Oktober 18, 2023

Unilaterale Sanktionen im internationalen Recht

Hannah Kiel

Die rechtliche Bewertung von Sanktionen ist ein komplexes Unterfangen. Sie verbindet viele unterschiedliche Rechtsbereiche des generellen Völkerrechts mit Fragen spezielleren Rechts, wie Menschenrechte oder Handelsrecht, welche nur für bestimmte Bereiche gelten. Darüber hinaus berührt die Frage, ob bzw. wann Sanktionen rechtmäßig sind, die Grundfeste internationalen Rechts: Im Gegensatz zu nationalem Recht verfügt internationales Recht nicht über zentrale Durchsetzungsmechanismen, sodass Sanktionen zu den wenigen Mitteln gehören, um Rechtsdurchsetzung zu erzwingen. Infolgedessen können Sanktionen einem legitimen Rechtsanspruch dienen, ihre Wirksamkeit ist jedoch untrennbar mit der Macht eines Staates verbunden. Hieraus erklärt sich, dass einige Staaten in Sanktionen einen Hebel zur Rechtsdurchsetzung sehen, andere hingegen Machtmissbrauch und Einmischung befürchten. Dementsprechend werden von Staaten und in der Literatur sehr widersprüchliche Positionen zur Bewertung von Sanktionen eingenommen.

Besonders intensiv wird die Legalität von Sanktionen in den letzten 30 Jahren diskutiert. Seit den 1990er Jahren stieg die Verhängung von Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat – der zuvor unter den Bedingungen des Kalten Krieges nur selten handlungsfähig war – exponentiell an.[1] Gleichzeitig nutzten auch einzelne Staaten und Staatenzusammenschlüsse Sanktionen erheblich häufiger als zuvor, wobei sich insbesondere die USA und die EU dieses Mittels bedienten.[2] Diese Sanktionsregime, die oft in einem umfassenden Abbruch wirtschaftlicher und finanzieller Beziehungen bestanden, erwiesen sich als wenig effektiv. Überdies führten umfassende Sanktionen regelmäßig zu verheerenden humanitären Katastrophen. Besonders eindrücklich offenbarte sich dies im Kontext der Sanktionen, die 1990 bis 2003 mit UN-Mandat gegen den Irak verhängt wurden.[3] Ineffektivität und humanitäre Krisen führten sodann zu der Erkenntnis, umfassende Sanktionen müssten durch gezielte oder smarte Sanktionen ersetzt werden – also solche Sanktionen, die allein auf Schlüsselindustrien oder auf ausgewählte Personen zielten.[4]

Im Zentrum aktueller Debatten stehen besonders die Sanktionen, die im Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine verhängt wurden. Da der Sicherheitsrat durch Russlands Vetomacht handlungsunfähig ist, wurde dieser Schritt durch die EU, eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten in Umsetzung der EU-Sanktionspakete sowie andere unilateral handelnde Staaten, insbesondere die USA, unternommen. Dieses aktuelle Beispiel – in Kontinuität jahrzehntelanger Sanktionspraxis durch Staaten – gibt immer wieder Anlass, nach der Völkerrechtsmäßigkeit von Sanktionen außerhalb eines Mandats des UN-Sicherheitsrats (im Folgenden unilaterale Sanktionen) zu fragen. Wie im nächsten Abschnitt noch genauer zu erörtern sein wird, versteht diese Arbeit unter unilateralen Sanktionen nicht ausschließlich Sanktionen, die von einem einzelnen Staat gegen einen anderen verhängt werden. Vielmehr sind unilaterale Sanktionen in Abgrenzung zu multilateralen Sanktionen mit Mandat des UN-Sicherheitsrats zu verstehen. Dies hat zur Folge, dass auch Sanktionen von Staatenzusammenschlüssen wie der EU als unilateral gelten, wenn ein solches Mandat fehlt.[5]

The Security Council adopted resolution 2216 (2015), imposing sanctions on individuals it said were undermining the stability of Yemen. The Council also demanded that all parties in the embattled country, in particular the Houthis, immediately and unconditionally end violence and refrain from further unilateral actions that threatened the political transition. The resolution was adopted by a vote of 14 in favour, with one abstention (Russia). The Security Council adopted resolution 2216 (2015), imposing sanctions on individuals it said were undermining the stability of Yemen, April 14, 2015 (UN photo by Devra Berkowitz).

