September 15, 2023

Autoarbeiter:innen im Streik gegen die Big Three

Luis Feliz Leon, Jane Slaughter

Punkt Mitternacht lief die Uhr ab – und prompt versammelten sich die Autoarbeiter:innen an den Streikposten.

Zum ersten Mal überhaupt werden seit dem 15. September die Big Three genannten Automobilhersteller gleichzeitig bestreikt: General Motors (GM), Ford und Stellantis. 13.000 Beschäftigte legten die Arbeit in drei Montagewerken in Michigan, Ohio und Missouri nieder. Insgesamt sind bei den Big Three 146.000 Mitglieder der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) beschäftigt. Die UAW nennt ihre Strategie „stand-up strike“, eine Anspielung auf den Sitzstreik in Flint von 1936 bis 1937, der ein Auslöser für die Gründung der Gewerkschaft war.  

Es war ein Schuss vor den Bug, und er kam zwei Stunden vor Mitternacht als kurzes Facebook-Live-Video. Darin teilte UAW-Präsident Shawn Fain mit, welche Werke zuerst bestreikt werden würden: die Stellantis-Fertigungshallen von Toledo in Ohio, das Wentzville-Werk von GM in der Nähe von St. Louis und die Endmontage- und Lackierabteilungen im Michigan Assembly Plant von Ford, westlich von Detroit. In diesen Werken werden populäre und hochprofitable SUVs und Lastwagen hergestellt, darunter der Jeep Wrangler, der Chevy Colorado und der Ford Bronco.

Fain erläuterte am Mittwoch die gewerkschaftliche Marschroute. Die Gewerkschaft nimmt  zunächst einige wenige Werke ins Visier, um die Big Three spüren zu lassen, dass sie ihnen  schmerzliche finanzielle Nadelstiche zufügen kann. Die Idee dahinter ist, die Unternehmen im Ungewissen zu lassen. Wenn sie sich nicht auf die Forderungen der Gewerkschaft einlassen, werden die Nadelstiche heftiger und der Schmerz größer werden – aber wo genau, das können die Unternehmen nicht vorhersagen. „Ein Generalstreik ist durchaus im Bereich des Möglichen“, sagte Fain.

WIE AUF NADELN SITZEN

Enttäuscht wurden Gewerkschaftsmitglieder, die auf einen Generalstreik gehofft hatten. Tatsächlich trugen deshalb einige im Fertigungswerk in Toledo schwarze Trauerkleidung. Doch mit dem näher rückenden Stichtag und als sich der Regionaldirektor Dave Green in der Stadt blicken ließ, besserte sich ihre Stimmung. Denn es wurde klar, dass ihr Betrieb als einer der ersten bestreikt werden würde.

Ein paar Stunden vor Ablauf der Frist schilderte der Abendschichtarbeiter Chris Falzone die Stimmung im Montagewerk Toledo. „Die Unternehmensleitung inspiziert gerade die Werkshalle, zusammen mit dem gesamten Management der ersten und zweiten Schicht, für den Fall, dass es zu einem Streik kommt“, sagte er. „Aus der Lackiererei höre ich, dass sie die gesamte Abteilung, in der Gladiator und Wrangler gefertigt werden, für den Fall eines Streiks leeren.“ Falzone war durch den Betrieb gelaufen und hatte Flugblätter verteilt mit Informationen darüber, was beim Auslaufen des Vertrages um Mitternacht passieren würde.

Unterdessen warteten die Arbeiter:innen, die die Tagesschichten erledigen, gespannt von zu Hause aus. Der Streikhelfer Auston Gore etwa, der seit 12 Jahren am Fließband tätig ist, sagte: „Wir sitzen wie auf Nadeln. Normalerweise würde ich jetzt ins Bett gehen. Aber ich bleibe noch lange auf.“

Die Beschäftigten im Toledo-Montagewerk hofften, als erste in den Streik treten zu können und damit der Terrorkampagne zuvorzukommen, die die Geschäftsführung gegen im Betrieb verbliebene Arbeiter:innen in die Wege geleitet hätte.

„Das Unternehmen behauptet, sich um seine Beschäftigten zu kümmern, und gibt vor, wir seien eine einzige große Familie“, sagte Gore. „Gleichzeitig schickt es seine Abteilungsleiter vor, die uns wegen der kleinsten Kleinigkeiten drangsalieren, wenn wir unter einem abgelaufenen Vertrag arbeiten. Es ist, als wären wir ihnen schutzlos ausgeliefert.“

DRUCK MACHEN

Der 21-jährige Brandon Szcesniak berichtet Folgendes: Alle Beschäftigten im Michigan-Montagewerk verfolgten den Livestream von Fain um 22:00 Uhr mit. Sie jubelten, als sie den Namen ihres Werks hörten. Szcesniaks Schicht hätte bis 2:30 Uhr morgens gehen sollen. Aber die Geschäftsführung forderte alle zum Verlassen des Werks um 23 Uhr auf. Szcesniak arbeitet seit seinem High-School-Abschluss im Werk. Er verdient 19,10 Dollar pro Stunde. Gerne würde er eine Familie gründen. Aber es würde acht Jahre dauern, bis er die oberen Sprossen der Lohnleiter erreicht hat. Dann wäre er fast 30 Jahre alt. Ein Streik sei notwendig, meint er. „Die Menschen sind wütend“, sagt Szcesniak. „Es ist wie eine Drehtür, vorne rein, hinten raus. Es ist kein Beruf mehr mit einer Aufstiegschance, es ist ein bloßer Job. Sie wollen, dass wir Fords kaufen. Aber wie können wir bei diesem Lohn einen Ford kaufen?“

