Juli 22, 2022

Die Zeit nach Roe: Wie es dazu kommen konnte und wie es weitergeht

Renee Bracey Sherman and Tracy Weitz

Die Vereinigten Staaten befinden sich inmitten einer ernsthaften Demokratiekrise. Weiße christliche Nationalisten tragen zu ihrer Verschärfung bei. Mittel zum Zweck ist ihnen die Abschaffung des Abtreibungsrechts. Kurz nachdem ein Entwurf des Obersten Gerichts an die Öffentlichkeit gelangt war, verkündeten die Höchstrichter der USA ihr ungeheures Urteil. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes kippten sie ein Recht, das für eine große Mehrheit des amerikanischen Volkes zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. Damit sorgen sie für einen Dominoeffekt: Die seit langem bestehende Trennung von Staat und Kirche wird aufgehoben, die Kriminalisierung von Schwarzen und Braunen Menschen, die schwanger sind, nimmt im ganzen Land zu.

Nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in vier Bundesstaaten hatte ihn das Oberste Gericht der USA im Januar 1973 in der Rechtssache Roe vs. Wade für verfassungskonform und damit landesweit für gültig erklärt. Das Urteil legalisierte den Eingriff bis zum zweiten Trimester und kippte gleichzeitig Hunderte von Gesetzen, mit denen er strafrechtlich sanktioniert worden war. Mit dem Ziel, Roe zu untergraben und undurchsetzbar zu machen, drängte in den Folgejahren die Anti-Abtreibungsbewegung an die politische Macht. Mit einer Reihe von Gesetzen sorgten Politiker für Hürden und Einschränkungen. Zuerst deckte die bundesweite Krankenversicherung die Kosten, die einkommensschwachen Amerikaner*innen entstanden waren, nicht mehr. Dann wurde es Kliniken und Ärzt*innen schwer gemacht, Abbrüche anzubieten. Zwar bekräftigte eine Entscheidung des Obersten Gerichts von 1992 im Fall Planned Parenthood vs. Casey das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Doch gleichzeitig blieb es der Entscheidung zufolge den einzelnen Bundesstaaten überlassen, wie sie Schwangerschaft definieren. Sie können deshalb Abtreibungen mithilfe von Zwangsberatungen und medizinisch unrichtigen Informationen erschweren. Ironischerweise dürfen Bundesstaaten zwar nach eigenem Ermessen ihre Macht und ihre Steuergelder für Schwangerschaftsvorsorge und Geburten aufwenden. Aber der Verantwortung für die Folgen – die Kosten, die mit einem Kind einhergehen – sind die Bundesstaaten enthoben.

Nachdem das Oberste Gericht den Bundesstaaten signalisiert hatte, dass Beschränkungen für den Zugang zu Abtreibungen zulässig sind, folgte die Politik auf dem Fuße mit der Errichtung Tausender von Hürden, die dann zur Grundlage für Rechtsstreitigkeiten wurden. Einige Gesetze galten weiter, andere wurden widerrufen. Schwangerschaftsabbrüche wurden durchgängig erschwert und immer mehr zu einem gesellschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Stigma. Erst vor kurzem machten Gerichte in Texas es möglich, dass Bürgerwehren das Abtreibungsverbot nach der sechsten Schwangerschaftswoche durchsetzen können. Sie erhalten bis zu 10.000 US-Dollar als Belohnung, wenn sie eine Person erfolgreich anzeigen, die einen Schwangerschaftsabbruch sechs Wochen nach der Empfängnis durchführen hat lassen, oder wenn eine Person einer schwangeren Person dabei behilflich war.

Der harte Kurs gegen Schwangerschaftsabbrüche, der heute gefahren wird, erinnert an die Einschränkungen im letzten Jahrhundert, als die Abtreibung in den USA erstmals kriminalisiert wurde. Federführend war dabei die American Medical Association, die die Geburtenrate unter weißen, angelsächsischen, protestantischen Frauen erhöhen wollte, um im hysterisch aufgeladenen gesellschaftlichen Klima einem »racial suicide« zuvorzukommen, der Weißen aufgrund der Einwandererwellen aus Südeuropa angeblich drohte. Genau wie damals heißt das Ziel der Abtreibungseinschränkungen Bevölkerungskontrolle, mithilfe von Nötigung, Frauenfeindlichkeit und Grausamkeit.