In Fragen militärischer Interventionen kommt dem Sicherheitsrat eindeutig eine Monopolstellung zu – jedoch wird dies mit Blick auf nicht militärische Maßnahmen kontrovers diskutiert. Ist ein Staat von dem Rechtsbruch eines anderen Staates verletzt, ist dem Grunde nach unumstritten, dass dieser reziproke Sanktionen ergreifen darf. In einem solchen Fall wird von einem Selbsthilferecht des Staates gesprochen.[6] Oft präsentiert sich jedoch eine Situation, in der die Verhängung von Sanktionen durch den verletzten Staat selbst nicht möglich oder wenig aussichtsreich ist. Zudem gibt es Situationen, in denen kein Staat selbst verletzt ist, weil Opfer des Rechtsbruchs die Zivilbevölkerung ist. Die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen auch andere Staaten (Drittstaaten) mittels Sanktionen auf den Rechtsbruch reagieren können, stellt eine rechtliche Grauzone dar.[7] Wie in den folgenden Abschnitten noch genauer zu erörtern sein wird, geht die ganz überwiegende Literaturmeinung gleichwohl dahin, dass keine allgemeine Regel existiert, welche unilaterale Sanktionen per se verbietet.[8] Daher gilt, dass Staaten Sanktionen dem Grunde nach verhängen dürfen, soweit dem keine spezielle Regel des Völkerrechts entgegensteht.

Letzteres gilt auch in Anbetracht einer signifikanten Anzahl an Resolutionen der UN-Generalversammlung, die unilaterale Zwangsmaßnahmen verurteilt. Seit den 1990er Jahren wurden und werden unilaterale Zwangsmaßnahmen kontinuierlich von der Generalversammlung für ihre Völkerrechtswidrigkeit und ihre negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Wirtschaft der Entwicklungsländer kritisiert.[9] Hieran anknüpfend wurde vom seinerzeitigen UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy in seinem Bericht die Frage aufgeworfen, ob dies ein Signal für die Entstehung eines neuen völkergewohnheitsrechtlichen Verbotes sei.[10] Dies wird in der Rechtswissenschaft mit großer Mehrheit verneint,[11] jedoch muss der starken Ablehnung durch die UN-Generalversammlung ein signifikanter politischer Wert beigemessen werden. Im Gegensatz dazu kann ein rechtlicher Wert aus dieser Ablehnung nur dann erwachsen, wenn die Bedingungen für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht erfüllt wären: eine andauernde und allgemeine Staatenpraxis (Staaten müssten also tatsächlich von Sanktionen Abstand nehmen), welche auf staatlicher Rechtsüberzeugung beruht (Staaten müssten hierfür zum Ausdruck bringen, dass sie deshalb von Sanktionen Abstand nehmen, weil diese rechtswidrig seien).[12]

Da die Entstehung eines solchen allgemeinen Verbotes von Sanktionen verneint wird, muss deren Rechtmäßigkeit im konkreten Einzelfall in Zusammenschau mit einer Vielzahl völkerrechtlicher Regeln ermittelt werden.[13] Nur wenn eine Sanktion in ihrer konkreten Gestalt den Anforderungen der relevanten Normen entspricht, ist sie rechtmäßig. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Sanktionen sehr weit ist und seine unterschiedlichen Formen sehr verschiedenen Rechtsregeln unterliegen. Dies wird in Abschnitt 1 weiter erörtert werden. In Abschnitt 2 und 3 wird sodann in zwei Schritten dargelegt, welche Rechtsregeln für die verschiedenen Sanktionen relevant sind. Die Völkerrechtsmäßigkeit einer Sanktion kann nur bestimmt werden, wenn zuvor festgestellt wurde, welche Pflichten der handelnde Staat überhaupt hat und ob diese der konkreten Sanktion widersprechen. Es sind auch Sanktionen denkbar, welche unter keinem Gesichtspunkt eine völkerrechtliche Pflicht berühren, als Beispiel hierfür wird oft die Beendigung freiwilliger Hilfsprogramme genannt.[14]