Diejenigen, die noch nicht streiken und unter einem ausgelaufenen Vertrag arbeiten, sind von der Gewerkschaft über ihre Rechte informiert worden. Die Unternehmen sind diesbezüglich in fast allen Fällen verpflichtet, den Status quo beizubehalten; der Rechtsschutz bleibt  beispielsweise unangetastet, mit einer Ausnahme: Ohne eine Streikverbotsklausel können die Beschäftigten jederzeit streiken, und die Unternehmen können sie auch aussperren. Viele Beschäftigte waren sich unsicher, wie weit sie die Rechtslage ausschöpfen können. In der Halle der Betriebsgewerkschaft Local 2250, die sich neben GM Wentzville befindet, standen die Mitglieder deshalb Schlange, um den Gewerkschaftsfunktionären entsprechende Fragen zu stellen. Daraufhin schlossen diese die Halle für die Presse. „Wir hatten alle vor, heute Abend zur Arbeit zu gehen“, sagte Lincoln Fegley, ein Streikposten in der Nachtschicht in Wentzville, „aber wir hatten uns mental und physisch darauf eingestellt, auch wieder abzuziehen.“

Unabhängig davon, ob sie in den sofortigen Streik traten oder nicht, bauten die Vertretungen einiger großer Werke Druck auf das Management auf. Bei GM Spring Hill in Tennessee sagte der seit vielen Jahren dort beschäftigte Arbeiter Kenneth Larew, der Betriebsratsvorsitzende wolle „nicht, dass irgendjemand nach dem Stichtag Überstunden macht“, und fügte hinzu, es sei „mindestens 15 Jahre her, dass die Gewerkschaft einen Überstundenstopp verhängt“ habe. Für viele Werke der Big Three wären weitere Maßnahmen dieser Art ein schwerer Schlag.  Denn sie sind aufgrund der hohen Fluktuationsrate und der sinkenden Reallöhne auf sehr viele Überstunden angewiesen.

KÄMPFERISCHE FORDERUNGEN

Die UAW war jahrzehntelang eine Mitmach-Gewerkschaft mit den entsprechenden Negativauswirkungen auf die Lohnentwicklung und die Arbeitsbedingungen. Doch die frisch  gewählte UAW-Führung stellt kämpferische Forderungen.

Streikende United Auto Workers streiken am Freitag, 15. September 2023, kurz nach Mitternacht vor dem Ford-Montagewerk in Wayne, Michigan.(AP Photo/Paul Sancya)

Die Gewerkschaft fordert eine 40-prozentige Lohnerhöhung und die Abschaffung der Tarifstaffelung. Denn in der Produktion tätige Arbeiter:innen, die nach 2007 eingestellt wurden, werden dauerhaft niedriger eingestuft und haben keine Renten- und Gesundheitsansprüche im Alter. Außerdem gibt es mehrere untere Lohngruppen, etwa die Beschäftigten in den Ersatzteil-Vertriebs-Centern und viele der Beschäftigten, die Komponenten für Elektrofahrzeuge herstellen. Die Beschäftigten fordern außerdem eine kürzere Wochenarbeitszeit, die Wiedereinführung eines an die Inflation gekoppelten Teuerungsausgleichs und die Umwandlung einer noch niedrigeren Stufe von sogenannten Zeitarbeitskräften – die jahrelang in dieser Kategorie stecken – in Festangestellte nach 90 Tagen. Und da der Übergang von Benzin- zu Elektrofahrzeugen in der Autoindustrie seismische Veränderungen mit sich bringt, fordern die Beschäftigten Arbeitsplatzsicherheit: das Recht, bei Werksschließungen zu streiken, und ein sogenanntes Family Protection Program, bei dem entlassene Beschäftigte für gemeinnützige Arbeit bezahlt werden.

Als Reaktion auf den Druck der Gewerkschaft haben alle drei Unternehmen angeboten, die Zeit, die Vollzeitbeschäftigte mit längerer Betriebszugehörigkeit benötigen, um auf die höchste Lohnstufe zu kommen, von acht auf vier Jahre zu halbieren. Damit sind sie immer noch weit von dem Vorschlag der Gewerkschaft entfernt, der eine 90-tägige Aufstiegszeit bis zum Höchstlohn vorsieht. Ford hat vorgeschlagen, alle derzeitigen Zeitarbeiter:innen nach 90 Tagen in eine Vollzeitbeschäftigung umzuwandeln – künftige Zeitarbeiter:innen jedoch nicht. GM und Stellantis haben vorgeschlagen, den Mindestlohn für Zeitarbeitskräfte von derzeit 16,67 Dollar beziehungsweise 15,68 Dollar auf 20 Dollar pro Stunde anzuheben. Aber Stellantis hat keinen Weg zur Vollzeitbeschäftigung für Zeitarbeitskräfte vorgeschlagen; bei GM sollen sie derzeit nach zwei Jahren umgewandelt werden. Aber das hat oft nichts mit der Wirtklichkeit zu tun. Die Unternehmen haben zudem Erhöhungen zwischen 17,5 und 20 Prozent über vier Jahre vorgeschlagen. Aber bei den Vorschlägen der Gewerkschaft zur Arbeitsplatzsicherheit haben sie sich nicht bewegt.

„Insgesamt sehen wir Bewegung bei den Unternehmen“, sagte Fain. „Aber sie sind immer noch nicht bereit, Erhöhungen zuzustimmen, die die Inflation zusätzlich zu den seit Jahrzehnten sinkenden Löhnen ausgleichen würden. Und ihre Vorschläge spiegeln nicht die enormen Gewinne wider, die wir für diese Unternehmen erwirtschaftet haben.“

ESKALATIONSSTRATEGIE

Die Eskalationsstrategie der Gewerkschaft in dieser Verhandlungsrunde ist eine Abkehr von 2019, als 46.000 Beschäftigte GM 40 Tage lang bestreikten. Die Gewinneinbußen des Unternehmens betrugen 3,6 Milliarden Dollar. Trotzdem hatten die Beschäftigten das Gefühl, nicht allzuviel gewonnen zu haben. Die Gewerkschaftsführer:innen waren damals eingeknickt. .

Dieses Mal sieht es in der Gewerkschaftsführung ganz anders aus, sie hat sich höhere Ziele gesetzt. Fain und weitere Reformer:innen gewannen ihr Amt mit dem Versprechen von mehr Transparenz und Kampfbereitschaft. Es war die erste Direktwahl der Gewerkschaft für Spitzenämter überhaupt. Fain kandidierte auf der Liste „Members United“, die von der Reformbewegung „Unite All Workers for Democracy“ unterstützt wird. Sein Amt trat er im März an.

Seit Beginn der Verhandlungen im Juli hat die neu gewählte Reformführung der UAW die Autohersteller mit einem aggressiven und transparenten Verhandlungsansatz aus dem Gleichgewicht gebracht. Symbolisch dafür stand Fains Weigerung zum Auftakt der Verhandlungen, die traditionelle Handschlagszeremonie mit den Unternehmenschefs durchzuführen. Stattdessen begrüßte er die Gewerkschaftsmitglieder draußen vor den Werkstoren.  

„Ich sage euch, dass ich mit der Entscheidung zu streiken, wenn es sein muss, kein Problem habe, weil ich weiß, dass wir in diesem Kampf auf der richtigen Seite stehen“, sagte Fain am Mittwoch vor mehr als 30.000 Zuschauer:innen auf Facebook Live. „Es ist ein Kampf der Arbeiterklasse gegen die Reichen, der Besitzenden gegen die Habenichtse, der Milliardärsklasse gegen alle anderen.“ In seiner Rede fanden sich Anspielungen aus der Sportwelt, vermischt mit Versen aus der Bibel und Lehren aus der Tradition der klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung. „In den letzten 40 Jahren hat sich die Klasse der Milliardäre alles genommen und alle anderen um die Reste kämpfen lassen“, sagte Fain. „Wir sind nicht das Problem. Die Gier der Konzerne ist das Problem.“

Die Gewerkschaft hielt am Freitagnachmittag in Detroit eine Kundgebung mit Senator Bernie Sanders ab. „Die UAW-Mitglieder kämpfen nicht nur für sich selbst, sondern auch gegen eine Unternehmenskultur der Arroganz, Grausamkeit und des Egoismus, die der Mehrheit der arbeitenden Familien im ganzen Land massiven und unnötigen Schmerz zufügt“, schrieb Sanders in einem Kommentar im Guardian.

Die Streikenden erhalten 500 Dollar Streikgeld pro Woche – im letzten Jahr waren es 275 Dollar – aus dem Streikfonds der Gewerkschaft in Höhe von 825 Millionen Dollar. Die Gewerkschaft hat außerdem erklärt, dass sie für die Krankenversicherungsprämien der Streikenden aufkommen wird.

Teamster-Fahrzeugspediteure, die Fahrzeuge für die Big Three ausliefern, haben versprochen, während des Streiks keine Autohäuser zu beliefern. „Wir unterstützen die UAW-Beschäftigten und die Positionen von Shawn Fain zu 100 Prozent“, sagte Kevin Moore, Präsident der Teamsters Local 299 in Detroit, gegenüber der Detroit Free Press. „Unsere Teamster werden nicht zu Streikbrechern.“


Dieser Artikel wurde übersetzt und aktualisiert. Das Original stammt aus Labor Notes.

Über die Autor:innen:

Luis Feliz Leon ist Redakteur und Organisator bei Labor Notes. luis@labornotes.org

Jane Slaughter ist ehemalige Redakteurin von Labor Notes und Mitautorin von “Secrets of a Successful Organizer”.



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