Februar 14, 2024

USA: Wiedergeburt der Gewerkschaftsbewegung?

Alex Press

Die organisierte Arbeiterschaft ist in Bewegung geraten. Wird sie die Klassenverhältnisse  verändern? 

Zu Beginn des Jahres 2022 kam es um den Vorsitz der United Auto Workers (UAW), der größten US-Gewerkschaft im verarbeitenden Sektor mit 400.000 aktiven und 600.000 pensionierten Mitgliedern, zur Stichwahl. Denn der Wahlgang davor war denkbar knapp ausgefallen – zwischen dem amtierenden Vorsitzenden Ray Curry und dem Reformer Shawn Fain, der früher Gewerkschaftsfunktionär in Kokomo im Bundesstaat Indiana war.

In der Geschichte der UAW handelte es sich um die erste Direktwahl ihrer Spitze.  Vorausgegangen war ihr ein schwerer Korruptionsskandal, in dessen Folge zwölf UAW-Funktionäre, darunter zwei ehemalige Vorsitzende, im Gefängnis landeten. Daraufhin empfahl ein für entsprechende Reformen zuständiger Prüfbeauftragter des Bundes der Gewerkschaft, über eine Änderung ihres Delegiertenwahlsystems abzustimmen. Damit hatte sich der Administration Caucus (Interessenvertretung der Angestellten in der Gewerkschaftsverwaltung, Anm. d. Ü.), der zudem der einzige Caucus in der 70-jährigen Gewerkschaftsgeschichte war, seit jeher seine Macht gesichert. Bei der Abstimmung 2021 hatten sich 63 Prozent für Direktwahlen ausgesprochen.

Fain kandidierte für die Vorsitzendenposten auf der Liste UAW Members United. Unterstützt wurde sie von Reform Unite All Workers for Democracy (UAWD), der allerersten UAW-Reformergruppe, der auch Fain angehört.

Vor ihrem Bedeutungsverlust spielte die Gewerkschaft im 20. Jahrhundert eine überragende Rolle. Die Erklärungen und politischen Manöver ihres bekanntesten Vorsitzenden Walter Reuther machten Schlagzeilen. Die Vertragsabschlüsse setzten über alle Branchen hinweg für die Arbeiterklasse Maßstäbe. Die Mitgliederzahl erreichte 1979 mit 1,5 Millionen ihren Höhepunkt. In den darauf folgenden Jahrzehnten kam es nicht nur zum Mitgliederschwund, sondern auch zu Tarifverträgen mit großen Zugeständnissen, ausgehandelt von Gewerkschaftsführern, die die Gewerkschaft allzu oft als ihr persönliches Sparschwein betrachteten, ihren Niedergang stillschweigend verwalteten und dabei die Kassen plünderten. Die Gründung der UAWD und der Vorstoß zu Direktwahlen waren der Versuch der Mitglieder, all dies zu ändern und sich ihre Gewerkschaft zurückzuholen.

Bei der Wahl 2022 kämpfte die Reformliste unter dem Motto „No Corruption. No Concessions. No Tiers“ (Keine Korruption, kein Nachgeben, keine Staffelverträge, Anm. d. Ü.) um sieben Vorstandssitze. Sechs davon gewann sie mit deutlichem Vorsprung. Anfang 2023 stand dann die Wiederholung der Wahl zwischen Fain und Präsident Curry an.

Eine Zitterpartie blieb das Rennen Anfang März des Jahres bis zum Schluss. Nach der Auszählung von über 140.000 Stimmen trennten die Kandidaten nur ein paar Hundert, weniger als die Zahl der angefochtenen Stimmzettel. Das Aussortieren dieser 1.608 Stimmzettel zog sich in die Länge. Zeitgleich bereitete sich die UAW auf ihre tarifpolitische Sondersitzung in Detroit vor. Darin sollten die Prioritäten für die bevorstehenden Tarifverhandlungen mit den drei großen Automobilherstellern – Ford, General Motors und Stellantis – festgelegt werden.