Zunächst ist jeder Staat – unabhängig von jeglicher völkervertraglichen Bindung – an solche Regeln gebunden, die völkergewohnheitsrechtlich gelten. Für Sanktionen relevantes Völkergewohnheitsrecht sind insbesondere das Interventionsverbot sowie einige menschenrechtliche Verpflichtungen. Im Übrigen bemisst sich die Rechtmäßigkeit einer Sanktion an den bi- oder multilateralen Verträgen, zu denen sich ein Staat verpflichtet hat. Daher ist es gut möglich, dass die Sanktion, die von Staat A gegenüber Staat B verhängt wird, rechtswidrig ist, während die gleiche Sanktion zwischen Staat B und C rechtmäßig wäre.[15] Ein Staat, der wenigen internationalen Verträgen beigetreten ist, hat folglich mehr Spielraum zur Verhängung von Sanktionen als derjenige, welcher sich an viele Verpflichtungen gebunden hat. Im Folgenden wird für diese Frage – ob ein Staat eine völkerrechtliche Pflicht hat, eine Maßnahme zu unterlassen – der Begriff der Primärpflicht verwendet.

Steht nach einer Prüfung der Primärpflichten eines Staates fest, dass diese im Widerspruch zur Verhängung einer Sanktion stehen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Sanktion rechtswidrig ist. Vielmehr muss weiter gefragt werden, ob es für diesen etwaigen Verstoß eine völkerrechtliche Rechtfertigung gibt. Abschnitt 3 diskutiert daher die Frage von Rechtfertigungsgründen, zum Beispiel das Selbsthilferecht von Staaten, das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung und die Frage, ob Länderzusammenschlüssen wie der EU gegenüber einzelnen Staaten eine privilegierte Position zukommt.


[1]Alain Pellet und Alina Miron, «Sanctions», in Max Planck Encyclopedia of Public International Law (August 2013), Rn. 26.

[2]Tom Ruys, «Immunity, Inviolability and Countermeasures – A Closer Look at Non-UN Targeted Sanctions», in Tom Ruys und Nicolas Angelet (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Immunities and International Law (Cambridge University Press 2019), S. 670.

[3]Vgl. SC Res S/RES/661 (6. August 1990).

[4]Matthew Happold, «Targeted Sanctions and Human Rights», in Matthew Happold und Paul Eden (Hrsg.), Economic Sanctions and International Law. Law and Practice, S. 87, S. 88.

[5]Die Terminologie in der Literatur ist an diesem Punkt jedoch nicht einheitlich. Teilweise werden Sanktionen der EU als multilateral bezeichnet, vgl. zum Beispiel Alexsander Orakhelashvili, «The Impact of Unilateral EU Economic Sanctions on the UN Collective Security Framework: The Cases of Iran and Syria», in Ali Z. Marossi und Marisa R. Bassett (Hrsg.), Economic Sanctions under International Law (Springer 2015), S. 3.

[6]Solche Sanktionen werden rechtlich als Gegenmaßnahmen klassifiziert, vgl. weitergehend Abschnitt 1 und 2 dieser Arbeit.

[7]Iryna Bogdanova, Unilateral Sanctions in International Law and the Enforcement of Human Rights (Brill 2022), S. 309; Tom Ruys, «Sanctions, Retorsions and Countermeasures: Concepts and International Legal Framework», in Larissa van den Herik (Hrsg.), Research Handbook on UN Sanctions and International Law (Edward Elgar Publishing 2016), S. 27; Nema Milaninia, «Jus ad bellum economicum and jus in bello economico: The Limits of Economic Sanctions Under the Paradigm of International Humanitarian Law», in Marossi/Bassett, Fn. 5, S. 95, S. 96–97.

