Seit 2018 hat die Zahl der bewaffneten Banden in Haiti massiv zugenommen. Ihre Machtbereiche in der Hauptstadt Port-au-Prince sowie in weiteren Städten haben sie ausgeweitet. Inzwischen kontrollieren sie sogar Orte, die als andeyò (in der ländlichen Provinz liegend) bezeichnet werden und die bisher als ruhig und sicher galten.
Der Großraum Port-au-Prince ist heute von bewaffneten Banden umzingelt. Sie entführen, morden, vergewaltigen, dringen gewaltsam in Wohnviertel ein und zwangsrekrutieren Kinder. Tausende von Familien sehen sich deshalb zur Flucht aus ihren Wohnungen gezwungen. Die Gangs haben die Kontrolle über Nationalstraßen übernommen und erheben ihre eigenen Mautgebühren. Am 38. Jahrestag der haitianischen Verfassung, dem 29. Februar 2024, stürmten sie Dutzende von Polizeirevieren, griffen die beiden größten Gefängnisse des Landes an und verhalfen fast 4.600 Gefangenen zur Flucht. Sie attackierten kritische Infrastruktur, etwa den internationalen Flughafen Toussaint Louverture, und brachten die gesamte Wirtschaft für mehr als sieben Wochen zum Stillstand – ein Novum in der jüngeren Geschichte des Landes.
Die Gewalt ist eine zusätzliche Last für die fast fünf Millionen Menschen (fast die Hälfte der Bevölkerung), die ohnehin von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Die Ernährungsunsicherheit ist eine direkte Folge von Bandengewalt, von jahrzehntelangem Regierungsversagen und der Abwesenheit von sozialen Leistungen.
Führende Politiker:innen versuchen, die jüngste Gewaltwelle mit dem „Abkommen vom 3. April“ einzudämmen. Darin benannte die haitianische Führung einen neunköpfigen präsidialen Übergangsrat – sieben Mitglieder mit Entscheidungsbefugnis und zwei Beobachter. Der Rat hat bis zur Amtseinführung eines neuen Präsidenten oder bis zum 7. Februar 2026, je nachdem, was zuerst eintritt, kollektiv präsidiale Befugnisse. Es handelt sich um den siebten Regierungswechsel in Haiti seit dem Sturz des Duvalier-Regimes im Februar 1987.
Mittlerweile sind am 25. Juni dieses Jahres die ersten kenianischen Kontingente der von den Vereinten Nationen unterstützten internationalen Polizeimission, der Multinational Security Support Mission, in Haiti eingetroffen. Acht Monate davor, am 2. Oktober 2023, hatte der UN-Sicherheitsrat die Einrichtung der Mission beschlossen und den Übergangsrat bei seinem Amtsantritt am 25. April 2024 offiziell anerkannt. Die Mission wird von Kenia geleitet und mit der staatlichen Polizei von Haiti koordiniert. Die Operation wird zwar vom UN-Sicherheitsrat unterstützt, aber es handelt sich nicht um eine Operation der Vereinten Nationen. Haiti und Kenia unterzeichneten am 1. März 2024 ein Sicherheitsabkommen, und Kenia verpflichtete sich zur Entsendung von 1.000 Polizeibeamten. Die multinationale Mission soll die haitianische Regierung bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung unterstützen. Diese gigantische Aufgabe ist innerhalb von nur 20 Monaten zu bewältigen.
Ein fragiles politisches Abkommen – die Haitianer:innen hoffen und bangen
Verschiedene politische Akteure aus Haiti einigten sich in den 1. März 2024 begonnenen Verhandlungen unter der Aufsicht der internationalen Gemeinschaft auf ein Abkommen, das sie am 3. April 2024 unterzeichneten. Es ist der erste Schritt der neuen Regierung auf dem Weg zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und zur Festlegung der Bedingungen für eine wirksame Unterstützung der haitianischen Sicherheitskräfte unter Wahrung der nationalen Souveränität mit den internationalen Partnern“.
Die staatliche haitianische Polizei, die der Bandenkriminalität seit drei Jahren oft machtlos gegenübersteht, muss die Gangs jetzt auflösen. Unterstützt wird sie dabei von der multinationalen Polizeimission. Unter der Leitung von Kenia haben Benin, Jamaika, die Bahamas, Belize, Barbados, Antigua und Barbuda, Bangladesch, Trinidad und Tobago sowie Algerien die Entsendung von Polizeieinheiten zur Teilnahme an der Mission zugesagt. Kanada, Frankreich, Deutschland, die Türkei, das Vereinigte Königreich und Spanien werden sich möglicherweise der Mission anschließen. Eine funktionierende Polizei ist für die Abhaltung demokratischer Wahlen unerlässlich. Und Wahlen sind notwendig, damit das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Exekutive, die Legislative und die lokalen Behörden wiederherstellt werden kann.