Kurz vor Beginn der Sitzung wurden die Ergebnisse bekannt gegeben: Fain hatte das Rennen mit einem Vorsprung von etwa fünfhundert Stimmen gewonnen. Am Sonntag, dem 26. März, wurde der 54-jährige Elektriker als Präsident der UAW vereidigt. Tags darauf leitete er die Sondersitzung. „Ich hatte sie ohne vorherige Planung, ohne Tagesordnung und ohne Personal zu leiten“, sagte Fain zu mir, „Sie haben es selbst gesehen: es herrscht Froststimmung, und das Haus ist uneins mit sich selbst.“

Gewerkschaftlicher Aufwärtstrend  

Aber das hielt nicht lange an. Nach der Konferenz stimmte die UAW ihre Mitglieder und Belegschaften in Werken der Big Three mit Kampagnen landesweit auf die Tarifverhandlungen ein. Damit sollte die Apathie, die die Heuchelei der früheren Gewerkschaftsführer bei den Mitgliedern erzeugt hatte, überwunden werden.

In der Zwischenzeit setzten sich auch in anderen Branchen der USA Beschäftigte in Bewegung.

Streiks gab es in der Unterhaltungsindustrie. 11.500 Film- und Fernsehautor:innen streikten im Mai und blieben schließlich 148 Tage lang im Ausstand. Dem Streik der  Drehbuchautor:innen  schlossen sich 160.000 Schauspieler:innen  und Darsteller:innen an, die 118 Tage lang streikten. Es gab einen Beinahe-Streik der 340.000 Teamster, die für den United Parcel Service (UPS) arbeiten, dem größten privaten Unternehmen des Landes. Streiks erfolgten in Produktionsbetrieben des Rostgürtels und bei Gesundheitskonzernen an der Westküste, an Universitäten und in Medien, sowohl bei Lokalzeitungen als auch bei digitalen Publikationen.

Insgesamt legten im Jahr 2023 in den USA mehr als 500.000 Beschäftigte die Arbeit nieder, mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor (224.000). Das waren laut dem Labor Action Tracker der Cornell University wiederum doppelt so viele wie 2021.  

Gewerkschaftliches Organizing erfolgte jetzt an den unwahrscheinlichsten Orten. Bei Amazon setzten die Beschäftigten trotz der hohen Arbeitskräftefluktuation und gegen den hartnäckigen gewerkschaftsfeindlichen Kurs des Managements das Organizing fort. Starbucks-Beschäftigte leiteten mit Unterstützung durch die Service Employees International Union (SEIU) Workers United eine hochdynamische Kampagne in die Wege, was schnell zu weitflächigem neuem Organizing im Einzelhandel und im Dienstleistungssektor führte. In den zwei Jahren seit Beginn der Kampagne gründeten Belegschaften in sage und schreibe 360 Starbucks-Filialen Gewerkschaften. All diese Bemühungen veranlassten Beschäftigte kleinerer Ketten und unabhängiger Restaurants und Cafés, sich ebenfalls zusammenzutun. In meinem eigenen Wohnviertel beschloss die Belegschaft einer Pizzeria einstimmig, eine Gewerkschaft zu gründen und sich den Workers United anzuschließen.  

„Die Gewerkschaftsbewegung ist im Moment unglaublich populär“, sagte mir der Erfinder der  TV-Shows „Adam Ruins Everything“ und „The G Word“ Adam Conover. Er sitzt im Verwaltungsrat der Mediengewerkschaft Writers Guild of America West (WGAW) und war an den Verhandlungen für einen Rahmenvertrag beteiligt. Conover gab dem Streik der Drehbuchautor:innen in den Medien ein Gesicht. Am ersten Tag trat er bei CNN auf und hielt dessen Besitzer David Zaslav vor, er kassiere 250 Millionen Dollar Gehalt, während Drehbuchautor:innen Zweit- und Drittjobs annehmen müssen, um über die Runden zu kommen.  Mithilfe von Videos in sozialen Medien klärte er die Öffentlichkeit, die damit kaum vertraut ist,  über die Themenlage und die Grundlagen der Gewerkschaftsarbeit auf. Als Conover während des Ausstands mit seiner eigenen Stand-up-Comedy durch das Land tourte, um sich über Wasser zu halten, stieß er auf großen Zuspruch, nicht nur bei seinem Publikum, sondern auch bei Außenstehenden. „Was wir machen, sehen die Menschen als erstrebenswert an, als Inspiration“, sagte er mir. „Es heißt jetzt nicht ‚Hey, gut gemacht‘, sondern ‚Oh mein Gott, das können wir vielleicht ja selber auch machen‘. Hoffentlich spricht sich das innerhalb der Gewerkschaften auch herum: bei ganz normalen Leuten gibt es das echte Bedürfnis nach dieser Art von Organizing und danach, sich auf diese Weise durchzusetzen.“

