Oktober 2, 2023

Als New York City zu Chile hielt

Mariana Fernandez

In diesem Sonderteil, der von The Indypendent und dem New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung gesponsert wird, beschäftigen wir uns mit der Chile-Solidaritätsbewegung in New York City und den Jahren nach dem Putsch vom 11. September 1973. Er hatte zum Sturz der demokratisch gewählten Regierung von Präsident Salvador Allende und zum Aufstieg der unterdrückerischen Diktatur von General Augusto Pinochet geführt. Fünfzig Jahre später gedenken wir der Opfer. Wir lassen uns inspirieren vom bleibenden Erbe der New Yorker Solidaritätsaktivist:innen, die sich in einem der dunkelsten Kapitel Chiles für Gerechtigkeit und Demokratie eingesetzt haben.

Die weltweite Chile-Solidaritätsbewegung entstand in der Regierungszeit der demokratisch-sozialistischen Unidad Popular von Salvador Allende (1970-1973). Der Sieg der UP bei den Präsidentschaftswahlen 1970 und Allendes unbeirrbares Eintreten für einen demokratisch-sozialistischen Entwicklungsweg sorgten weltweit für große Aufmerksamkeit und Empathie. Das Bestreben der Regierung, eine gerechtere, von der Arbeiterklasse geführte Gesellschaft aufzubauen, diente in der kurzen Amtszeit von Allende zahllosen Menschen außerhalb der chilenischen Grenzen als Inspiration.

Am 20. Oktober 1973 stellten New Yorker auf dem West Broadway zwischen Houston und Prince Street ein über 30 Meter langes politisches Wandgemälde nach, das in Chile vom Militärregime zerstört worden war. (Archives of American Art, Smithsonian Institution)

Die Nachricht vom Militärputsch unter der Führung von General Augusto Pinochet am 11. September 1973 erschütterte die ganze Welt. Die repressive Pinochet-Diktatur, unter der Tausende von Chilen:innen gefoltert, ermordet und zum Verschwinden gebracht wurden, löste internationalen Widerstand dagegen aus. Auch New Yorker und New Yorkerinnen sahen sich in der Pflicht, darauf zu reagieren und die chilenische Bevölkerung zu unterstützen. Inmitten des Aufruhrs und der Unterdrückung in Chile wurde New York City zu einem Zentren für Exil-Chilen:innen, die Sicherheit und Hilfe suchten. In der ganzen Stadt entstanden Solidaritätsinitiativen. Linke, Künstler:innen und Exilierte wurden dabei zu den Hauptakteuren einer vielschichtigen Bewegung. Ihr Anliegen war es, auf das Leid der chilenischen Bevölkerung aufmerksam zu machen und gegen die Menschenrechtsverletzungen des Pinochet-Regimes vorzugehen.   

Die Solidaritätsbewegung spielte darüberhinaus eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Amerikaner:innen über die Macht des US-Imperialismus in Lateinamerika. Zahlreiche Gruppierungen enthüllten, mit welch skrupellosen Strategien die US-Regierung sowie Konzerne ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen verfolgten und welche Folgen die Einmischung der USA in die internen Angelegenheiten ausländischer Regierungen hatte.  

Dieser Sonderteil befasst sich mit den New Yorker Solidaritätsnetzwerken und ihrer wichtigen aufklärerischen Rolle. Unsere Recherchen haben ergeben, dass sich die engen Grenzen von Nationalität, Sprache und Kultur auflösten und in ein tiefgreifendes Gefühl der Verbundenheit  und gelebte Solidarität mündeten. Die Reaktion von New Yorkern auf den chilenischen Staatsstreich verkörperte einen echten Internationalismus und machte deutlich, welche Wirkung kollektives Eintreten für Gerechtigkeit auf globaler Ebene entfalten kann.  


AN EVENING WITH SALVADOR ALLENDE

Das Benefizkonzert „Friends of Chile, An Evening With Salvador Allende“ am 11. Mai 1974 war eine der wichtigsten internationalen Veranstaltungen zur Unterstützung des chilenischen Exils ein Jahr nach dem Sturz von Allende. Es war der erste Versuch, länderübergreifend gegen die Diktatur zu protestieren, und der erste, der den Finger auf die US-Regierung und ihre Verwicklung in den Militärputsch legte und daran offen Kritik übte.   

Die Künstler verabschieden sich vom Publikum bei An Evening with Salvador Allende, organisiert von Phil Ochs mit Friends of Chile. Felt Forum und am 9. Mai 1974 im New Yorker Madison Square Garden aufgeführt. (Marcelo Montealegre)

Die Veranstaltung wurde von dem amerikanischen Protestsänger Phil Ochs und dem chilenischen Schauspieler und Dichter Claudio Badal organisiert und fand in New Yorker Madison Square Garden statt. Ochs hatte sich für die politischen Prozesse in Lateinamerika interessiert und war 1971 nach Chile gereist, um die Arbeiter- und Universitätsbewegung hautnah mitzuerleben. Er war ein enger Freund und Bewunderer des populären chilenischen kommunistischen Sängers, Dichters und Schauspielers Víctor Jara gewesen, den das Pinochet-Regime Jara nach dem Putsch entführt, gefoltert und hingerichtet hatte.    

Der Abend bot ein vielseitiges Programm mit Arlo Guthrie, Pete Seeger, Dennis Hopper, Bob Dylan, dem schwedischen Diplomaten Harald Edelstam, Gato Barbieri und anderen. Allendes Witwe Hortensia Bussi war ebenfalls vor Ort. Das Living Theater, ein amerikanisches Ensemble für experimentelles Theater, stellte die Folterungen nach. Die dazugehörigen Erläuterungen sprachen ehemalige Gefangene der brasilianischen Diktatur (1964-1985), die damals auch dieses südamerikanische Land heimsuchte.

Das Living Theatre von Julian Beck und Judith Malina stellte auf der Bühne Folterungen nach. „An Evening with Salvador Allende“ wurde organisiert von Phil Ochs mit den Friends of Chile, Felt Forum und am 9. Mai 1974 im New Yorker Madison Square Garden aufgeführt. (Marcelo Montealegre)

WANDBILDER FÜR DAS VOLK

Umschlag von Murals for the People of Chile (Eva S. und James D. Cockcroft) in: Toward Revolutionary Art, Nr. 4 (1973), S. 2-11, Nachlass von Lucy R. Lippard. (Archives of American Art, Smithsonian Institution)

Nach dem Staatsstreich von 1973 organisierte eine Gruppe von Intellektuellen, Künstler:innen und anderen Kulturschaffenden eine Solidaritätsinitiative, die in New York ein Wandgemälde der Brigada Ramona Parra (BRP) reproduzierte. Es war bei der Machtergreifung der Diktatur zerstört worden.

Die 1968 in Chile gegründete BRP war eine mit der Kommunistischen Partei Chiles verbundene Wandmalerbrigade. Sie fertigte und brachte die murales im ganzen Land an öffentlichen Plätzen an, um soziale und politische Botschaften zu vermitteln. Nach Pinochets Staatsstreich startete das Regime eine konzertierte Aktion zur Beseitigung jeglicher linker Kunst und Kultur. Dazu gehörte die Übertünchung und Zerstörung der BRP-Wandbilder.

Als Zeichen der Solidarität mit der chilenischen Widerstandsbewegung rief eine Gruppe namens Concerned Artists from the US and Latin America zu Protesten gegen „Zensur, Bücher- und Kunstverbrennung und die Verhaftung von Künstlern und Intellektuellen in Chile“ auf. Ihr gehörten wichtige Persönlichkeiten aus der New Yorker Kulturszene an, etwa die Kunstkritikerin Lucy Lippard, die Kunsthistorikerin Jaqueline Barnitz, der im Exil lebende Filmemacher Jaime Barrios und der chilenische Künstler Enrique Castro-Cid. Die Gruppe lud New Yorker und New Yorkerinnen zur Neugestaltung eines vom Regime zerstörten, 30 Meter langen Wandgemäldes ein. Es hatte sich am Mapocho-Fluss in Chile befunden und wurde dann in New York am West Broadway zwischen Houston und Prince Street nachgebaut.

Ein Flugblatt – ohne Computersoftware  erstellt – forderte zur Teilnahme an der Wandmalaktion am 20. Oktober 1973 auf. (Archives of American Art, Smithsonian Institution)
Am 27. Oktober 1973 wurden die Wandtafeln Vertreter:innen der staatlichen chilenischen Fluggesellschaft gezeigt. (Archives of American Art, Smithsonian Institution)

KÜNSTLER:INNEN FÜR CHILE

Orlando Letelier war ein chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Diplomat. Im Jahr 1971 war er von Salvador Allende zum Botschafter in den Vereinigten Staaten ernannt worden. Nach seiner Rückkehr nach Chile im Jahr 1973 hatte er verschiedene Schlüsselämter in der Regierung inne. Er gehörte zu den ersten Mitgliedern der Allende-Regierung, die nach dem Staatsstreich von den Militärbehörden verhaftet und anschließend in ein Gefängnis für politische Gefangene geworfen wurden. Während seiner jahrelangen Gefangenschaft in verschiedenen Lagern wurde er auch gefoltert.

Auf internationalen diplomatischen Druck hin, dem sich auch die Regierungen Venezuelas und der USA angeschlossen hatten, willigte das Regime ein, ihn unter der Bedingung freizulassen, dass er das Land verlassen würde. Ins Exil gezwungen zog Letelier in die USA und wurde Fellow am Institute for Policy Studies IPS in Washington D.C.

Am 21. September 1976 fiel Letelier einem Autobombenanschlag in Washington zum Opfer. Es war ein politisch motiviertes Attentat, von Agenten des chilenischen Militärregimes orchestriert. Die in seinem Auto platzierte Bombe tötete Letelier und seinen IPS-Kollegen Ronni Moffitt. Das Attentat unterstrich, dass dem Pinochet-Regime auch jenseits der chilenischen Grenzen jedes Mittel zur Unterdrückung der Opposition recht war.

Nach seiner Ermordung organisierte eine Gruppe von Künstler:innen des US-amerikanischen Ad-hoc-Komitees des Museo Internacional de la Resistencia Salvador Allende eine Kunstausstellung und eine Benefizveranstaltung für das chilenische Menschenrechtskomittee. Es fand in der New Yorker Cayman Gallery zum Gedenken an Letelier statt. Gezeigt wurden  Werke amerikanischer und lateinamerikanischer Künstler:innen. Nitza Tufiño, Nuyorican-Künstlerin, Mitbegründerin des El Museo del Barrio und Mitglied des politisch-künstlerischen Kollektivs Taller Boricua, war eine der Organisatorinnen.

Karte für eine Ausstellung in der Cayman Gallery zur Unterstützung der Solidarität mit dem Kampf für Demokratie in Chile und zum Gedenken an Orlando Letelier, der von Agenten der chilenischen Junta in Washington D.C. ermordet wurde. New York, 1977 (Nitza Tufiño Archive)

DIE PROTESTE GEGEN DAS ESMERALDA-SCHIFF

Das chilenische Marineschiff Esmeralda sollte 1976 an der Parade der großen Segelschiffe zur USA-Zweihundertjahrfeier am 4. Juli auf dem Hudson River teilnehmen. Ein Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten hatte das Schiff als schwimmendes Gefangenenlager bezeichnet. Politische Gefangene waren darauf mit Elektroschocks, Schlägen und Hochdruckwasserschläuchen gefoltert wurden.

Die viermastige Barkentine Esmeralda, Chiles Beitrag zur Operation Sail, ist zum Gegenstand von Protesten geworden. Politische Gefangene seien an Bord des Schiffes gefoltert wurden, heißt es. „Man könnte mit gutem Grund gegen alle chilenischen Schiffe protestieren, die hierher kommen“, sagte Susan Borenstein vom National Coordinating Center in Solidarity with Chile gegenüber der New York Times, „denn ihre Präsenz bei unserer Zweihundertjahrfeier spricht den Grundsätzen der Demokratie und des menschlichen Anstands Hohn.“

Gruppierungen wie Action for Women in Chile, Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), Amnesty International, religiöse Vereinigungen und weitere lehnen das Schiff als Symbol des chilenischen Militärregimes in New York City ab und haben deshalb dagegen am Pier 86 auf der West Side von Manhattan protestiert. Das National Council of Churches legte dem New Yorker Stadtrat einen Resolutionsentwurf vor, in dem er Bürgermeister Abe Beame aufforderte, dem Schiff den Zugang zu allen städtischen Einrichtungen zu verweigern.


(New York Times: Four Master From Chile is Called Torture Ship, 20. Juni 1976, sowie New York Times: Fete for Chilean Naval Ship Faces Protest, 26. Juni 1976)
Chilenische Regimekritiker:innen beim Protest gegen die Zurschaustellung der Esmeralda in der Parade zur Zweihundertjahrfeier der Schiffe am 4. Juli 1976. (Marcelo Montealegre)
Auf dem Schiff waren politische Gefangene gefoltert worden.(Marcelo Montealegre)
Der Protest gegen die Esmeralda fand am Pier 86 an der West Side von Manhattan statt, wo das Folterschiff angedockt war. (Marcelo Montealegre)

POLITISCHE VELADAS

Der seit 1968 in New York lebende chilenische Fotograf Marcelo Montealegre schloss sich nach dem Putsch der Bewegung gegen die Pinochet-Diktatur an und dokumentierte entsprechende politische und künstlerische Aktivitäten in der Stadt.

Ende der 1970er Jahre lud er zusammen mit anderen chilenischen Künstler:innen wie dem Filmemacher Javier Barrios (der 1977 nach New York gekommen war) zu monatlichen Treffen in seinem Loft in Soho ein. Sie erhielten den Kurznamen Veladas (Abende). In diesen politischen Abendrunden tauschten sich Exilierte und Aktivist:innen über die aktuelle Situation in Chile aus und diskutierten darüber. Den Ort nannten sie Pablo Neruda Cultural Center.

Als andere Gruppierungen von den Aktivitäten erfuhren, schlossen sie sich an: Exilant:innen aus Nicaragua, El Salvador, Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern machten aus den Veladas in New York City schließlich ein politisches und künstlerisches Lateinamerika-Solidaritätszentrum.

Teilnehmer:innen einer Velada (Abendrunde), die Pedro Lastra gewidmet war, organisiert vom Pablo Neruda Cultural Center im Loft von Marcelo Montealegre und Silvia Doris Dillems Quezada im New Yorker Stadtteil SoHo 1979. (Marcelo Montealegre)

Recherche und Texte von Mariana Fernández

Unser Dank geht an Aimé Iglesias Lukin, die Autorin des Buches „This Must Be the Place: An Oral History of Latin American Artists in New York, 1965–1975“, das als Grundlage für diesen Artikel diente.


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