Nach 50 Jahren aggressiver Machtpolitik war die Anti-Abtreibungsbewegung erfolgreich. Im Juni 2022 kippte der Supreme Court seine eigenen Urteile Roe sowie Casey – eine bis dahin beispiellose Rücknahme eines Rechts – und erlaubte es einzelnen Staaten, ihre Bewohner*innen wegen Schwangerschaftsabbrüchen strafrechtlich zu verfolgen. In mehreren Bundesstaaten wurden die Uhren automatisch sofort auf die Zeit vor Roe zurückgestellt. Viele Gesetze, die dies auslösten, stammten noch aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die von ihnen betroffenen Menschen noch nicht einmal als vollwertige Menschen galten.

Andere Bundesstaaten verboten von sich aus in den Tagen nach dem Urteilsspruch Abtreibungen und drohen mit strafrechtlichen Maßnahmen für »Unterstützung und Förderung« von Schwangerschaftsabbrüchen. Bis Ende dieses Jahres wird dies in der Hälfte der Vereinigten Staaten der Fall sein.

Wer eine Schwangerschaft beenden will, muss entweder in einen Staat reisen, in dem die Abtreibung noch legal ist, oder sich die Mittel beschaffen, um den Abbruch selbst durchzuführen. Wer nicht dazu in der Lage ist, muss die ungewollte Schwangerschaft austragen. Untersuchungen zeigen, dass sich die meisten Menschen, die sich als Frauen identifizieren, für ein Elterndasein entscheiden, selbst wenn sie am Existenzminimum oder darunter leben müssen. Welchen Pfad sie auch einschlagen – ihren Optionen und Entscheidungen sind Grenzen gesetzt: die von Amerikas Erbsünde, der Sklaverei, von White Supremacy und von amerikanischem Überlegenheitsdenken.

Aktivist*innen demonstrieren vor dem Obersten Gericht in Washington D.C. am 30. Juni 2022 für das Recht auf Abtreibung. Mit seiner jüngsten Entscheidung in der Rechtssache Dobbs v Jackson Women’s Health kippte das Gericht das seit 50 Jahren geltende Urteil Roe v Wade. (Foto von Tasos Katopodis/Getty Images)

Die Vereinigten Staaten beruhen auf der Ausbeutung von Schwarzen und Braunen Körpern für Profit, Arbeitskraft und medizinische Experimente. Weiße Sklavenhalter vergewaltigten, schwängerten und verkauften versklavte Schwarze Frauen und ihre Kinder. Die Kinder Indigener Gemeinschaften wurden als Teil eines Völkermordprojekts aus ihrer Umgebung gerissen und zwangsassimiliert. Die amerikanische Medizin beruht zum Teil auf Versuchen an nicht-weißen Frauen.  J. Marion Sims, ein Begründer der amerikanischen Gynäkologie, kaufte versklavte Schwarze Frauen, die er Berichten zufolge dann für seine Experimente zwangsbefruchtete. Da er glaubte, Schwarze Frauen seien Untermenschen und schmerzunempfindlich, führte er an ihnen Operationen ohne Betäubung durch. Später im 20. Jahrhundert führten Pharmaunternehmen Versuche mit frühen Antibabypillen gezielt an puertoricanischen Frauen durch, da ihre Fruchtbarkeit als entbehrlich angesehen wurde. Die hohen Hormondosierungen bei diesen klinischen Versuchen haben eine ganze Generation fortpflanzungsunfähig gemacht. Die darin enthaltene Ironie ist grausam: Obwohl Schwarze und Braune Menschen zu Versuchsobjekten für die dann bahnbrechenden medizinischen Erfindungen wurden, ist diesen Communities der Zugang zu Verhütungsmitteln, zu gynäkologischer Versorgung sowie prä- und postnataler Medizin am meisten versperrt.