Weshalb aber kommt in einem der gewerkschaftsfeindlichen Länder des globalen Nordens diese überaus gewerkschaftsfreundliche Stimmung auf? Die US-Gewerkschaftsbewegung befindet sich seit Jahrzehnten im Niedergang, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ: weniger bereit, die Auseinandersetzung zu suchen, eher auf Kompromiss bedacht denn konfrontationsbereit. Im Jahr 2022 lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei lediglich 10,1 Prozent: 33,1 Prozent im öffentlichen Sektor und mickrigen sechs Prozent in der Privatwirtschaft. Vereinzelte Widerstände und Gegenwehr an der Basis gab es in der Geschichte des jahrzehntelangen Niedergangs der US-Gewerkschaften durchaus. Aber seit 2023 ist ein echter Wandel nicht mehr zu übersehen. Es rumort, und zwar nicht nur bei den bereits gewerkschaftlich organisierten Lohnarbeiter:innen. „Es ist schwer zu beweisen, aber mir scheint, dass die einzelnen Lichtpunkte, die stets existierten, sich langsam zu einem Gesamtbild vereinen“, sagte mir der Gewerkschaftshistoriker Gabriel Wiannt. „Einzelteile der Bewegung finden zueinander, was darauf hindeutet, dass die verschiedenen Ein-Punkt-Bewegungen der Linken und der Gewerkschaften genug Kraft generiert haben, um aus ihrer Isolation auszubrechen“.

Selbstorganisation erfolgt immer vor Ort und unter Menschen, die einander kennen. Aus dieser gemeinsamen sozialen Erfahrung erwachsen Handlungsmöglichkeiten und Solidarität. Daran führt kein Weg vorbei. Jedenfalls handelt es sich um einen Ausgangspunkt, gewissermaßen eine Hürde, die genommen werden muss. Weshalb aber setzen Lohnarbeitende ausgerechnet jetzt zum Hürdensprung an?

Die Auswirkungen der Pandemie

Die Art und Weise, wie sich die Pandemie in den Vereinigten Staaten ausbreitete, ist dabei der entscheidende Faktor. Covid griff erschreckend schnell am Arbeitsplatz um sich – in Fleischverarbeitungsbetrieben, Amazon-Warenlagern, Pflegeheimen, Restaurants und Cafés. Davon am Stärksten betroffen waren Niedriglohnempfänger:innen. Dabei war die Kluft, die sich zwischen den einfachen Lohnarbeiter:innen und dem Leitungspersonal mit seinem Homeoffice und seinen Wochenendhäusern nicht mehr zu übersehen.  

„Die Pandemie führte in jeder Hinsicht zur Entlegitimierung der Unternehmensführungen, egal, ob es sich um gute oder schlechte Manager handelte: Wer von ihnen Entscheidungsbefugnis hatte, kümmerte sich nicht mehr wie zuvor um die Gesundheit oder das Einkommen der Untergebenen“, erklärte mir der Gewerkschaftshistoriker Nelson Lichtenstein. Da der Risikounterschied so groß geworden war, war kaum mehr davon auszugehen, dass die Interessenlage der Chefetagen sich unbedingt mit dem Wohlergehen ihrer Belegschaften deckte. Oft gerieten ihre Interessen in direkten Konflikt zueinander. Deshalb waren die Arbeitnehmer:innen aufeinander angewiesen. Als sich der Arbeitsmarkt verschärfte, waren Viele zu weitaus mehr Überstunden gezwungen als je zuvor. Der Leistungsdruck in Starbucks-Cafés und Amazon-Lagern, in Trader-Joe’s-Supermärkten und bei Lebensmittelherstellern brachte sie aber auch umso näher zusammen. Laut Lichtenstein gibt es eine Parallele zwischen heute und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn Arbeiter:innen kollektiv Erfahrungen machen, die so extrem sind, dass sich ihre Weltsicht verändert. Ihre Erwartungshaltung war nach dem Krieg so groß, dass sie dafür zu kämpfen bereit waren. „Wir haben gerade eine schwere Störung des Wirtschaftslebens überstanden“, sagte mir Lichtenstein. „Eine Pandemie, damals der Zweite Weltkrieg. Macht- und Lohnverhältnisse werden neu ausgekämpft.“