[8]Barry Carter, «Economic Sanctions», in Max Planck Encyclopedias of International Law (April 2011), Rn. 30; Alexandra Hofer, «The Developed/Developing Divide on Unilateral Coercive Measures: Legitimate Enforcement or Illegitimate Intervention?», Chinese Journal of International Law 16 (2017), S. 175, S. 212; Paul de Waart, «Economic Sanctions Infringing Human Rights: Is There a Limit?», in Marossi/Bassett, Fn. 5, S. 125, S. 137–138;Daniel Joyner,«International Legal Limits on the Ability of States to Lawfully Impose International Economic/Financial Sanctions»,in Marossi/Basset, Fn. 5, S. 83, S. 86; vgl. zur Gegenmeinung Rahmat Mohamad, «Unilateral Sanctions in International Law: A Quest for Legality», in Marossi/Basset, Fn. 5, S. 71; vgl. ausführlicher zu dieser Frage Abschnitt 2.1.1.1. dieser Arbeit.

[9]«Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States», GA Res 2131 (XX) (21. Dezember 1965); «Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation Among States», GA Res 26/25 (24. Oktober 1970); «Charter on the Economic Rights and Duties of States», GA Res 3281 (XXIX) (12. Dezember 1974); «Declaration on the Inadmissibility of Intervention and Interference in the Internal Affairs of States», GA Res 36/103 (9. Dezember 1981); «Economic Measures as a Means of Political and Economic Coercion against Developing Countries», GA Res 46/210 (20. Dezember 1991), sowie jährlich folgende Resolutionen mit demselben Titel; «Human Rights and Unilateral Coercive Measures», GA Res 51/103 (12. Dezember 1996), sowie jährlich folgende Resolutionen mit demselben Titel, hiervon zuletzt GA Res A/RES/76/161 (7. Januar 2022), GA Res 46/5 (23. März 2021), GA Res 43/15 (22. Juni 2020), GA Res 40/3 (21. März 2019).

[10]HRC, Report of the Special Rapporteur on the negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, Idriss Jazairy, A/HRC/30/45 (10. August 2015), Rn. 47.

[11]Vgl. hierzu noch im Einzelnen Abschnitt 2.1.1.1 dieser Arbeit.

[12]Tullio Treves, «Customary International Law», in Max Planck Encyclopedia of Public International Law (November 2006), Rn. 10.

[13]D. Joyner, Fn. 8, S. 86.

[14]Solche Maßnahmen werden Retorsionen genannt, vgl. zu diesem Begriff sogleich Abschnitt 1 sowie International Law Commission, «Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with Commentaries 2001», in Yearbook of the International Law Commission, 2001, Vol. II (Part Two) (ILC Commentary), S. 128 (Einleitung zu den Art. 49–54 der Artikel der Staatenverantwortlichkeit (ASRIWA)); Ruys, Fn. 7, S. 24.

[15]Vgl. Ruys, Fn. 7, S. 24–25.


[1]     Alain Pellet and Alina Miron, “Sanctions”, in Max Planck Encyclopedia of Public International Law (August 2013), marginal no. 26.

[2]     Tom Ruys, “Immunity, Inviolability and Countermeasures – A Closer Look at Non-UN Targeted Sanctions”, in Tom Ruys and Nicolas Angelet (eds.), The Cambridge Handbook of Immunities and International Law (Cambridge University Press, 2019), p. 670.

[3]     See SC Res S/RES/661 (6 August 1990).

[4]     Matthew Happold, “Targeted Sanctions and Human Rights”, in Matthew Happold and Paul Eden (eds.), Economic Sanctions and International Law (Bloomsbury, 2016), p. 88.

[5]     However, the terminology in the literature is not consistent at this point. In some cases, EU sanctions are referred to as multilateral, see e g. Alexander Orakhelashvili, “The Impact of Unilateral EU Economic Sanctions on the UN Collectiv


Verbunden