Kaum überraschend ist es deshalb, dass Schwarze und Braune Frauen unverhältnismäßig stark die negativen Konsequenzen der Kriminalisierung von Abtreibung zu spüren bekommen. Mehr als die Hälfte aller Abtreibungen betreffen People of Color, und Schwarze Frauen haben dreimal so häufig Abtreibungen wie weiße Frauen – ein Ausdruck des tief verwurzelten Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit in den USA. Dass Abbrüche häufiger vorgenommen werden, geht unter anderem auf die großen Lücken in der Gesundheitsversorgung zurück. Und selbst wenn der Zugang dazu gewährleistet ist, geht er nicht selten mit medizinischem Rassismus einher, der im Medizinstudium beginnt. Ganz besonders schwer wird der Zugang zu Abtreibungen, wenn Bundes- und Landesgesetze die Kostenübernahme komplizieren.

Statt eines bundesweiten staatlichen Gesundheitssystems existieren in den USA wenig regulierte Programme von privaten Krankenversicherern, die dann Profite erzielen, wenn sie die Erstattung von medizinischen Leistungen ablehnen. Unbezahlbare Arzt- und Krankenhausrechnungen gehören in den USA zu den Hauptgründen für Bankrotterklärungen. Wenn People of Color versichert sind, dann beim staatlichen Krankenversicherungssystem Medicaid. Es bietet einkommensschwachen Personen allerdings nur begrenzt Schutz und kommt laut gesetzlichen Vorschrift nicht für Schwangerschaftsabbrüche auf. Erwiesenermaßen entsprechen die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch in dieser Einkommensgruppe in etwa einem Monatseinkommen. Wer die Kosten für eine Abtreibung bezahlen muss, kann dann nicht für Miete, Stromrechnungen und Kinder aufkommen.

Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ist in den USA auch aus geografischen Gründen eingeschränkt, was People of Color besonders hart trifft. Seit den 1970er Jahren sind in den USA Sonderkliniken, die sich ganz oder vorwiegend auf Abbrüche spezialisieren, die Hauptanbieter dieser Leistungen. Weniger als zwei Prozent der Abtreibungen erfolgen in Arztpraxen. Da die Kliniken weitestgehend in Ballungszentren untergebracht sind, bleibt einem Drittel der Menschen der Zugang versperrt, da sie in außerstädtischen Bezirken leben. Wenn alle Abtreibungsverbote umgesetzt sind, wird es in keinem einzigen Staat des amerikanischen Südens mehr die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch geben. Dort leben mehr als 50 Prozent der Schwarzen Bevölkerung der USA.

Es wird nicht einfach sein, in einen anderen Bundesstaat zu reisen, um eine Behandlung zu erhalten. So beträgt beispielsweise die einfache Entfernung zwischen New Orleans im Bundesstaat Louisiana (einer Stadt, deren Bevölkerung zu 60 Prozent Schwarz ist), und der nächstgelegenen offenen Klinik im südlichen Illinois fast 1000 Kilometer. In den USA gibt es kein nationales Bahn- oder Bussystem, und Flugtickets sind teuer. Zwar existieren Hilfsorganisationen, die bei einer Reise helfen. Aber sie wird durch andere Lebensumstände erschwert. Über 60 Prozent der Menschen, die in den USA abtreiben, haben bereits Kinder und können diese nicht einfach zurücklassen, um zu reisen. In den USA gibt es weder eine subventionierte Kinderbetreuung noch ein landesweites System von Lohnfortzahlung oder Krankheitsvertretung. People of Color erhalten seltener als andere bezahlten Urlaub vom Arbeitgeber. Wer also nicht zur Arbeit erscheint, bringt kein Geld nach Hause. Nicht zuletzt verlangen viele Verkehrsunternehmen in den USA die Vorlage eines gültigen Ausweises, den Immigrant*innen ohne Papiere nicht haben. In Staaten, die Abtreibungen verhindern wollen, existieren Gesetzesentwürfe, die Reisen in Staaten mit legalen Abtreibungsmöglichkeiten untersagen und die die strafrechtliche Verfolgung nach der Rückkehr von einer solchen Reise androhen.