Zudem senkte die Pandemie bei Arbeitgebern die Schwelle, auf Gewerkschaftsgründungsversuche mit gesetzeswidrigen Vergeltungsmaßnahmen zu reagieren. In dieser Weise zurückzuschlagen ist bei großen Unternehmen in den USA gängige Praxis, da die Geldstrafen für solche Gesetzesverstöße nur ein paar Cents betragen. „Die anhaltend niedrige Arbeitslosigkeit und die hohe Personalfluktuation führen dazu, dass sich die Menschen weniger Sorgen um Kündigungen machen“, sagte Winant. „Gewerkschafts-Organizer halten eine hohe Fluktuationsrate normalerweise für ein Problem, und das trifft ja auch zu. Aber eine hohe Fluktuation kann auch eine Quelle der Macht sein, weil sie den Leuten das Gefühl gibt: ‚Das ist mir scheißegal, ich bin in sechs Monaten sowieso nicht mehr hier‘. Das haben mir schon viele Beschäftigte gesagt.“ In anderen Worten drückte es Anfang des Jahres ein Gründungsmitglied der unabhängigen Gewerkschaft Trader Joe’s United aus: „Ich werde schon etwas anderes finden – diese Gewissheit nimmt einem die Angst. Wenn ich unterbezahlt bin, bekomme ich, wenn es sein muss, anderswo einen Job.“

Eine solche kollektive soziale Erfahrung, bei der viel auf dem Spiel steht, prägt sich ein und bleibt, auch wenn die Unsicherheit etwas nachgelassen und der Arbeitsmarkt sich entspannt hat (obwohl er mit einer Arbeitslosenquote von derzeit 3,7 Prozent immer noch angespannt ist). Winant sagte dazu: „Die Leute haben gemerkt, dass es dem Chef egal war, wenn jemand in der Belegschaft gestorben ist. Selbst wenn man nicht mehr an diesem einen Arbeitsplatz tätig ist,  bleibt einem diese Erfahrung.“

Von Occupy über Bernie bis zur Gegenwart

Nicht weniger wichtig sind die Entwicklungen vor der Pandemie: es gab eine Verbindungslinie von Occupy Wall Street im Jahr 2011 über die Präsidentschaftskampagnen von Bernie Sanders 2016 und 2020 bis hin zu den Massenaufständen gegen Polizeigewalt mit ihrem Höhepunkt im Sommer 2020. Oft wird behauptet, diese Bewegungen hätten wenig miteinander zu tun gehabt.  Aber viele Lohnabhängige nahmen an ihnen teil und wurden durch die Erfahrungen, die sie dabei machten, stark geprägt. Wenn man sich einmal gegen Ungerechtigkeit in einem Bereich ausgesprochen hat, dann gibt man diese Erfahrung nicht vor dem Betriebstor ab, wenn man zur Arbeit geht.

Als Sanders‘ Präsidentschaftskampagne 2020 scheiterte, nahmen viele seiner jungen Anhänger:innen seine Botschaft von der Macht der Gewerkschaften und der zentralen Bedeutung der Arbeiterklasse auf und versuchten, sie in die Praxis umzusetzen. Sie nahmen Jobs an Arbeitsplätzen an, die für das gewerkschaftliche Organizing als strategisch wichtig erachteten. Andere nahmen an Ausbildungsprogrammen für höherrangige Positionen, etwa beim Logistikdienstleister UPS, oder für gesellschaftlich wichtige Berufe wie dem Lehrerberuf oder der Krankenpflege teil. Wieder andere wurden Gewerkschaftsmitarbeiter:innen oder engagierten sich in den zahlreichen Reformausschüssen, die in den Gewerkschaften entstanden.

Allerdings dürfen die bisher erzielten Fortschritte bei der offensiven Gewerkschaftsarbeit nicht überbewertet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Zeitraum, mit dem Lichtenstein die Gegenwart vergleicht, hatten mehr als 1,5 Millionen Arbeiter:innen gleichzeitig gestreikt. Im Jahr 1946 hatten rund zehn Prozent der US-Belegschaften die Arbeit niedergelegt. Diese Streiks umfassten etwa 4,6 Millionen Beschäftigte. Selbst 1970, weit entfernt von der Blütezeit der amerikanischen Arbeiterschaft, streikten drei Millionen Arbeiter:innen.

Die Zahl der Eingaben an das National Labor Relations Board (NLRB), das die Gewerkschaftswahlen in den USA überwacht, ist im Haushaltsjahr 2023 um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen und hat damit die höchste Zahl von Petitionen seit 2016 erreicht. Die Zahl der Klagen wegen unlauterer Arbeitspraktiken (Unfair Labor Practice, ULP), die Arbeitnehmer:innen bei der NLRB einreichen, wenn sie glauben, dass ein Unternehmen ihre Rechte verletzt hat, ist im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls um zehn Prozent gestiegen. Das sind beträchtliche Zuwächse. Trotzdem lässt sich noch lange nicht von einer Wiedergeburt sprechen.  

Weitere Hürden tun sich auf. Betriebsverhandlungen – das heißt die Organisierung eines Betriebs nach dem anderen und nicht eines ganzen Sektors oder Unternehmens auf einmal – sind ein quälend langsamer und äußerst hürdenreicher Prozess. Denn das Arbeitsrecht in den USA ist in hohem Maße unternehmerfreundlich angelegt. Zwar haben wir derzeit die arbeitnehmerfreundlichste NLRB seit Generationen. Sie fordert die Wiedereinstellung von Beschäftigten, die wegen gewerkschaftlicher Organizing-Arbeit entlassen wurden. Und laut  ihrer jüngsten Cemex-Entscheidung hat ein Unternehmen nach einer ULP-Feststellung automatisch eine Gewerkschaft anzuerkennen. Aber ob sich die Beschäftigten diese Entscheidungen wirklich zunutze machen und unlauteren Unternehmerpraktiken zuvorkommen können, ist noch nicht ausgemacht. Dazu kommt, dass diese vorteilhaften Beschlüsse durchaus wieder abgeändert werden können, falls wir den arbeitnehmerfreundlichen NLRB  nach den Präsidentschaftswahlen 2024 verlieren sollten.  

Auf diesen Kontext zu verweisen, heißt nicht, die Bedeutung des gewerkschaftlichen Aufschwungs in Abrede zu stellen. Vielmehr soll damit ins rechte Licht gerückt werden, in welchem Ausmaß Lohnarbeitende in den USA noch desorganisiert sind, und dass bis zur  Konstituierung einer kämpferischen, organisierten Arbeiterklasse, die ihre demografische, wirtschaftliche und soziale gesellschaftliche Realität widerspiegelt, noch eine ganze Wegstrecke zurückzulegen ist.

Die UAW im Streik

Ab 14. September bestreikte die UAW die drei großen Automobilhersteller und ging damit zum ersten Mal überhaupt gleichzeitig gegen sie und ihre Geschäftsleitungen in Detroit vor. Fain kündigte den Streik auf Facebook Live an. Dort lieferte er im Verlauf der Arbeitsniederlegung regelmäßig Updates. „Ich weiß, dass wir in diesem Kampf auf der richtigen Seite stehen“, sagte Fain zum Auftakt. „Es ist ein Kampf der Arbeiterklasse gegen die Reichen, Besitzende gegen Habenichtse, die Milliardärsklasse gegen alle anderen“.

Statt alle 150.000 Mitglieder auf einmal aufzurufen, entwarf die UAW eine neue Strategie namens „stand-up strike“. Der Name ist eine Anspielung auf die Sitzstreiks von 1936 in Flint, Michigan, aus denen die Gewerkschaft hervorgegangen war. Es handelte sich um eine rollende Streikwelle, die zunächst ein jeweils großes Werk der Unternehmen erfasste und dann auch auf die profitablen Vertriebszentren für Ersatzteile überging.   

Es war eine geradezu militärische Herangehensweise. Denn wenn sich die Automobilhersteller am Verhandlungstisch erneut taub stellten, forderte Fain eine jeweils weitere Betriebsgewerkschaftsgruppe zum „stand up“ und zur Arbeitsniederlegung auf. Ich gehörte anfangs zu den Skeptiker:innen. Wir befürchteten, dass ein solches Vorgehen zur Isolation der zum Streik aufgerufenen Betriebsgruppen führen und die so wichtige Einheit unter den Mitgliedern untergraben würde. Aber wir wurden eines Besseren belehrt, weil das Vorgehen wirksam war. Es ermöglichte es der Gewerkschaft, die Schrauben bei den Geschäftsleitungen weiter anzudrehen und mit jeder weiteren Welle die Medien neu mit Inhalten zu füttern.

