Seit Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erhält die Regierung in Kiew umfassende militärische und wirtschaftliche Unterstützung aus den USA. Die Biden-Regierung hat zudem sehr viel getan, um Moskaus Fähigkeit zur Kriegsführung zu begrenzen. Gleichzeitig ist sie darum bemüht, einer direkten Konfrontation mit Russland aus dem Weg zu gehen, um eine weitere Eskalation von dessen Seite zu vermeiden.
Russlands Angriff auf die Ukraine ist keine Vergeltungsmaßnahme für die NATO-Ost-Erweiterung, selbst wenn Moskau die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken in das westliche Bündnis vermutlich als eine Provokation wahrgenommen hat. Der Einmarsch war vielmehr das Ergebnis eines wachsenden Ultranationalismus des russischen Präsidenten Wladimir Putin, seiner territorialen Bestrebungen, eine „Russische Welt“ zu errichten, und seiner Furcht vor dem wachsenden Einfluss demokratischer Bewegungen an der Peripherie Russlands sowie innerhalb des eigenen Landes.
Obwohl US-amerikanische Rüstungs- und Energiekonzerne vom Ukraine-Krieg enorm profitiert haben, bestimmen sie nicht die Sicherheits- und Geopolitik der USA. Der Hauptfokus der Regierung Biden und des militärisch-industriellen Komplexes liegt derzeit auf der Eindämmung Chinas. Die Vorstellung, die USA führten in der Ukraine einen „Stellvertreterkrieg“ und benutzten die Ukraine nur, um Russland zu schaden, entspricht nicht den Tatsachen: Es ist die Ukraine, die diesen Krieg führt und dafür extreme Anstrengungen unternimmt. Russland hat sich militärisch als wesentlich schwächer erwiesen als vor Kurzem noch angenommen. Und das risikoscheue Pentagon würde den Krieg lieber heute als morgen beendet sehen.
Die Politik von Präsident Biden gegenüber der Ukraine ist in den USA nicht unumstritten – weder in der Regierung noch im Kongress oder in der Bevölkerung. Bislang haben diese Meinungsverschiedenheiten jedoch keine größeren Auswirkungen auf die Politik der Regierung gehabt. Sollte der Krieg jedoch noch bis zum Wahljahr 2024 andauern, werden sich Biden und seine Regierung verstärkt mit Forderungen der Republikaner und deren Wählerschaft konfrontiert sehen, die Unterstützungsleistungen für Kiew einzuschränken.
Es gibt zwei grundlegende Szenarien, wie sich der Ukraine-Krieg entwickeln könnte: Entweder kommt es zu einem „Kroatien-Szenario“, was bedeuten würde, dass es der Ukraine gelingt, die russischen Truppen vollständig aus dem Land zu vertreiben. Das könnte das politische Ende von Wladimir Putin einleiten. Oder es kommt zum „koreanischen Szenario“, bei dem der Krieg nach einem ersten Jahr mit Rückschlägen für die russische Armee in eine Art Pattsituation übergeht. Noch setzt die Regierung Biden auf das erste Szenario. Eine Pattsituation würde jedoch unweigerlich den Ruf nach einer diplomatischen Lösung lauter werden lassen. Dabei würden sich die Konfliktparteien wie auch die USA und vermutlich China an den Verhandlungstisch setzen. Es wäre das Ergebnis der Vermittlungsbemühungen einer neutraleren Partei wie etwa der Türkei. Die nächsten Monate werden entscheidend sein, da die ukrainische Regierung gerade versucht, mit einer zweiten militärischen Gegenoffensive das „Kroatien-Szenario“ herbeizuführen. Noch hat das Land die Chance, mit Unterstützung der USA und Europas einen gerechten Frieden zu erreichen, in dem das Völkerrecht geachtet und der Aggressor für seine verbrecherischen Handlungen bestraft wird.