Wer nicht reisen und sich behandeln lassen kann, wird vielleicht versuchen, die Schwangerschaft selbst zu beenden. Vor dem Roe-Urteil machten das viele Frauen, was oft zu schweren Gesundheitsschäden und in einigen Fällen sogar zum Tod führte. Aber seit ein Schwangerschaftsabbruch mit den Arzneimitteln Misoprostol mit und ohne Mifepriston herbeigeführt werden kann, sind Selbstabtreibungen nicht mehr in allen Fällen gefährlich. Diese Medikamente sind dort erhältlich, wo Abtreibung legal ist. Vor der Aufhebung von Roe wurde mehr als die Hälfte der Abbrüche mit Medikamenten durchgeführt. In Bundesstaaten mit einem Abtreibungsverbot beziehen die Menschen ihre Medikamente aus dem Ausland oder von radikalen Aktivist*innennetzwerken. In medizinischer Hinsicht sind solche Schwangerschaftsabbrüche sicher. Sie werden von der Weltgesundheitsorganisation befürwortet.

Rechtlich besteht jedoch große Unsicherheit. Wer eine Abtreibung selbst vornimmt, ist einem  Strafrechtssystem ausgesetzt, das auf die massenhafte Inhaftierung von Schwarzen und Braunen Menschen ausgerichtet ist. Wer in einem überwiegend von Schwarzen und Braunen bewohnten Stadtviertel lebt, riskiert in höherem Ausmaß, mit der Polizei in Kontakt zu kommen. Denn polizeiliche Überwachung und Kontrolle sind dort am stärksten ausgeprägt. So ist beispielsweise der Drogenkonsum in den USA bei Weißen und Schwarzen ähnlich hoch, nicht aber die Festnahmen wegen Drogenbesitzes. Bei Schwarzen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wegen geringfügiger Drogendelikte zu einer Strafe verurteilt werden, deutlich höher. Trotz der bei Frauen niedrigeren Inhaftierungsrate ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze Frauen inhaftiert werden, doppelt so hoch wie bei weißen Frauen. Bei Mädchen aus indigenen Bevölkerungsgruppen beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sie inhaftiert werden, ein Vierfaches derer bei weißen Mädchen. Das Strafrechtssystem ist eine der Hauptursachen dafür, dass eine Sekundarschulausbildung nicht abgeschlossen werden kann.

Sich Medikamente für eine Selbstabtreibung zu beschaffen, birgt ein hohes rechtliches Risiko. Für People of Color und einkommensschwache Menschen kommen viele logistische Hindernisse dazu.  Verlässliche Informationen sind schwer zu finden, da Abtreibungsgegner absichtlich Falsches und Irreführendes zum Thema Schwangerschaftsabbruch in die Welt setzen. Untersuchungen haben ergeben, dass Falschinformationen Schwangerschaftsabbrüche erschweren. Medikamente für einen Abbruch kosten zwar nur etwa ein Drittel dessen, was in einer Klinik anfiele. Aber selbst niedrigere Kosten stellen für viele Menschen immer noch ein Hindernis dar. Denn eine Geldüberweisung an den Anbieter hat per Internet zu erfolgen. Aber dazu haben viele Menschen mit geringem Einkommen oft keinen Zugang. Wer keine sichere Abtreibungsmethode finden kann, greift dann vielleicht zu riskanten Methoden, die zum Tod führen können. In Texas, wo Abtreibung schon vor der Aufhebung von Roe stark eingeschränkt war, nutzen allerdings die meisten Menschen erwiesenermaßen sichere Selbstabtreibungsmethoden.

