Dieser Beitrag ist Teil unserer Artikelreihe „Am Rande des Abgrunds: eine progressive Agenda für die Biden-Ära“.
Als Trump Präsident war, ging ein Gespenst um in den USA: Russland und sein Präsident Vladimir Putin spukten durch den politischen Diskurs. Die Einmischungskampagne Russlands in die Wahlen 2016 war zwar gut dokumentiert. Es gab gehackte und selektiv veröffentlichte E-Mails, Desinformation in sozialen Netzwerken und direkte Kontakten zwischen russischen Geheimdiensten und Mitgliedern des inneren Trump-Zirkels. Doch die Demokraten gaben sich der Angst vor dem Kreml hin, und liberale Medien wie MSNBC bemühten nicht nur Kalte-Kriegs-Rhetorik, sondern ließen auch Paranoiker und Verschwörungstheoretiker zu Wort kommen. Mit dem Demokraten Joe Biden seit dem 20. Januar im Weißen Haus ist es deshalb die Frage angebracht, ob eine neue Ära der Supermacht-Konfrontation zwischen den USA und Russland ausbricht.
Zu herzlichen Beziehungen wird es zwischen beiden sicherlich nicht allzu bald kommen. Die Biden-Regierung hat angesichts des Jahres 2016 sowie Russlands jüngster Cyberangriffe auf die US-Regierung allen Grund, Putin als potenzielle Bedrohung zu betrachten. Aber keines der beiden Länder kann sich derzeit einen neuen Kalten Krieg leisten. Ein solcher würde weltweit Chaos verbreiten und alles von den Energiepreisen in Deutschland über die politische Stabilität in der Ukraine bis hin zur Sicherheit der gesamten Bevölkerung in Syrien negativ beeinflussen – und gleichzeitig die Ressourcen vergeuden, die die USA und Russland dringend zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie benötigen, die beide Länder verheerend getroffen hat. Für Biden besteht die Herausforderung darin, dass er Russland gegenübertreten muss, ohne auf militärische Aufrüstung zu setzen, und dass er sich stattdessen auf neues Terrain begibt, das Putin selbst wohl bevorzugt: das globale Finanzsystem und das Internet.
Biden und Russland haben eine lange Geschichte. Als US-Senator reiste Biden in den 1970er und 1980er Jahren nach Moskau, um an Rüstungskontrollverhandlungen mit der Sowjetunion teilzunehmen. Als Vizepräsident in den 2010er Jahren war er häufig der Hauptakteur der Obama-Regierung in Osteuropa und im ehemaligen Sowjetblock. Nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 und nachdem Russland den Bürgerkrieg in der Ostukraine weiter angeheizte, versicherte Bidens den NATO-Verbündeten, dass ihnen Washington sicherheitspolitisch weiterhin zur Seite stehen würde. Biden führte eine Anti-Korruptionskampagne in der Ukraine ausgerechnet dann, als sein Sohn Hunter Biden infamerweise Gehaltsschecks von ukrainischen Oligarchen einsteckte. Sie waren Teil der dann fehlgeschlagenen Bemühungen, seinen Vater für sich zu gewinnen. Als Reaktion auf diese versuchte Einflussnahme stoppte Donald Trump im Juli 2019 die militärische Unterstützung für die Ukraine und setzte den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelensky unter Druck. Der sollte Schmutz gegen die Bidens liefern. Dies wiederum führte zu Trumps Amtsenthebungsverfahren sowie zu Dauerkopfschmerzen bei Bidens Wahlkampfteam im vergangenen Jahr. Denn Bidens innerer Zirkel glaubt(e) an eine groß angelegte russische Desinformationskampagne.