Dabei wird sich die staatliche Polizei endlich auch wieder auf das Militär verlassen können. Nach jahrelanger Einmischung in die Politik und Dutzenden von Militärputschen – der letzte am 30. September 1991 gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide – waren die haitianischen Streitkräfte am 6. Dezember 1995 von Aristide aufgelöst worden. Am 17. November 2017 stellte Präsident Jovenel Moïse die Streitkräfte wieder her. Obwohl einige wichtige internationale Partner der Armee die Anerkennung verweigerten, rief die Regierung sie 2018 wieder ins Leben. Seitdem sind die 750 aktiven Mitglieder der haitianischen Streitkräfte fest in ihrem Hauptquartier stationiert – eine Minute Fußweg vom Nationalpalast entfernt.
Ende Juni dieses Jahres informierte das Verteidigungsministerium die Staatspolizei, dass die Armee abrufbereit sei. Damit bot das Militär der Staatspolizei zum ersten Mal seit 2017 Unterstützung bei bewaffneten Einsätzen gegen die Banden an. Der amtierende Premierminister Garry Conille verhängte am 17. Juli 2024 in 14 Gemeinden der Departements West und Artibonite den Ausnahmezustand. Dort können die Streitkräfte ihre Sicherheitsstrategie umsetzen und die staatliche Autorität wiederherstellen.
Neben der Bekämpfung der Banden muss die Regierung des amtierenden Premierministers Conille im Einvernehmen mit dem Präsidialrat den provisorischen Wahlrat einsetzen, den Vorstand der Wahlkommission der gesetzlichen Wahlbehörde, dessen Mitglieder aus der Zivilgesellschaft stammen. Der Wahlrat steht vor einer großen Herausforderung: die Aktualisierung und Abgleichung der Wählerverzeichnisse mit Daten aus den staatlichen Personenstandsregistern. Die für die Erstellung der Register zuständige Behörde kann keine genauen Daten über die Bürger:innen liefern, die in den letzten vier Jahren ums Leben gekommen oder verschwunden sind. Außerdem wird in der Wählerliste das Wahllokal für die Wähler:innen auf der Grundlage ihres Wohnsitzes festgelegt. Der Rat hat die fast 600.000 Menschen zu berücksichtigen, die durch Bandengewalt vertrieben wurden, und ihnen die Möglichkeit zur Stimmabgabe zu garantieren.
Für die Haitianer:innen ist es ein Déjà-vu. Dasselbe Szenario erlebte das Land mit der Friedensstabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH) nach dem Sturz von Jean Bertrand Aristide am 29. Februar 2004. Die damaligen Chimè – die bewaffneten Banden von Präsident Aristide – hatten bestimmte Arbeiterviertel wie etwa Cité-Soleil im Norden von Port-au-Prince oder Bel-Air im Zentrum des Landes in ihre Gewalt gebracht. Die von Brasilien geführte UN-Stabilisierungstruppe spürte diese bewaffneten Banden auf und setzte sie mit Razzien außer Gefecht.
Für die Kontakte und die Wiedereingliederung von Bandenmitgliedern, die einen Neuanfang wollten, war die staatliche Kommission für Entwaffnung, Auflösung und Wiedereingliederung zuständig. Das Vorhaben entpuppte sich jedoch als kläglicher Fehlschlag. Denn die Mitglieder der bewaffneten Banden zogen in andere Stadtteile um – vor allem in den Süden der Stadt – und schlüpften dort unter. Nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 nahm der Handel mit Schusswaffen und Munition exponentiell zu – importiert vor allem aus den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig schlossen sich bewaffnete Bandenmitglieder, Geschäftsleute und Politiker weiter zusammen.