Wer einen Abbruch wünscht, ihn aber weder durch eine Reise in einen anderen Bundesstaat noch durch Selbstabtreibung durchführen kann, ist gezwungen, die Schwangerschaft auszutragen und ein Kind zur Welt zu bringen. Die Konsequenzen für die Person sind gravierend, wie ein über zehn Jahre laufendes Forschungsprojekt namens Turn Away Study ergab. So erlitten Frauen, denen gegen ihren Willen Schwangerschaftsabbrüche versagt blieben, häufiger Konkurse, Zwangsräumungen und das Abrutschen in Armut als Frauen, die abtreiben konnten. Frauen, die gegen ihren Willen Schwangerschaften austragen mussten, blieben häufiger mit einem gewalttätigen Partner zusammen und zogen Kinder ohne Partnerunterstützung auf. Negative Folgen ergaben sich auch für die Kinder, die die Frau bereits hatte, für das unerwartete Kind und für künftige Kinder, die in der Familie geboren wurden. Schließlich litten Frauen, denen ein Schwangerschaftsabbruch versagt blieb, auch eher unter langfristigen gesundheitlichen Folgen wie Bluthochdruck und Migräne.

Eine Entbindung birgt erhebliche medizinische Risiken, darunter ein 14-fach erhöhtes Sterberisiko. Im Vergleich zu anderen Industrienationen ist die Wahrscheinlichkeit, bei der Geburt eines Kindes zu sterben, in den USA mehr als doppelt so hoch. Bei Schwarzen Frauen verdoppelt sich diese Rate skandalöser Weise noch einmal. Laut einer Studie wird ein Abtreibungsverbot in den USA zu einem Anstieg der Müttersterblichkeit im ersten Jahr um sieben Prozent und in den Folgejahren um 21 Prozent führen. Am stärksten würde die Sterblichkeitsrate bei nicht-hispanischen Schwarzen ansteigen (um 33 Prozent in den Folgejahren). Da die meisten Menschen, die abtreiben, bereits Kinder haben, werden diese Todesfälle elternlose Kinder hinterlassen – wohl kaum das, worauf »Pro-Life«-Abtreibungsgegner setzen.

Dennoch kümmern diese Zusammenhänge die »Pro-Life«-Gesetzgeber nicht. Sie haben anscheinend kein Interesse daran, den Auswirkungen der Abtreibungsverbote auf den Grund zu gehen. Die Staaten mit den schärfsten Abtreibungsgesetzen sind eben auch dieselben, in denen es wenig bis gar keine wissenschaftlich fundierte Sexualerziehung gibt, in denen das Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Nicht-Weißen am größten und die Müttersterblichkeit am höchsten ist. Louisiana steht dabei an der Spitze. Die sehr hohe Müttersterblichkeitsrate in dem Bundesstaat steht in direktem Zusammenhang mit den äußerst restriktiven Abtreibungsverboten, die Abtreibungsgegner beider Parteien durchgesetzt haben. Weshalb so viele schwangere Schwarze sterben, fragt sich kaum jemand. Darauf in einem Interview mit dem Magazin POLITICO angesprochen, wusste der Senator von Louisiana, Bill Cassidy, nichts anderes zu sagen als »People of Color haben eben eine höhere Müttersterblichkeit, aus welchem Grund auch immer«. Cassidy schlug vor, die statistischen Erhebungen zur Müttersterblichkeit einfach zu bereinigen und die Kategorie »race« zu streichen. Damit würde das Problem übertüncht. Schwarze machen etwa ein Drittel der Bevölkerung von Louisiana aus. Der Senator, ein auf Gastroenterologie spezialisierter Arzt, behauptete in einem anderen Interview im National Public Radio, beim systemischen Rassismus handele es sich um bloße »Rhetorik«. Zudem liege wissenschaftlich betrachtet ein Grund für die Ungleichheiten im Gesundheitssystem möglicherweise in der »Physiologie« Schwarzer Menschen.