Biden selbst hat klargestellt, dass er als Präsident die Konfrontation mit Russland suchen wird. Er hat sich auch jahrelang auf den Rat des neuen Außenministers Tony Blinken verlassen, der davor generell als eine Art inoffizieller Sprecher des gesamten Washingtoner Sicherheitsestablishements angesehen wurde, des sogenannten „Blob“. In einem Beitrag für die New York Times aus dem Jahr 2017 schlug Blinken vor, die Beschränkungen für Waffenlieferungen an die Ukraine, einschließlich Panzerabwehrraketen, rückgängig zu machen. Das hatte selbst Barack Obama als Präsident trotz des starken Drucks des Blob abgelehnt. Die Trump-Administration folgte Blinkens Rat, allerdings nicht ohne Widerspruch von Trump selbst. Die Frage der Waffenlieferungen symbolisierte Trumps inkohärente Russland-Politik: Republikanische Senatoren und nationale Sicherheitsbeamte drängten nach wie vor auf militärische Konfrontation mit Moskau, obwohl der Präsident Putin routinemäßig lobte, die NATO in Frage stellte und die langjährige US-Politik in der Region untergrub.
Die Ernennung von Blinken und die Beförderung von Victoria Nuland, einer führenden Russland-Hardlinerin in der Obama-Regierung, lassen darauf schließen, dass Biden mit Trumps Unterwürfigkeit gegenüber dem Kreml brechen wird. Auch das Streben nach einem „Reset“ mit Russland, das die Obama-Regierung anfänglich versucht hatte, dann aber gescheitert war, wird Biden nicht wiederholen. Es gibt dennoch erste Anzeichen für eine eher nüchterne Haltung und die Bereitschaft der Biden-Regierung, zumindest in einigen Fragen mit Russland die Kooperation zu suchen. Jake Sullivan, der neue nationale Sicherheitsberater, sagte kürzlich, Biden plane die Erneuerung des Vertrags zur Verringerung strategischer Waffen (START), den Trump von Obama geerbt und dann fallengelassen hatte. Wer sich Sorgen über ein mögliches nukleares Wettrüsten macht, dürfte jetzt wieder beruhigt sein. Sullivan bekräftigte auch Bidens Engagement für die Wiederaufnahme der US-Beteiligung am Atomabkommen mit dem Iran, sofern der Iran bestimmte Bedingungen erfüllt. Da Russland ein wichtiger Unterzeichner des Abkommens und ein strategischer Partner des Iran ist, öffnet sich dadurch zumindest ein gewisser Spielraum für die amerikanisch-russische Diplomatie. Sie könnte in den nächsten Jahren durchaus Früchte tragen. Die diplomatische Zusammenarbeit wird in anderen Fragen von internationalem Interesse entscheidend sein, von der Eindämmung von Pandemien bis zur Bekämpfung des Klimawandels – was zwangsläufig die Zustimmung großer Öl- und Gasproduzenten wie Russland erfordert.
Es scheint auch unwahrscheinlich, dass die Ukraine unter Biden erneut zum Schlachtfeld wird. Trotz aller intensiven Debatten, die ihm vorausgingen, hatte das großzügige Militärhilfepaket, das die Trump-Regierung unterzeichnet hat, nur geringe Auswirkungen auf den Konflikt im Donbass. Er köchelte trotz regelmäßigem gegenseitigen Artillerie-Beschuss und sporadischer Verluste während der gesamten Amtszeit Trumps im Wesentlichen auf niedriger Flamme. Weder eskalierte Russland noch gab es angesichts der US-Waffenlieferungen nach. Während die Ukraine zweifellos den Sieg anstrebt, ist der größte Teil des Landes von Gewalt unberührt und steht vor dem viel dringlicheren Problem seines endlosen Kampfes gegen Korruption. Wenn überhaupt, hat das Drama um Hunter Biden wahrscheinlich sowohl Joe Biden als auch Zelensky eingeschärft, dass jeglicher Anschein von inkorrekten bilateralen Beziehungen zu vermeiden ist – was nahe legt, dass der Status quo in naher Zukunft wahrscheinlich bestehen bleibt.
