Bericht von der Labor Notes Konferenz 2024
Die diesjährige Labor Notes-Konferenz brach alle Rekorde: Mehr als 4.500 Teilnehmer:innen drängten sich vom 19.-21. April in dem Kongress-Hotel nahe des Flughafens Chicago. Wäre die Anmeldung nicht bereits Wochen vorher geschlossen worden – es wären wohl noch einige Tausend mehr geworden. Es war damit die größte Konferenz in dieser Reihe, die die 1979 gegründete Zeitschrift »Labor Notes« alle zwei Jahre veranstaltet. Von Anbeginn verstanden sich die Labor Notes Konferenzen als Orte des Austausches und der Vernetzung betrieblicher Basisstrukturen untereinander und mit kämpferisch-demokratischen Erneuerungsströmungen in den Gewerkschaften. Sie überlebten die Niederlagen der US-Gewerkschaften in den 80ern, begleiteten den Organizing-Turn der großen Gewerkschaften seit den 90ern und sind organischer Bestandteil des beindruckenden Aufschwungs, den die US-Gewerkschaftsbewegung momentan erlebt. Jüngste Auseinandersetzungen machten sogar weltweit Schlagzeilen: etwa der Doppel-Streik der Schauspieler:innen und Drehbuchautor:innen, der Hollywood lahmlegte, oder der große Streik der Automobilarbeiter-Gewerkschaft UAW. In dieser hatte eine Labor Notes-affine Erneuerungsströmung die alte, sozialpartnerschaftliche Führungsriege nach einem Mitgliedervotum abgelöst und die Gewerkschaft auf Organizing und Offensive umgestellt. Und so erreichen die Streik-Zahlen in den USA gegenwärtig Höhen wie seit Jahrzehnten nicht und die Zustimmung für Gewerkschaften in der Bevölkerung ist mit über 70% so ausgeprägt wie zuletzt vor über einem halben Jahrhundert.
An dieser Entwicklung war Labor Notes alles andere als unbeteiligt, und so hob die Labor Notes Herausgeberin Alexandra Bradbury beim großen Eröffnungs-Plenum der Konferenz hervor: »Wir erleben eine aufregende Zeit in der Arbeiterbewegung. Zwei Jahre ist es her dass uns in diesem Raum Starbucks-Beschäftigte ihren Plan vorstellten, den Konzern in einen landesweiten Tarifvertrag zu zwingen – und sie haben es geschafft! Wir haben auch von Teamsters-Gewerkschaftern beim Logistiker UPS gehört, die ungerechten Tarifverträgen ein Ende setzen wollten – und auch sie haben es geschafft. Und wir hörten von UAW-Autoarbeitern dass sie eine Bewegung aufbauten, um ihre Gewerkschaft von unten zu verändern. Und haben sie es geschafft? Ja, das haben sie! Wir werden nun das ganze Wochenende Berichte von Gewerkschaftsaktiven aus jeder Branche dieses Landes hören, was sie schon erreicht haben, wie sie gewonnen haben, und wofür es noch zu kämpfen gilt.« Tatsächlich waren die übergroße Mehrheit der Teilnehmer:innen wie auch der Vortragenden betrieblich aktive Arbeiter:innen, was der Konferenz einen stark proletarischen Charakter verlieh.
Euphorisch wurde der während der Konferenz bekannt gewordene Sieg der UAW im Volkswagen-Werk in Tennessee gefeiert, wo über 70% der Belegschaft bei den Anerkennungswahlen für eine gewerkschaftliche Vertretung gestimmt hatten. Ein wahrlich historisches Ergebnis: nicht nur ist damit nun das letzte bisher gewerkschaftsfreie Werk des VW-Konzerns organisiert worden, sondern dies gelang ausgerechnet im gewerkschaftsfeindlichen Süden der USA – und könnte damit eine Organisierungswelle in den Südstaaten auslösen. Bereits im Mai stehen im Mercedes-Werk in Alabama die nächsten Anerkennungswahlen an. In vielen Workshops auf der Konferenz stellten UAW-Aktive ihre Organisierungsstrategien und -erfahrungen vor. Bis zum 1. Mai 2028 will die UAW alle großen Auto-Werke organisiert haben und diese dann, zusammen mit vielen anderen Gewerkschaften, in eine große Auseinandersetzung für Arbeitszeitverkürzung und für eine Regulierung von KI in der Arbeitswelt zu führen. »My mission when I was elected was one thing: to break with company unionism and get back to a members driven union«, unterstrich der UAW-Vorsitzende Shawn Fain auf einem Panel am Folgetag den Wandel in der Gewerkschaft. Mit ihm steht erstmals ein Labor Notes eng verbundener Kollege an der Spitze einer der großen Gewerkschaften, und so begeisterte Shawn auch auf dem Abschlusspodium: »Something is happening in this country that we haven’t seen in a long long time: the working class is standing up again.«
Ein anderes wichtiges Thema auf der Konferenz war das »Bargaining for the Common Good«, bei dem auch über den Arbeitsplatz hinausgehende Anliegen zum Gegenstand einer Tarifauseinandersetzung gemacht werden – häufig im Bündnis zwischen Gewerkschaften, Communities und sozialen Bewegungen. So auch auf dem Panel »Community and Labor Coalitions that work«, bei dem Felix Stracke, Elektriker bei einem Busunternehmen in Magdeburg, die Kampagne #WirFahrenZusammen von FFF + ver.di vorstellte. »Das Interesse an dieser Erfahrung eines Zusammengehens von Gewerkschafts- und Klimabewegung war so groß, man hätte auch einen ganzen Workshop nur dazu anbieten können!“, meinte er hinterher.