Präsident Jovenel Moïse beschuldigte mächtige Politiker:innen und Unternehmer:innen öffentlich des Drogen- und Waffenhandels. Am 7. Juli 2021 wurde er ermordet. Die Banden, die sich hinter diejenigen Politiker:innen stellen, die ihnen am meisten Profite verschaffen, stehen sich inzwischen als zwei rivalisierende Bündnisse gegenüber: G9 und GPèp. Beide haben sich wiederum zur einer gemeinsamen Front gegen die Polizei und die haitianische Regierung zusammengetan und terrorisieren die Bevölkerung. Jetzt fordern sie, die Politik solle auf sie zugehen. Sie geben sich als Opfer des „Systems“ aus und fordern eine Mitbeteiligung an politischen Verhandlungen – eine Taktik, um sich der Justiz zu entziehen.
Die neue Regierung hat die dringende Aufgabe, für die notwendigen Übergangsreformen im Kampf gegen Korruption und für das Ende von Straflosigkeit zu sorgen, und sie muss eine Kommission für Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung einsetzen. Außerdem ist die Zivilgesellschaft an diesem Prozess zu beteiligen. Sie muss auf klare Veränderungen in der Regierungsführung drängen.
Experimente mit schnellen Lösungen für dauerhafte Veränderungen
Der Petrocaribe-Korruptionsskandal war für die haitianische Zivilgesellschaft ein echter Einschnitt. Im Jahr 2006 war Haiti Petrocaribe beigetreten, einem von Venezuela geführten Erdölbündnis. Der Schritt ermöglichte es Haiti, Gelder für Entwicklungsprojekte und Sozialprogramme zu sehr günstigen Bedingungen zu leihen. Der Rechnungs- und Verwaltungsgerichtshof veröffentlichte am 31. Januar 2019, am 31. Mai 2019 und am 12. August 2020 ausführliche Berichte über die Misswirtschaft mit den Geldern. Bereits in den Jahren 2016 und 2017 hatten zwei Berichte von Senatsausschüssen auf Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung des Fonds hingewiesen. Detailliert führen die Dokumente auf, wie Spitzenpolitiker, insbesondere Ex-Präsident Jovenel Moïse, öffentliche Gelder veruntreuten: mithilfe von fingierten Sozialprojekten beim Bau von Straßen, von denen sich die Hälfte noch heute in einem erbärmlichen Zustand befindet, und mittels überteuerter Verträge, die zwar unterzeichnet und bezahlt, aber nie ausgeführt wurden. Darüberhinaus wurden bei jeder sich bietenden Gelegenheit astronomische Summen für Partys ausgegeben, darunter auch für den Geburtstag von Präsident Michel Martelly. Insgesamt verschwanden mehr als 2 Milliarden Dollar aus öffentlichen Kassen in den Taschen von führenden Politikern.
Am 24. August 2018 begannen die Proteste unter dem Hashtag #KotKòbPetroCaribeA (Wo ist das Petrocaribe-Geld?). Junge Aktivist:innen, sogenannte Petrochallengers, ließen sich zwei Tage später zu einem Sit-in vor dem Rechnungs- und Verwaltungsgerichtshof nieder. Am 17. Oktober 2018 organisierten junge Führungskräfte der Zivilgesellschaft eine große Demonstration in der Hauptstadt, um Rechenschaft über die Verwaltung der Gelder zu verlangen. Seitdem hielten allwöchentliche Kundgebungen die politische Klasse und die internationale Gemeinschaft in Atem. Am 7. Juli 2021 wurde schließlich Präsident Jovenel Moïse ermordet.
In den letzten drei Jahren wurde die haitianische Diplomatie von Skandalen geschüttelt. Die Regierung tauschte ihren Botschafter in den USA aus, nachdem bekannt geworden war, dass über die Washingtoner Botschaft im Mai 2023 mit Pässen gehandelt worden war. Die Regierung des damaligen Premierministers Ariel Henry nahm jedoch weder Verhaftungen vor noch rief sie Botschaftsmitarbeiter:innen zurück. In einem 40-seitigen Bericht des Außenministeriums werden die Missstände beschrieben und mit Beweisen belegt, die US-Behörden beibrachten. Schlimmer noch, die haitianische Justiz bemühte sich nicht um die strafrechtliche Verfolgung der in den Skandal verwickelten Personen.
Die neue Ministerin für auswärtige und religiöse Angelegenheiten, Dominique Dupuy, beantragte zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt im Juni 2024 beim Obersten Rechnungshof und bei der Antikorruptionsstelle die Prüfung und Untersuchung des Außenministeriums sowie der diplomatischen Vertretungen für den Zeitraum von 2021 bis 2024. Dies ist eine der ersten Initiativen der Regierung zur Korruptionsbekämpfung.