Ebenso wird der Bürgerkrieg in Syrien auf Bidens Prioritätenliste nicht ganz oben stehen. Er kann zwar als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland angesehen werden, und Obama war dabei ganz anderer Meinung als viele seiner nationalen Sicherheitsberater. Aber Syriens Präsident, der von Russland unterstützte Autokrat Baschar al-Assad, hat sich nach allgemeinem Dafürhalten gegen die verschiedenen sunnitischen Rebellengruppen, die von den USA unter Obama verdeckt unterstützt wurden, endgültig durchgesetzt. Unter Trump starteten die USA einen Raketenangriff auf Assads Flugplätze, sich vor dem Druck des Blobs verneigend, dem Obama widerstanden hatte – und nichts änderte sich. Das von Assad in einem Kriegsjahrzehnt angerichtete Gemetzel war schrecklich. Doch der Konflikt wird zu seinen Bedingungen abgewickelt, und die USA haben kein Interesse daran, den Krieg um des geopolitischen Wettbewerbs mit Russland willens erneut zu eskalieren.
Aber während diese konventionellen Kriegsgebiete hoffentlich eingedämmt werden, könnte die Konkurrenz zwischen USA und Russland an anderen Orten zu ernsthaften Konflikten werden. Ein Bereich ist internationales Kapital. In dem Maße, in dem der US-Kapitalismus am Ende des Kalten Krieges über den sowjetischen Kommunismus triumphierte, ist das Russland, das von ihm übrig geblieben ist, vollständig kapitalistisch und in dieselbe Weltwirtschaft integriert wie die USA und Europa. Es ist ein führender Öl- und Gasproduzent, ein Abnehmer deutscher Autos und französischer Kosmetik sowie amerikanischer iPhones. Es ist Ausgangspunkt für illegale Kapitalflüsse auf Offshore-Bankkonten sowie Immobilien in Manhattan und London. Wenn Russland verwundbar ist, dann bei der Abhängigkeit der Oligarchen-Clique um Putin von der Bereitschaft der USA und ihrer Verbündeten, ihren immensen Reichtum zu waschen.
Ein vielversprechendes Zeichen an dieser Front ist der neue National Defense Authorization Act (NDAA), das Genehmigungsgesetz zur nationalen Verteidigung, das zu Jahresbeginn mit ausreichender Unterstützung durch beide Parteien zur Aufhebung von Trumps Veto verabschiedet wurde. Er enthält eine Bestimmung, die anonyme Briefkastenfirmen effektiv verbietet. Ein frühzeitiger Befürworter war Biden. Verlangt wird lediglich, dass Eigentümer von Briefkastenfirmen ihre Identität offenlegen. In der Praxis befähigt dies die Strafverfolgungsbehörden in hohem Maße zur Überwachung von Korruption, einschließlich möglicher russischer Versuche, US-Politik zu beeinflussen. Die Maßnahme wurde vermutlich vor 2016 von mächtigen Immobilienlobbys in Städten wie New York und Miami verhindert. Ein Silberstreif von Trumps Wahl ist, dass der Blob die internationale Geldwäsche jetzt nicht nur als unethisch oder kriminell, sondern auch als nationale Sicherheitsbedrohung ansieht.
Die Biden-Administration wird wahrscheinlich zusätzliche Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen ergreifen. Möglich ist die Anwendung des Global Magnitsky Act, der den USA die Befugnis einräumt, gezielte Sanktionen gegen korrupte Beamte im Ausland zu verhängen. Das ursprüngliche Magnitsky-Gesetz von 2012 wurde als Reaktion auf die Inhaftierung, Mißhandlung und Verweigerung medizinischer Versorgung in einem russischen Gefängnis gegenüber dem Namensgeber des Gesetzes, dem Anwalt Sergei Magnitsky, verabschiedet. Seine Aufhebung scheint eines der wichtigsten diplomatischen Ziele gewesen zu sein, die Putin mit der Förderung von Trumps Kampagne im Jahr 2016 erreichen wollte. Stattdessen verhängte der US-Kongress gegen Trumps Einwände neue Sanktionen gegen Russland. Aber die Umsetzung war minimal und willkürlich. Unter Biden könnte sich das ändern, und die russische Oligarchenklasse könnte sich neuerlich in die Enge getrieben fühlen.
