung noch ihr wirkliches Machtpotenzial aktuell geklärt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus dem Umfeld der Gruppe «Collective Action in Tech» weist auf einen Anstieg klassischer Arbeitskämpfe hin, die sich vor allem um Anliegen wie Bezahlung und Arbeitszeit, aber auch um den Schutz vor sexualisierten Übergriffen drehen. Gleichzeitig wurde im Protest gegen den Gaza-Krieg auch die politische Interventionskraft der Bewegung sichtbar, die während der Pandemie zurückgegangen war. «Wir konnten tatsächlich beobachten, dass der politische Aktivismus weniger dominant ist als früher und die Organisierungen am Arbeitsplatz zunehmen», erzählt die Organizerin Emma Kinema, die für die Kampagne CODE CWA tätig ist und zuvor in der Videospiel-Branche gearbeitet hat. Oft ergebe die Trennung dieser Bereiche aber auch keinen Sinn, da beides auch zusammenhänge. «Ich kenne Beschäftigte, die ohne die Gewerkschaftsarbeit an ihrem Arbeitsort nie Klassenbewusstsein aufgebaut hätten und dann später in das politische Organizing eingestiegen sind. Ich kenne es aber auch anders herum, von Leuten, die frustriert waren von der Arbeit an politischen Kampagnen und dann den Arbeitsplatz als konkreten Ort entdeckt haben, um zu lernen, wie man Mehrheiten gewinnt.»

Obwohl die Branche weiterhin gewerkschaftsfeindlich und der Organisationsgrad niedrig ist, scheint zumindest ihre Hegemonie inzwischen angekratzt. Trotz ihrer Krise bleibt sie dennoch das «Kronjuwel des amerikanischen Kapitalismus» (Ben Tarnoff) – eine Rolle, die sie gerade angesichts geopolitischer Konflikte um Plattformen wie TikTok nicht ohne Kampf aufgeben wird. In diesem Kontext diskutiert die Bewegung derzeit auch Möglichkeiten des transnationalen Organizing, wie sie in den letzten Jahren schon vereinzelt erprobt werden konnten.

Was trotz des gestiegenen Selbstbewusstseins der Tech-Arbeiter*innen noch fehlt, offenbart der Fall von YouTube Music in Austin. Vor einem Jahrzehnt hätte man dort den widerständigen Beschäftigten bereits zu Beginn eines solchen Konflikts gekündigt, ohne dass ihnen Werkzeuge zur Gegenwehr zur Verfügung gestanden hätten. Inzwischen aber stehen für die Beschäftigten entsprechende Ressourcen bereit: Sie können der Alphabet Workers Union beitreten, gegen ihre Behandlung beim staatlichen NLRB Beschwerde einreichen und sich nach einem zehnmonatigen Organisierungsprozess bei Stadtrat und Öffentlichkeit um Unterstützung bemühen.

Dass die Organisierung in eine Kündigung der ganzen Abteilung mündete, zeigt indes, wie schwierig es bleibt, derartige Auseinandersetzungen auch zu gewinnen. Fest steht jedoch, dass sich der Bewusstseinswandel der Beschäftigten und ihre Organisierungen schon heute auf die Zukunft der Branche auswirken. Das wiederum lässt hoffen, dass es letztlich doch noch zu einem Durchbruch der Organisierung kommen wird.


Valentin Niebler promoviert an der Humboldt-Universität Berlin zu Arbeitskonflikten in der Tech-Branche.

Top photo: @AlphabetWorkers


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