Die verdi Gewerkschaftssekretärin Yanira Wolf war schon zum zweiten Mal aus Deutschland zur Konferenz nach Chicago gereist – und war wieder begeistert: „Die Stimmung, die Diversität des Publikums und der hohe Anteil betrieblich Aktiver macht diese Konferenzen zu etwas ganz Einzigartigem. Für mich ist wieder beeindruckend, wie mitreißend hier Organizing-Methoden vorgestellt werden. Mir gibt es sehr viel Kraft und Motivation, über die aktuellen Kämpfe von den Leuten direkt zu erfahren.“
Eine große Rolle spielte die gewerkschaftliche Solidarität mit Palästina in vielen Panels, im Plenum und bei einer Kundgebung hunderter Konferenz-Teilnehmer, bei der es zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei vor dem Konferenz-Hotel kam. Insgesamt nahmen allgemeinpolitische, historische oder theoretische Panels aber nur eine untergeordnete Rolle im überbordenden Konferenz-Programm mit seinen fast 300 Veranstaltungen ein. Selbst die US-Präsidentschaftswahlen wurden nur am Rande behandelt. Eindeutig im Zentrum standen Formate, bei denen es um den Austausch praktischer Erfahrungen, um Vernetzungen innerhalb der einzelnen Branchen und um Methodenvermittlung ging.
Denn so bemerkenswert die momentanen Erfolge der US-Gewerkschaften auch sind, so sind sie doch nur relativ: Die Organisierungsgrad stagniert mit um die 10% (33% im öffentlichen Dienst, aber nur 6% in der Privatwirtschaft) auch weiterhin auf einem historisch niedrigen Niveau – und das, obwohl der investitionsgestützte Aufschwung der US-Wirtschaft und die geringe Arbeitslosigkeit ihnen in die Hände spielen. Und so sind die Organisierung-Aufgaben weiterhin riesig – und entsprechend groß war das Angebot an Workshops zu den »Secrets of a Successful Organizer« (So auch der Titel des wohl bekanntesten und auch ins Deutsche übersetzten Labor Notes-Buches), bei denen konkrete Methoden des Organizing vermittelt wurden: wie umgehen mit der Gleichgültigkeit vieler Kolleg:innen? Wie sieht ein erfolgreiches Organizing-Gespräch aus? Wie macht man ein TikTok-Video, und wie erstellt man einen überzeugenden »Plan to Win«, um auch die bisher Gleichgültigen mitzureißen?
Diese Methoden unterscheiden sich teilweise von denen, die die wohl prominenteste US-Organizerin Jane McAlevey im globalen »Organizing for Power« (O4P)-Schulungsprogramms der Rosa-Luxemburg-Stiftung vermittelt. Nicht im Programmheft stehend lag ihr Name trotzdem auf vielen Lippen, hatte sie doch wenige Tage vor Konferenzbeginn bekannt gegeben, dass die Behandlung ihrer unheilbaren Krebs-Erkrankung eingestellt wurde und sie nun in ein Hospiz gegangen ist. Bei der Konferenz-Eröffnung wurde ihr Wirken von Alexandra Bradbury gewürdigt. Viele der fast 10.000 nordamerikanischen O4P-Absolvent:innen dürften sich an diesem Wochenende in dem Chicagoer Konferenzhotel getummelt haben.
Die Konferenz zog auch viele internationale Teilnehmer:innen an, und auf einem Panel »How to start Labor Notes in your own country« wurde eine Bestandsaufnahme versucht und über den Aufbau ähnlicher Konferenzen in anderen Ländern gesprochen. Deutlich wurde, dass die »Konferenzen gewerkschaftliche Erneuerung« (»Streikkonferenzen«) der Rosa-Luxemburg-Stiftung weltweit am ehesten als Pendant zu den Labor Notes Konferenzen betrachtet werden können. 2013 gestartet, hat sich die Teilnehmer:innen-Zahl dieser Konferenz-Reihe von anfangs 500 auf zuletzt 1.550 kontinuierlich gesteigert. Analog zu Labor Notes stehen auch hier praxisrelevanter Austausch und Vernetzung im Zentrum. Im Unterschied zu Labor Notes finden die RLS-Konferenzen in Kooperation mit lokalen Gewerkschaftsgliederungen statt, und ziehen proportional mehr hauptamtliche Gewerkschafter:innen an. Auch spielen politische Themen bei den deutschen Konferenzen eine größere Rolle. Die kommende RLS-Gewerkschaftskonferenz wird für den Mai 2025 vorbereitet. Sie läge damit ein Jahr vor der nächsten Labor Notes Konferenz, der man nur wünschen kann, noch größere Räumlichkeiten zu finden, um 2026 ihren Teilnahme-Rekord ein weiteres Mal knacken zu können.
Über den Autor: Dr. Florian Wilde ist Referent für internationale Gewerkschaftsarbeit , Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Dr. Wilde.