Biden plant eine umfassende Überprüfung von Trump’s weltweiten Sanktionsmaßnahmen. Viele von Trumps Sanktionen gegen Länder wie China und Venezuela wurden unilateral verhängt, was im Allgemeinen unwirksam ist. Biden hat versprochen, das Außenministerium, das unter Trump erheblich an Bedeutung verloren hatte, wieder aufzuwerten und sich erneut der Diplomatie und den traditionellen Verbündeten Amerikas zu widmen. Eine solche Anstrengung könnte zu weitaus wirksameren multilateralen Sanktionen gegen die russische Elite führen. Die europäischen Verbündeten haben ihre eigenen Bedenken hinsichtlich der Korruption und der Menschenrechtsverletzungen in Russland, wie der jüngste Mordversuch durch Vergiftung gegen den Oppositionellen Alexei Nawalny.
Cyberkriegsführung wird sich wahrscheinlich auch unter Biden ausweiten. Sein Team denkt bereits über Angriffe auf russische Geheimdienste und Unternehmen nach, als Reaktion auf die jüngste Flut von Hacks gegen US-Regierungsbehörden. Ein Indikator ist Bidens kürzlich angekündigter Plan, eine Stelle für Cybersicherheit im Nationalen Sicherheitsrat einzurichten und damit dem Thema mehr Profil zu verleihen, ähnlich wie er dies in Bezug auf das Klima tut. Ein gewisses Maß an Vergeltungsmaßnahmen ist zu erwarten. Dabei bringt diese Strategie ein Eskalationsrisiko mit sich. Russland hat das Potenzial, den USA durch Cyberkrieg ernsthaften Schaden zuzufügen, und die Dynamik ist weniger asymmetrisch als im Finanzbereich, wo die USA große Vorteile haben. Letztendlich wäre Biden angeraten, multilaterale diplomatische Anstrengungen unter Einbeziehung Chinas und großer Staaten wie auch Russlands zu unternehmen, um die Cyberkriegsführung zu begrenzen und zu verhindern, dass sie weltweit außer Kontrolle gerät. Dabei handelt es sich natürlich immer um eine diplomatische Grauzone, in denen alle ihre Beteiligung plausibel leugnen können, unabhängig davon, was formell vereinbart wurde. Aber ein umfassender Cyberkrieg liegt im Interesse keines Landes. Ein Cyberkrieg kann zu einer großen nationalen Krise werden, etwa wenn Banken und kritische zivile Infrastruktur ins Visier gerät.
Unabhängig davon, welch harte Reaktion Russlands verdient haben mag, muss Biden Abwägungen treffen – zwischen der russischen Einmischung in den letzten Jahren, den Risiken eines außenpolitischen Rückschlags sowie übergeordneten Prioritäten. Er muss sich innenpolitisch der Beendigung der COVID-19-Pandemie und dem wirtschaftlichen Wiederaufbau zuwenden und sich um die Behebung der schweren Schäden kümmern, die Trump angerichtet hat, von Klima, Einwanderung, Regulierung und Arbeit bis hin zur Funktionsweise der Regierung. Ein „kalter Frieden“ mit Putin wäre angesichts dessen die sicherste und pragmatischste Politik.
Die Wahleinmischung 2016 selbst war zwar eine beispiellose Eskalation, hatte jedoch ihre Wurzeln im vorangegangenen Vierteljahrhundert. In vielen Fällen hatten die USA gegen die ausdrücklichen Wünsche des Kremls gehandelt – die Intervention im Kosovo, der Rückzug aus einem ABM-Vertrag, der Einmarsch in den Irak, die Osterweiterung der NATO, der Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen, die Förderung von „Farbenrevolutionen“ in Russlands Peripherie, die Regimewechselpolitik in Syrien sowie die direkte Kritik an Putins Innenpolitik, wie sie Hillary Clinton 2011 als Reaktion auf Wahlfälschungen geäußert hatte. Über jede dieser spezifischen Politiken kann man streiten. Nicht zur Debatte steht aber, dass Russland Fähigkeit bewiesen hat, dem politischen System der USA ernsthaften Schaden zuzufügen, wenn seine Führer das Gefühl haben, von unseren nicht respektiert zu werden. Biden wäre beraten, dies zu berücksichtigen, wenn er wirklich die Absicht hat, Putin zur Rechenschaft zu ziehen.
David Klion ist Redakteur bei Jewish Currents und Autor von The Nation, The New Republic und anderen Publikationen.