Haiti mangelt es eindeutig an sozialem Schutz und Sicherheit. Die für das soziale Netz zuständigen Stellen sind das Ministerium für soziale Angelegenheiten und Arbeit, der Verwaltungsrat der Sozialversicherungsämter, der Wirtschafts- und Sozialhilfefonds, der Sozialhilfefonds, die staatliche Rentenversicherung und das Amt für Arbeitsunfälle, Krankheiten und Mutterschaft. Aber sie sind weitgehend unbekannt und leiden unter schlechtem Management.
Die Zivilgesellschaft schlägt wegen der Korruption und der Veruntreuung öffentlicher Mittel weiterhin Alarm. Zu den bereits genannten Skandalen kommen der Diebstahl von Baumaschinen aus der staatlichen Straßenbaubehörde, die Veruntreuung von Mitteln aus dem Sozialhilfefonds und dem Rentenversicherungsamt sowie Korruption, Veruntreuung und Waffenhandel in der Zollbehörde hinzu. Die Liste ist lang.
Das Justizsystem, das ohnehin unter langwierigen Arbeitsabläufen und erheblichem Ressourcenmangel leidet, steht seitens der Politik unter Druck und ist zur Verfolgung von Korruption nicht in der Lage. Jeder Versuch der Justiz, korrupten Politikern und Geschäftsleuten nachzugehen, wird als politische Verfolgung bezeichnet. Die Verhafteten werden freigelassen, die Akten geraten in Vergessenheit. Zur Besänftigung der Banden haben etliche Politiker eine Großamnestie ins Gespräch gebracht.
Mitglieder von Regierungen, die sich aus Koalitionsverhandlungen ergeben haben, distanzieren sich nur selten von ihren Förderern. Anscheinend wiederholt sich alles. Die Haitianer:innen misstrauen den Drehungen und Wendungen der Politiker und der internationalen Gemeinschaft und halten dabei an den Prioritäten Sicherheit und Gerechtigkeit fest. Starke Zweifel bestehen allerdings, ob Gerechtigkeit in absehbarer Zeit Wirklichkeit wird.
Die haitianische Zivilgesellschaft drängt auf einen Wandel
Haitis Beziehung zu den USA und Europa war schon immer komplex und von einseitiger Unterdrückung geprägt. Seit dem 19. Jahrhundert unterwerfen die USA Haiti ihrem Diktat, basierend auf der sogenannten Monroe-Doktrin. Diese besagt, dass jegliche Einflussnahme auf Lateinamerika und der Karibik, die nicht auf die USA zurückgeht, als feindlicher Akt gegen US-Interessen zu werten sei. Auch heute noch üben die USA einen übergroßen Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik Haitis aus. Sie dominieren alle UN-Entscheidungen in Bezug auf Haiti, auch in der UN-Kerngruppe. Eingerichtet hatte sie im Jahr 2004 der UN-Sicherheitsrat. In ihr beraten die Botschafter:innen von Brasilien, Kanada, Frankreich, Deutschland, Spanien, der Europäischen Union, der Organisation Amerikanischer Staaten und der USA, um Krisenlösungsvorschläge für Haiti zu erarbeiten.
Die Regierung von Präsident Michel Joseph Martelly (Mai 2011 bis Februar 2016) wurde von der Kerngruppe, und dabei besonders von den USA und Kanada, stark unterstützt. Im Februar 2017 kam Jovenel Moïse von der Partei PHTK an die Macht, nachdem er mit seinem Sieg im zweiten Wahlgang die internationale Gemeinschaft auf seine Seite gebracht hatte. Die Ernennung von Hélène La Lime, einer ehemaligen Beamtin des US-Außenministeriums, zur UN-Sonderbeauftragten in Haiti im Jahr 2019 führte zur endgültigen Dominanz der USA in der Kerngruppe.
Die Kerngruppe wurde nach der Ermordung von Moïse im Jahr 2021 zum entscheidenden Gremium für Debatten über den Führungswechsel. Sie stellte sich hinter den designierten Premierminister Ariel Henry, und das auch während seiner desaströsen 28-monatigen Amtszeit.