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Abtreibungsverbote wirken weit über die Menschen hinaus, die eine Schwangerschaft beenden wollen. Sie betreffen alle Menschen, die gebärfähig sind und medizinische Hilfe benötigen. Zentral für die Durchsetzung von Abtreibungsverboten ist die Drohung mit Gefängnis oder sogar Todesstrafe für die, die Abtreibungen vornehmen. In den betreffenden Bundesstaaten kann dann keine einzige schwangere Person mehr einen Abbruch durchführen lassen. Zudem sind Kliniken und medizinischem Personal die Hände gebunden, die eine Abtreibung Schwangeren anbieten müssten, wenn deren Gesundheit oder Leben auf dem Spiel steht. An diesem Punkt wird die Kriminalisierung zur bitteren Realität und brandgefährlich.

Dr. Jamila Perritt, die Vorsitzende von Physicians for Reproductive Health und Mitglied des American College of Obstetricians and Gynecologists, erläuterte in einem Interview mit uns die große Kluft zwischen Strafverfolgung und Gesundheitsversorgung. Sie stünden sich diametral gegenüber. Medizinische Versorgung in einem Umfeld zu leisten, in dem strafrechtliche Verfolgung droht oder in die Tat umgesetzt wird, sei unmöglich. Die Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden, ist laut Perritt im Gesundheitswesen nirgendwo so hoch wie bei Schwangerschaftsabbrüchen. Das behandelnde Personal müsse sich fragen, ob es nach einem Eingriff nicht im Gefängnis landet. Besonders kompliziert werde es bei Risikoschwangerschaften, so Perritt: »Wer Hilfe in Anspruch nimmt, will auf keinen Fall auf eine Person angewiesen sein, die sich unsicher ist, was sie tun soll. Und damit meine ich eine Person, die weiß, wie am besten zu helfen wäre, die sich aber gleichzeitig fragt: ist das denn auch das Beste für mich selbst? « Und weiter: »Zwischen den Ergebnissen für die Person, die wir betreuen, und für betreuende Person sollte niemals ein Missverhältnis entstehen.«

Das unantastbare Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt*in und Patient*in werde auf diese Weise erschüttert, erläuterte Dr. Perritt, und in bestimmten Fällen könnten sich beide Seiten gezwungen sehen, gegeneinander vorzugehen und dem Staat Informationen über den anderen zu liefern. »Wenn medizinisches Versorgungspersonal aufgefordert oder gezwungen werden soll, zu staatlichen Akteuren zu werden, dann schreckt dies mit Sicherheit von jeglicher medizinischen Tätigkeit ab.« Die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen hindert Ärzt*innen und Pfleger*innen, ihren Patientinnen zu helfen. In manchen Fällen halten sie es für ihre Aufgabe, Patientinnen bei der Polizei anzuzeigen, wenn diese nach einer illegalen Behandlung Hilfe suchen, oder die Polizei über Handlungen zu informieren, die eine Patientin vorgenommen hat und die den Schwangerschaftsverlauf beeinflusst haben könnten. Dr. Perritt: »Das bedeutet, dass unsere öffentliche Gesundheit, die Gesundheit von Einzelnen wie von Communities, aufs Spiel gesetzt wird. Denn Angst vor Strafverfolgung, vor Einschüchterung, vor Verhören und vor Kriminalisierung halten die Menschen davon ab, sich an eine Gesundheitseinrichtung zu wenden.«

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Die Kriminalisierung von Schwangerschaft ist jedoch nicht nur bei Abtreibung der Fall. Nur wenigen Menschen ist bewusst, wie viele Rechte und Freiheiten eine Person an ihrem eigenen Körper verliert, sobald sie schwanger wird. In ihrem Buch Policing the Womb: Invisible Women and the Criminalization of Motherhood schildert die Rechtswissenschaftlerin Michele Goodwin Dutzende von Fällen von Frauen, die verhaftet und inhaftiert wurden, weil sie nach staatlicher Auffassung ihrer eigenen Schwangerschaft geschadet hätten. Dazu zählen die Verweigerung medizinischer Eingriffe, etwa eines Kaiserschnitts, oder eine Fehlgeburt unter »fragwürdigen« Umständen. Bei den befragten Frauen handelt es nicht ausschließlich um Schwarze und Braune. Schließlich betrifft die Kriminalisierung alle einkommensschwachen Menschen. Dennoch sind polizeiliche Überwachung und Kontrolle in diesen Communities unverhältnismäßig stärker ausgeprägt, und das aufgrund des ohnehin schon bestehenden, auf Rassismus beruhenden Generalverdachts, unter dem sie stehen.

Schwarze schwangere Frauen herabzuwürdigen gehört seit jeher zu den Strategien der Anti-Abtreibungsbewegung. Im Jahr 2011 hieß es auf berüchtigten Anti-Abtreibungs-Plakaten »The most dangerous place for an African American is the womb« (Für Afroamerikaner ist der Mutterleib am gefährlichsten). Insinuiert wurde damit, der schlimmste Mensch für ein Schwarzes Kind sei die eigene Mutter. Mit solcherlei Aussagen drücken Abtreibungsgegner ihren offenen Hass auf Menschen aus, die abtreiben – die meisten von ihnen sind People of Color, leben in Armut und sind Eltern – , ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, sie seien offen rassistisch, frauenfeindlich oder familienfeindlich. Denn sie teilen ein: einerseits in Menschen, die abtreiben, und andererseits in »gute Mütter« sowie diejenigen, die Unterstützung verdient haben. Diesen Stereotypen ist die Professorin für Recht und Soziologie an der University of Pennsylvania Dorothy Roberts in ihrem Buch Killing the Black Body und Torn Apart: How the Child Welfare System Destroys Black Families and How Abolition Can Build a Safer World auf den Grund gegangen. Sie seien in der US-Kultur so wirkmächtig und dominant geworden, dass die Behörden wegen kleinster Delikte Schwarzen Familien ohne Weiteres das Sorgerecht über ihre Kinder entziehen – für Vergehen, die mit mehr Geld, Nahrungsmitteln und Gesundheitsfürsorge kaum vorkommen würden. Wer ein Kind hat und arm ist, wird schnell zum Ermittlungsfall. Da die meisten Menschen, die abtreiben, bereits Eltern sind und einen Abbruch eben deshalb vornehmen lassen, weil sie sich ein weiteres Kind nicht leisten können, sind Anti-Abtreibungsgesetze der Grund, weshalb mehr Menschen staatlichen Zwangsmaßnahmen unterworfen sein werden.

Mit besseren Mitteln ausgestattete weiße Familien brauchen solche Maßnahmen wahrscheinlich nicht über sich ergehen lassen. Zwar könnte es bei ihnen durchaus zu Festnahmen und Klagen kommen, etwa weil sie Menschen bei Schwangerschaftsabbrüchen behilflich waren, oder nach Selbstabtreibungen. Aber der staatlichen Überwachung werden sie nicht in gleichem Maße ausgesetzt sein. Sie haben keine Einwanderer-Checkpoints zu befürchten, wenn sie für einen Schwangerschaftsabbruch in einen anderen Bundesstaat reisen. Eher unwahrscheinlich ist es, dass Ärzt*innen und Polizei ihr Zaudern darüber, was mit der Schwangerschaft geschehen soll, als Beweismittel gegen sie verwenden, wenn es zu Verfahren wegen einer Tot- oder Fehlgeburt kommt. Weniger wahrscheinlicher ist es außerdem, dass sie in die Mühlen von Jugend- und Sozialämtern geraten, in denen sich Schwarze und Braune schon so lange befinden.

Ein Aspekt, der in den Diskussionen über die Kriminalisierung der Abtreibung übersehen wird, ist laut Roberts die Frage, was aus Menschen wird, die dieses Vergehens angeklagt werden. Frauen, die verhaftet und angeklagt wurden, weil sie ihre Abtreibungen angeblich selbst vorgenommen haben oder weil ihnen bei Totgeburten nicht geglaubt wurde, werden wohl kaum in ein normales Leben zurückfinden. Haft bedeutet zwangsläufig Verlust von körperlicher Autonomie und Freiheit sowie die Trennung von den Kindern. Auch ohne Haft ist ihr Leben weitgehend zerstört. Ihre Namen befinden sich landesweit in den Schlagzeilen. Vielleicht sind sie wegen früherer Vergehen und Straftaten noch aktenkundig und können deshalb weder Arbeit noch eine Wohnung finden. Möglicherweise wurden sie von ihren Familien und Communities geächtet, und ihre Kinder müssen Mobbing ertragen. Die psychische Belastung, die Verhaftungen für sie und ihre Kinder bedeuten, ist kaum zu ermessen. Am schlimmsten ist wohl, dass der Staat ihre Kinder wegnehmen und Familien damit ganz auseinanderreißen kann – für eine Abtreibungsentscheidung, die getroffen wurde, um sich besser um die Kinder kümmern zu können.

Auch diejenigen, die sich nicht in diesem System verfangen haben, sind der Belastung durch soziale Kontrolle und Angst ausgesetzt. »Bei Frauen spricht sich herum, dass man eine Anklage riskiert, wenn man sich um einen Schwangerschaftsabbruch bemüht«, sagt Roberts. »Allein schon eine Beschuldigung hat verheerende Auswirkungen.«

Staatliche Behörden werden das Klischee von den »schlechten Müttern, die abtreiben« jetzt umso mehr gegen Frauen in Stellung bringen. Es soll als Rechtfertigung für den Entzug ihrer Kinder dienen, wenn sie ihre Schwangerschaft nicht abbrechen konnten und zum Auszutragen gezwungen waren. Laut Roberts befinden sich diese Eltern infolge des Abtreibungsverbots in einer äußerst schmerzhaften und geradezu ausweglosen Lage. Die gewünschte Abtreibung wurde ihnen verweigert. Dann werden sie beim Versuch, mit ihrer Armut zurechtzukommen, kriminalisiert, weil sie auf keine staatliche Grundversorgung zurückgreifen können. Schließlich entzieht ihnen der Staat die Kinder, zu denen er sie anfangs gezwungen hat. Dem Entzug der Kinder folgt nicht selten Gefängnis. Während die Eltern inhaftiert sind, stecken die Kinder in der unterfinanzierten Kinder- und Jugendfürsorge fest. Es ist ein Teufelskreis. Die Frauen werden dafür bestraft, dass sie nicht genug Geld haben, um überhaupt Kinder zu bekommen.

Genau darin besteht das Ziel, meint Roberts. Die Regierung »zwingt dich, zu einer Art von Bürger zu werden, die auf einer white supremacist und patriarchalischen Sicht von Bürgerlichkeit und Familie beruht.« Wir befinden uns in eine Zeitenwende – deshalb sind der Zugang zu Bildung, reproduktive Gerechtigkeit, Trans-Menschen und queere Familien sowie Schwarze Communities gleichermaßen gefährdet. Nachdem die Konservativen Roe abgeräumt haben, arbeiten sie umso nachdrücklicher daran, die Gesellschaft nach ihren weißen, christlich-nationalistischen Vorstellungen umzubauen. Dabei werden sie mit allen Mitteln die zu kriminalisieren versuchen, die ihnen im Weg stehen.

Renee Bracey Sherman ist Verwaltungswissenschaftlerin, engagiert sich für reproduktive Gerechtigkeit und schreibt über Abtreibung. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin von We Testify. Die Organisation setzt sich für Menschen ein, die abgetrieben haben. Sie ist Ko-Autorin des demnächst erscheinenden Buches Countering Abortionsplaining (Amistad/Harper Collins).

Tracy Weitz ist Professorin für Soziologie und Leiterin des Center for Health, Risk, and Society an der American University. Sie ist eine führende Expertin für Schwangerschaftsabbrüche in den USA. Ihre Forschungen dienten in einzelnen US-Bundesstaaten als Grundlage für Innovationen in der klinischen Praxis.  


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