Nach mehr als sechs Wochen gab die Gewerkschaft die vorläufigen Vereinbarungen mit allen drei Automobilherstellern bekannt. Die Ergebnisse waren höchst beeindruckend: die Wiederherstellung der Teuerungszulage, die während der Großen Rezession als Reaktion auf die Insolvenz der Automobilhersteller gestrichen worden war, die unmittelbare Umwandlung einer Vielzahl von von Zeitarbeitsjobs in unbefristete Arbeitsverhältnisse und ein Minimum von 33 Prozent Lohnerhöhung für Stammbelegschaften.

Bei Stellantis (ehemals Chrysler) erkämpfte die UAW das Streikrecht bei beabsichtigten Werksschließungen und Investitionsvorhaben sowie die Wiedereröffnung eines stillgelegten Werks in Belvidere, Illinois. Letzteres hatte Vorrang für die Gewerkschaftsmitglieder. Denn als das Werk Anfang 2023 zumachte, waren sie über das ganze Land verstreut worden. Zudem konnte die UAW durchsetzen, dass die Elektrofahrzeugwerke der Big Three in die Verträge mit  aufgenommen werden, ein Ziel, das viele während der Verhandlungen für aussichtslos gehalten hatten.

Die Arbeiter:innen konnten nicht alle Zugeständnisse, die sie über Jahrzehnte gemacht hatten, wieder rückgängig machen. So beziehen manche Gewerkschaftsmitglieder weiterhin keine Rente, und und nicht alle Stammbelegschaftsangehörigen sind mit ihrer Gehaltserhöhung zufrieden. Aber alles in allem war es ein durchschlagender Erfolg. „Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns“, sagte Fain. „Das war ein großartiger Beginn, und ich bin sehr stolz auf die Arbeit, die wir geleistet haben. Aber es gibt noch viel zu tun.“

Aufschwung gewerkschaftlicher Reformbewegungen

Nur wenigen Beschäftigten in diesem Land ist es erwiesenermaßen gelungen, durch kollektives Handeln ein besseres Leben für sich und ihre Kolleg:innen zu erkämpfen. Das ist aber das grundlegende Prinzip einer Gewerkschaftsbewegung. Dieser Erfahrungsmangel war in den vergangenen Jahrzehnten ein großes Hindernis für jegliche Organisierungsbemühungen in den USA. Mit den Streiks von 2023 und der beeindruckenden öffentlichen Unterstützung, die sie erfuhren, beginnt sich das zu ändern.

„Angeblich sind die Menschen am demokratischen Prozess beteiligt. Aber es ändert sich wohl nichts, weil wir in einem kapitalistischen System leben und das große Geld unsere Politik bestimmt“, sagte mir die Präsidentin der Association of Flight Attendants – Communications Workers of America (AFA-CWA) Sara Nelson, als sie auf 2022 zurückblickte. „Jetzt sehen die Menschen Gewerkschaften und merken, dass sich innerhalb kürzester Zeit, an einem Tag, in einer Woche, nach sechs Wochen, etwas ändern kann. Früher wartete man Jahr für Jahr ab und war frustriert, dass sich nichts änderte.“

„Den Menschen wurde langsam bewusst, dass sie sich bloß noch abrackerten, und dass es daraus einen Ausweg geben musste“, sagte Antonio Rosario zu mir. Er hatte zwei Jahrzehnte lang bei UPS gearbeitet und ist jetzt hauptamtlicher Organizer für die Teamsters Local 804, die Gewerkschaft der UPS-Beschäftigten in New York City. Auch Rosario beteiligte sich an den Vorbereitungen für den Streik, der zu einem der größten in der Geschichte der USA geworden wäre, indem er sonst voneinander getrennte Belegschaften in dem Unternehmen zusammenbrachte und für deren Streikbereitschaft sorgte. Fürs erste ist dieser Kampf jetzt vorbei. Aber es gibt noch viel zu tun. Rosario führte weiter aus: „Jetzt, wo wir alle – in der UAW, bei den Teamsters und bei anderen – diese großartigen Tarifverträge haben, müssen wir uns mit den Lohnarbeiter:innen zusammentun und die Tarifvereinbarungen durchsetzen. Denn wir wissen ganz genau, dass das Unternehmen die Tarifverträge brechen wird, sobald nur die Tinte auf ihnen getrocknet ist. Das haben diese Leute schon immer gemacht. Deshalb müssen wir unsere Arbeiter:innen darin schulen, wie man Verträge umsetzt. Und dabei werden sie selbst zu Organizern. Alle Teamster, alle UAW-Mitglieder müssen Organizer werden. Jeder und jede muss das Organizing lernen, denn das ist das A und O unserer Gewerkschaften.“

Rosario ist Mitglied bei den Teamsters for a Democratic Union (TDU). Die Vereinigung war diente reformorientierten Kräften innerhalb der Gewerkschaften als Ansporn, diese notwendige Aufbauarbeit zu leisten, gerade zu Beginn des Jahres 2023. Die TDU ist vor Jahrzehnten von Teamster-Basisaktivist:innen gegründet worden und einer der ältesten Zusammenschlüsse dieser Art in den USA. Seitdem hat sie den Weg für andere gewerkschaftsinterne Reformen geebnet. Die TDU arbeitet im Bündnis mit dem kürzlich gewählten Vorsitzenden der International Brotherhood of Teamsters (IBT), Sean O’Brien. Deshalb ist sie für Reformer:innen aus anderen Gewerkschaften interessant geworden, die von der jahrzehntelangen Erfahrung der TDU lernen wollen.

Das Anwachsen der Reformbewegungen wurde auf dem TDU-Kongress im Herbst 2023 deutlich. „Als [Fain] sagte ‚Ohne TDU gäbe es keinen Shawn Fain, ohne TDU gäbe es keine UAWD, ohne TDU gäbe es keinen Stand-up-Streik,‘ war ich völlig baff“, sagte mir Rosario.

Reforminitiativen machen inzwischen auch in den behäbigen und biederen Gewerkschaften, die sich gegen eine Demokratisierung nach dem Vorbild der UAW sperren, auf sich aufmerksam. Jenny Brown von Labor Notes führte in ihrem Jahresrückblick aus, dass Reformer:innen in der 1,2 Millionen Mitglieder zählenden United Food and Commercial Workers (UFCW) gut vertreten sind. Eine Neugründung namens CREW machte Anfang 2023 in der 170.000 Mitglieder zählenden International Alliance of Theatrical Stage Employees (IATSE) auf sich aufmerksam. Und reformorientierte Industriemechaniker:innen bei der Eisenbahn in der 7.500 Mitglieder zählenden District Lodge 19, die Beschäftigte in den gesamten USA vertritt, haben gute Wahlaussichten.  

Diese Bemühungen spiegeln die Entschlossenheit der Arbeitnehmer:innen wider, sich in Gewerkschaften zu organisieren und diese zu demokratisieren. Dabei hoffen sie, diese oft in Lethargie verfallenen Institutionen in kämpferische zu verwandeln. Mit neuer Energie versehen wären sie in der Lage, nicht nur ehedem gemachte Zugeständnisse wieder zurückzuholen,  sondern auch in der politischen Arena offensiv aufzutreten und dort auf Veränderungen zu drängen, die den Gewerkschaftsmitgliedern und schließlich der gesamten Arbeiterklasse zugute kommen.

Die Mobilisierung der Basis sei für diese Ziele entscheidend, teilte mir Adam Conover von der WGA bei einem kürzlichen Besuch in New York mit. „Bei uns verläuft dieser Prozess wirklich demokratisch“, sagte er über die WGA, „Demokratie hilft uns dabei, unsere Bedingungen zum Besseren zu verändern. Wir haben diese Demokratie in Macht verwandelt und konnten die Unternehmen dazu zwingen, das zu tun, was wir wollten.“ Über die Sogkraft der demokratischen Gewerkschaftsbewegung sagte er: „Erst Novize sein, dann neue Mitglieder werben“.  

Die nächsten Schritte

Wenn das zurückliegende Jahr für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung ein Meilenstein war, was wird dann 2024 bringen?

Auf kurze Sicht bereiten sich die Beschäftigten in Branchen, in denen Unruhe ausgebrochen ist, auf wichtige Tarifverhandlungen vor. Bei den Fluggesellschaften United, American und Alaska Airlines sind Streikvorbereitungen im Gange. Flugbegleiter:innen wollen quer durch die Branche Lohnerhöhungen, wie sie die UAW durchgesetzt hat, sowie eine Lösung für die durch die Flugplanungsprobleme der Fluggesellschaften verursachten Belastungen. Und es gibt die Kampagne zur Organisierung der Delta-Beschäftigten, eine Partnerschaft zwischen der AFA-CWA, den Teamsters und der International Association of Machinists and Aerospace Workers (IAM).

„Wir konzentrieren uns auch auf die Flugplanung, um sicherzustellen, dass wir für geleistete Arbeit auch bezahlt werden“, sagte mir die AFA-CWA-Vorsitzende Sara Nelson. „Flugbegleiter und Passagiere sitzen immer wieder irgendwo fest, weil die Fluggesellschaften seit zwanzig Jahren nicht mehr in die Infrastruktur investieren. Sie sind zurückgefallen.“ Der Gewerkschaftshistoriker Lichtenstein ergänzte: „Delta war jahrzehntelang nicht gewerkschaftlich organisiert, die Piloten schon, aber nicht die Flugbegleiter und das Bodenpersonal“. Und weiter:  „Was die Löhne angeht, orientiert sich Delta an den anderen Fluggesellschaften. Aber jetzt unternimmt die AFA-CWA einen kräftigen Organizing-Vorstoß. Wenn sie dabei erfolgreich ist, wäre das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich wirklich etwas verändert hat“.

Auch in der Unterhaltungsindustrie stehen Tarifverhandlungen an. Denn die Verträge, die die IATSE wie auch die Teamsters‘ Motion Picture Division mit den Studios abgeschlossen haben, laufen im Juli 2024 aus. Ihre Mitglieder hatten sich an den Streik der WGAW gehalten und damit zur Lahmlegung der Branche beigetragen. Jetzt erwarten sie im umgekehrten Fall, dass sich Drehbuchautor:innen und Schauspieler:innen solidarisch zeigen, falls ein Streil notwendig wird. Adam Conover von der WGAW sagte mir: „Ich hoffe, dass sich die Studios zu besseren Vergütungen bereit erklären, wenn sie merken, dass die IATSE und die Teamsters kampfbereit in die Verhandlungen gehen. Aber sicher bin ich mir dabei nicht.“ Conover weiter: „Eines der Probleme der IATSE besteht darin, dass die Schichtpläne der Beschäftigten aufgrund der Kostensparmassnahmen so eng getaktet sind, dass den Leuten nicht genug Zeit zum Schlafen bleibt. Sie gegen nach Hause und haben sprichwörtlich nur drei Stunden Schlaf, und das seit Wochen. Kapiert jemand in den Unternehmen, was das heißt? Will das überhaupt jemand kapieren? Genau das werden wir demnächst herausfinden.“

Seit ihrem erfolgreichen Streik nimmt die UAW die Automobilwerke in den Blick, deren Belegschaften nicht gewerkschaftlich organisiert sind, das heißt die Mehrzahl der in der US-Fahrzeugindustrie Beschäftigten. Es geht um das Organizing bei dreizehn Herstellern mit etwa 150.000 Beschäftigten, in etwa so viele wie unter die Tarifverträge der Big Three fallen. Um der Offensive zuvorzukommen, planen einige dieser Unternehmen – darunter Honda, Toyota, Hyundai und Subaru – erklärtermaßen enorme Lohnerhöhungen. Aber das kommt wahrscheinlich zu spät. Mehr als 1.000 Beschäftigte des Volkswagen-Werks in Chattanooga (Tennessee), bei dem die UAW zuvor erfolglos versucht hatte, eine Gewerkschaft zu gründen, haben sich inzwischen für eine Gewerkschaftsvertretung ausgesprochen.

„Die Landschaft wird sich drastisch verändern, glaube ich“, sagte mir Fain. „Nach oben hin sind keine Grenzen gesetzt. Entscheidend ist für mich, dass die Menschen aus der Arbeiterklasse von sich aus entscheiden, was ihnen wichtig ist, wenn es um Wahlen und alles andere geht. Sie wollen einfach leben, ohne das Gefühl zu haben, sich immer nur durchschlagen zu müssen.“


Alex N. Press ist Journalistin bei Jacobin und berichtet über die US-Gewerkschaftsbewegung.

Top Photo: AP Photo/Paul Sancya


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