Die Zivilgesellschaft des Landes ist entschlossen, haitianische Vorschläge für die Lösung der zahlreichen Krisen zu erarbeiten. Dazu kamen im Jahr 2021 Vertreter:innen aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft zusammen. Im August desselben Jahres unterzeichneten sie das Montana-Abkommen, das die Wahl einer Übergangsregierung als Alternative zur Regierung von Premierminister Ariel Henry vorsieht. Das Abkommen prangerte die Korruption, die undurchsichtige Regierungsführung und die Veruntreuung öffentlicher Mittel sowie die Einmischung und Einseitigkeit der von den USA und Kanada dominierten Kerngruppe an. Länder wie Frankreich, Spanien, England und Deutschland, die in Nebenrollen gedrängt worden waren, schlossen sich der Kritik an.
Der US-Kongress und die Vereinten Nationen veranstalteten Anhörungen über den anhaltenden Konflikt in Haiti. Darin kam auch die Zivilgesellschaft mit ihrer Forderung nach Veränderungen zu Wort. Von Dezember 2022 bis September 2023 verhängten die USA und Kanada Sanktionen gegen korrupte haitianische Politiker:innen wegen Drogen- und Waffenhandels. Darunter befinden sich ehemalige Parlamentarier:innen, der Ex-Präsident Michel Martelly sowie seine ehemaligen Minister:innen und enge Mitarbeiter:innen. Zwar griffen die Sanktionen bei den betroffenen Personen und Unternehmen. Doch den ausufernden Handel mit illegalen Waffen und Munition konnten sie nicht bremsen. Die Vermögenwerte bekannter Bandenführer wurden eingefroren, und gegen sie konnten Reiseverbote verhängt werden. Doch diese Maßnahmen bremsten weder die territoriale Ausdehnung der Banden noch dämmten sie die Gewalt ein.
Die Führung der Karibischen Gemeinschaft CARICOM war zur Aufnahme weiterer haitianischer Krisenflüchtlinge nicht in der Lage. Stattdessen nahm sie als Vermittlerin zwischen Haiti und der Kerngruppe eine stärkere Rolle ein. Das Ergebnis war das Abkommen vom 3. April. Seitdem zieht sich CARICOM im politischen Tango zwischen Haiti und den mit ihm „befreundeten“ Ländern in der Kerngruppe aber wieder auf eine Beobachterrolle zurück.
Alte Politik verlassen, Rechtsstaat ermöglichen
Das Abkommen vom 3. April beauftragt den Übergangsrat mit der Einsetzung des Lenkungsausschusses für die Nationale Konferenz. Deren Ziel ist es wiederum, für das Land einen neuen Gesellschaftsvertrag und einen Plan für nachhaltige Entwicklung auszuarbeiten. Das Vorhaben ist ambitioniert. Denn es zielt auf die Überarbeitung der Verfassung, eine Neudefinition des Staates und der Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft ab. Menschenrechtsorganisationen wie das Réseau National de Défense des Droits Humains (Nationales Netzwerk zur Verteidigung der Menschenrechte) und Human Rights Watch haben Berichte veröffentlicht, in denen sie den Mangel an Gerechtigkeit auf die Politisierung der Positionen, die Missachtung der Grundrechte und den Einfluss von Straflosigkeit und Korruption zurückführen. Die Zivilgesellschaft fordert eine faire und gerechte Ressourcenverteilung und soziale Sicherheit in der Gesellschaft. Viele Haitianer:innen erhoffen sich von der Nationalen Konferenz ein positives Ergebnis – die Idee dazu hatte vor mehr als 30 Jahren der haitianische Politiker Turneb Delpé.
Die Sanktionen der USA und Kanadas gegen Politiker und Wirtschaftsführer lassen sich als eine Veränderung der Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und internationalen Partnern interpretieren. Dieser Wandel ist entscheidend für eine Dynamik, die in eine mit Haitianer:innen besetzte Regierungsführung, die diesen Namen verdient, münden könnte. Leider sind andere Länder Kerngruppe dem Beispiel der USA und Kanadas nicht gefolgt.
Die haitianische Zivilgesellschaft ist mit schlimmsten Krisen, Korruption und Gewalt konfrontiert. Jetzt beharrt sie mit dem Montana-Abkommen auf einen Platz am Tisch der Regierung und der internationalen Gemeinschaft, die sich seit langem zum Nachteil der haitianischen Bevölkerung in die Landespolitik einmischt. Am Horizont sieht die Zivilgesellschaft Gerechtigkeit aufziehen.
Souzen Joseph ist eine haitianische Journalistin und Fernsehproduzentin. Sie lebt in New York City. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Kultur, Bildung, Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit.